127 III 100
Urteilskopf
127 III 100
16. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. Januar 2001 i.S. H. gegen Versicherung X. (Berufung)
Regeste
Versicherungsvertrag; Bestimmung der Invalidität nach Art. 88 Abs. 1 VVG.
Die Invalidität gemäss Art. 88 Abs. 1 VVG umfasst jede dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Integrität, die sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt. Gemeint ist dabei die Erwerbsunfähigkeit im theoretischen, abstrakten Sinn und nicht der konkrete wirtschaftliche Nachteil, den eine versicherte Person als Folge des Unfalles erleidet. Gleiches gilt für die Fälle, in denen die Invalidität nicht nach der sog. Gliedertaxe, sondern nach der Generalklausel der allgemeinen Versicherungsbedingungen zu beurteilen ist, sofern in der Klausel vom Ausmass der Invalidität die Rede ist. Die Parteien können freilich vereinbaren, dass der tatsächlich eingetretene wirtschaftliche Schaden berücksichtigt wird; Verneinung einer solchen Abrede im konkreten Fall (E. 1 und 2; Bestätigung der Rechtsprechung).
A.- H. (Kläger) schloss 1986 und 1992 mit der Versicherung X. (Beklagte) je einen Versicherungsvertrag für den Fall einer Invalidität als Unfallfolge (Policen Nr. y und Nr. z). In den Jahren 1989 und 1993 erlitt er insgesamt drei Verkehrsunfälle, die eine Invalidität zur Folge hatten. Die Beklagte entrichtete ihm daher aus den beiden Verträgen Anzahlungen von insgesamt Fr. 420'000.-.
B.- Da sich keine Einigung zwischen der Beklagten und dem Kläger über die effektiv geschuldete Leistung anbahnte, klagte dieser am 13. November 1996 beim Handelsgericht des Kantons Zürich gegen die Beklagte auf Zahlung von Fr. 755'466.- nebst Zins zu 5% ab dem 6. November 1996 auf Fr. 750'000.- gemäss Police Nr. y sowie auf Zahlung von Fr. 61'545.- nebst Zins zu 5% auf Fr. 60'000.- gemäss Police Nr. z. Das Handelsgericht wies die Klage am 4. September 2000 ab.
C.- Der Kläger hat Berufung beim Bundesgericht eingereicht mit dem Antrag, das Urteil des Handelsgerichtes aufzuheben und die Beklagte zu den Beträgen und Zinsen gemäss Klage zu verurteilen. Das Bundesgericht weist die Berufung ab und bestätigt das angefochtene Urteil.
Aus den Erwägungen:
1. Im vorliegenden Fall ist nicht mehr streitig, dass die beim Kläger festgestellten gesundheitlichen Störungen (Kopf-, Nacken-, Rücken- und Augenschmerzen, Schlaf-, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Ohrenrauschen, Depression) im Wesentlichen auf den dritten Unfall vom 19. August 1993 zurückzuführen sind und dass der adäquate Kausalzusammenhang zwischen diesem Unfall und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen besteht. In Bezug auf den Vertrag von 1992 ist das Handelsgericht davon ausgegangen, die Gesundheitsdefizite des Klägers könnten nicht nach der vereinbarten Gliedertaxe berechnet werden, da sie keinem der dort umschriebenen Verluste entsprächen; vielmehr sei die Generalklausel (F 2 Abs. 5 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen [AVB]) anwendbar, wobei auch insofern der Invaliditätsgrad aufgrund einer "medizinisch-technischen Schätzung" zu ermitteln sei. Auf der Basis des gerichtlichen Gutachtens vom
BGE 127 III 100 S. 102
25. Oktober 1999 hat das Handelsgericht beim Kläger eine "medizinisch-technische Invalidität" von 40%, allenfalls 45% angenommen, womit das Invaliditätskapital kleiner als die von der Beklagten bereits geleistete Akontozahlung ausfiel, so dass die Klage unter diesem Titel abzuweisen war. Entsprechend verfahren ist das Handelsgericht bezüglich des Vertrages von 1986, wobei es hier allerdings die Generalklausel (D 3.2 Abs. 3 AVB) nicht ausdrücklich zitierte.Der Kläger rügt - unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Norm - vorab eine Verletzung von Art. 88 Abs. 1 und Art. 98 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (VVG; SR 221.229.1); gemäss letztgenannter Bestimmung dürfe Art. 88 Abs. 1 VVG nicht zu Ungunsten des Versicherungsnehmers oder Anspruchsberechtigten abgeändert werden. Weder Art. 88 Abs. 1 VVG noch die im konkreten Fall anwendbaren Klauseln des jeweiligen Versicherungsvertrages liessen eine Bestimmung des Invaliditätsgrades durch ein medizinisch-theoretisches Gutachten zu. Darüber hinaus habe die Vorinstanz dadurch, dass sie beim Invaliditätsgrad auf medizinisch-theoretische Kriterien abgestellt bzw. sich an solche angelehnt habe, gegen den in Art. 18 OR enthaltenen Vertrauensgrundsatz verstossen, da solche Kriterien in den Generalklauseln der fraglichen - von der Beklagten formulierten - Verträge nicht enthalten seien und der im Versicherungsrecht nicht bewanderte Vertragspartner auch nicht wisse, was darunter zu verstehen sei. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch verstehe der Laie unter Invalidität die Behinderung seiner Erwerbsfähigkeit, von welchem Sprachverständnis auch Art. 88 Abs. 1 VVG ausgehe.
2. a) Art. 88 Abs. 1 VVG, der gemäss Art. 98 Abs. 1 VVG nicht zu Ungunsten des Versicherungsnehmers oder Anspruchsberechtigten abgeändert werden darf, lautet:
"Wird infolge eines Unfalles die Erwerbsfähigkeit des Versicherten voraussichtlich bleibend beeinträchtigt, so ist die Entschädigung, sobald die voraussichtlich dauernden Unfallfolgen feststehen, auf Grundlage der für den Fall der Invalidität versicherten Summe in Form der Kapitalabfindung auszurichten. ..."
Der Begriff der Invalidität dieser Bestimmung umfasst jede dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Integrität, die sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt. Nicht erforderlich ist allerdings, dass der Versicherte als Folge des Unfalles tatsächlich einen wirtschaftlichen Nachteil erleidet. Gemeint ist vielmehr eine Erwerbsunfähigkeit
BGE 127 III 100 S. 103
im theoretischen, abstrakten Sinn, die für Durchschnittsfälle, ohne Berücksichtigung des Berufs des Versicherten und der konkreten Umstände, ermittelt wird (Urteil des Bundesgerichts vom 7. Mai 1981 i.S. Arnold, in: SVA XIV Nr. 89 S. 422; Urteil des Bundesgerichts vom 2. Juni 1983 i.S. Gschwind, in: SVA XV Nr. 96 S. 517; vgl. auch nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 27. März 1996, i.S. G. gegen Winterthur Versicherungen; MAURER, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3. Aufl., Bern 1995, Ziff. 3, S. 487). Der Vertrag legt die Grundsätze fest, die für die Bemessung dieser Invalidität massgebend sind. Er enthält meistens eine sog. Gliedertaxe, welche auf medizinisch-theoretischen Schätzungen, d.h. auf Durchschnittswerten, aufgebaut ist und kasuistisch bestimmte Tatbestände der Ganz- oder Teilinvalidität regelt. Die Gliedertaxe berücksichtigt nicht, ob und wie stark sich die Invalidität im Beruf des Invaliden auswirkt und ob er wegen seiner Invalidität einen Schaden erleidet, sei es durch Mehrauslagen oder in Form einer Erwerbseinbusse (vgl. zu dieser weit verbreiteten Methode: MAURER, a.a.O., S. 488 ff.). Nun bleibt es allerdings den Vertragsparteien unbenommen, vertraglich eine konkrete Bemessungsart, etwa die Berücksichtigung des tatsächlich eingetretenen wirtschaftlichen Schadens nach den Grundsätzen des Privathaftpflichtrechts, vorzusehen (Urteile des Bundesgerichts, a.a.O.).b) Im vorliegenden Fall ist einerseits unbestritten, dass im Versicherungsvertrag nicht einfach auf die individuelle konkrete Erwerbsunfähigkeit des Versicherten abgestellt wurde; vielmehr sind nach der Gliedertaxe für bestimmte Fälle von Teilinvalidität bestimmte Versicherungsleistungen (d.h. bestimmte Prozente des gesamten Invaliditätskapitals) vereinbart worden (vgl. F 2 Abs. 1 lit. b des Vertrages von 1992 und D 3.2 Abs. 1 lit. b des Vertrages von 1986); unbestritten ist anderseits auch, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers nicht unter diese speziellen Vereinbarungen fallen. Ebenso wenig ist jedoch von der Hand zu weisen, dass diesfalls grundsätzlich die vereinbarten Generalklauseln Anwendung finden, welche wie folgt lauten:
"Kann das Ausmass der Invalidität nicht nach den Grundsätzen gemäss F 2.1 b bestimmt werden, wird es aufgrund der bleibenden Einschränkung der körperlichen oder geistigen Funktionen und deren Auswirkungen auf die ausschliesslich ausserberuflichen Tätigkeiten und Verrichtungen festgelegt; bei Kindern vor vollendetem 20. Altersjahr jedoch unter Berücksichtigung der mutmasslichen Auswirkungen auf ihre künftige Erwerbsfähigkeit." (F 2 Abs. 5 des Vertrages von 1992; "F 2.1 b" entspricht vorstehend "F 2 Abs. 1 lit. b").
"Kann das Ausmass der Invalidität nach den obigen Grundsätzen nicht bestimmt werden, wird es aufgrund der bleibenden körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung, unter Berücksichtigung der Arbeitsunfähigkeit und der persönlichen Verhältnisse des Versicherten festgelegt." (D 3.2 Abs. 3 des Vertrages von 1986)
Gemäss dem gerichtlichen Gutachten, welches das Handelsgericht zusammenfassend als überzeugend bezeichnet "verunmöglichen ... die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, wie sie vom Kläger erlebt werden, ... die Erwerbstätigkeit". Es muss mithin von einer Erwerbsunfähigkeit des Klägers ausgegangen werden. Dabei ist umstritten, ob die Vorinstanz aufgrund von Gesetz und Verträgen dennoch eine "medizinischtheoretische" Invalidität von lediglich 40 oder 45%, d.h. entsprechend der Gliedertaxe, annehmen durfte.
c/aa) Hinsichtlich des Vertrages von 1992 ist dem Kläger darin beizupflichten, dass es eindeutiger wäre, wenn die Beklagte in ihrer Generalklausel (betr. Invalidität, F 2 Abs. 5) ausdrücklich auf die "sinngemässe Anwendung der Grundsätze gemäss F 2 Abs. 1 lit. b" oder dergleichen verwiesen hätte. Indessen genügt es nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 88 Abs. 1 VVG, wenn in einer derartigen Generalklausel, gleich wie in den speziellen Bestimmungen betreffend die Gliedertaxe, von "taux d'invalidité" die Rede ist, um zu erkennen zu geben, dass auch die Generalklausel vom medizinisch-theoretischen Invaliditätsbegriff ausgeht (Urteil des Bundesgerichts vom 2. Juni 1983 in: SVA XV Nr. 96 S. 518; vgl. auch MAURER, a.a.O., S. 488). Ein derartiger Fall liegt auch hier vor, indem sowohl bezüglich Abs. 1 (spezielle Fälle) als auch bezüglich Abs. 5 (Generalklausel) von "Ausmass der Invalidität" gesprochen wird. Es besteht kein Anlass, von dieser Praxis abzuweichen, und es kann auch - schon allein aus Gründen der Rechtssicherheit (vgl. BGE 90 II 333 E. 7 S. 345) - heute nicht mehr aufgrund der Entstehungsgeschichte von Art. 88 VVG das allgemein übliche, weit verbreitete System der Gliedertaxe für unzulässig erklärt werden; damit aber kann offen bleiben, ob die Entstehungsgeschichte solches an sich überhaupt gebieten würde.
bb) Auch die Berücksichtigung des Vertrauensprinzips (BGE 119 II 368 E. 4b S. 372 mit Hinweisen) führt nicht zu einem anderen Resultat; dass in Abs. 5 (1. Teil) nicht einfach die konkrete Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit gemeint sein kann, zeigt Abs. 5, 2. Teil, wo - anders als im 1. Teil ("jedoch") - ausdrücklich auf die "mutmasslichen Auswirkungen auf ihre künftige Erwerbsfähigkeit" die Rede ist.
Nicht ohne weiteres klar ist allerdings, was im 1. Teil von Abs. 5 mit den "Auswirkungen auf die ausschliesslich ausserberuflichen Tätigkeiten und Verrichtungen" gemeint ist, wobei sich die Vorinstanz damit nicht auseinander gesetzt hat. Vor Handelsgericht hat der Kläger dies "Freizeittätigkeiten" und dergleichen gleichgestellt und geltend gemacht, er könne (auch) diesbezüglich fast nichts mehr machen, wohingegen die Beklagte diese Formulierung ganz anders interpretierte ("unabhängig von der Berufstätigkeit"). Ob letztere Interpretation vor dem Vertrauensprinzip Stand hält oder ob dieses nicht für die Interpretation des Klägers spricht, kann jedoch offen bleiben, da der Kläger seine Interpretation samt entsprechenden Behauptungen vor Bundesgericht nicht mehr aufrecht erhalten hat. In der Berufungsschrift sind lediglich diesbezügliche Fragen enthalten, so dass keine rechtsgenügliche Berufungsbegründung vorliegt (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG).
d/aa) Hinsichtlich des Vertrages von 1986 ist darauf hinzuweisen, dass in der Generalklausel selbst (D 3.2 Abs. 3) sowohl bezüglich der Gliedertaxe als auch der Generalklausel ("es") von "Ausmass der Invalidität" die Rede ist. Das Bundesgericht hat denn auch im erwähnten Urteil, ebenfalls auf der Grundlage von Art. 88 Abs. 1 VVG, bei einer sehr ähnlichen Generalklausel entschieden, dass die Invalidität einer theoretisch-abstrakten Arbeitsunfähigkeit entspreche, unabhängig vom Beruf des Versicherten und den Umständen des konkreten Falles (a.a.O., S. 520).
bb) Dabei hilft dem Kläger auch hier die Berufung auf das Vertrauensprinzip nichts; in der fraglichen Generalklausel ist neben der "bleibenden körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung" lediglich von "unter Berücksichtigung der Arbeitsunfähigkeit" die Rede, d.h. es ist ersichtlich, dass eine Arbeitsunfähigkeit (sofern damit überhaupt dasselbe gemeint ist wie mit Erwerbsunfähigkeit) nicht ohne weiteres zur Bejahung einer vollständigen Invalidität im Sinne dieser Vertragsbestimmung führt. Jedenfalls ist damit nicht genügend klar zum Ausdruck gebracht, dass die Parteien diesbezüglich zu Gunsten des Klägers von der einschlägigen Norm abweichen wollten (vgl. BGE 119 II 368 E. 4b S. 372 mit Hinweisen). Es fehlen - wie bei der Invalidität gemäss Vertrag von 1992 - Anhaltspunkte, dass unmissverständlich die konkrete Arbeitsunfähigkeit und nicht bloss die abstrakte gemeint ist.
Referenzen
BGE: 119 II 368, 90 II 333
Artikel: Art. 88 Abs. 1 VVG, Art. 18 OR, Art. 98 Abs. 1 VVG, Art. 88 VVG mehr...