BGE 132 III 83 |
11. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. A. AG und B. AG gegen C. AG sowie Kassationsgerichtspräsident des Kantons St. Gallen (Staatsrechtliche Beschwerde) |
4P.145/2005 vom 21. September 2005 |
Regeste |
Art. 77 PatG; Beurteilung des Schutzumfangs eines Patents im vorsorglichen Massnahmeverfahren; Bedeutung von Parteibehauptungen und Parteigutachten. |
Parteigutachten kommt nicht die Bedeutung von Beweismitteln, sondern von blossen Parteivorbringen zu (E. 3.4). |
Es ist willkürlich, ohne Beizug eines unabhängigen gerichtlichen Sachverständigen auf eine bestrittene Parteibehauptung abzustellen, wenn der Sachrichter nicht über die notwendige Sachkunde verfügt (E. 3.5). |
Sachverhalt |
"Einkomponentige Dichtmasse auf Basis einer Dispersion von Vinylpolymeren in einem wässrigen Medium, wobei die Dichtmasse im Nasszustand 0 bis 10 Gewichtsteile flüchtige organische Verbindungen (VOC), bezogen auf 100 Gewichtsteile Dichtmasse in Nasszustand, enthält und im Trockenzustand, der als der Zustand definiert ist, den die Dichtmasse 1 Stunde nach ihrem Auftrag auf Si-Papier bei einem Auftragsgewicht von etwa 300 g/m2 (trocken) bei 70° erreicht, selbstklebend ist, wobei gemäss Test Methods for Pressure-Sensitive Adhesives, 6th edition, Pressure sensitive tape council, Itasca III, der Weg einer laufenden Kugel weniger als 30 cm beträgt, eine Schälhaftung bei Bestimmung gemäss DIN EN 1939 von wenigstens 5 N/25 mm zwischen 5 und 50° C auf Polyolefin-Materialien hat und aus wenigstens einer Phase besteht, deren Glasübergangstemperatur Tg unter 10° C liegt."
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In den (abhängigen) Patentansprüchen 2 bis 10 werden Dichtmassen nach Anspruch 1 mit bestimmten zusätzlichen Charakteristika definiert; Anspruch 11 betrifft ein Verfahren zur Verwendung der Dichtmasse und Anspruch 14 ein Herstellungsverfahren.
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Das EP 0000 mit Priorität 12.1.2000 (DE 1111) wurde vom Europäischen Patentamt (EPA) am 9. April 2003 erteilt; dagegen erhob unter anderem die B. AG (Beschwerdeführerin 2) Einspruch. Diese stellte in ihrer Eingabe an das EPA vom 9. Januar 2004 den Antrag, das erteilte Patent sei in vollem Umfang gemäss Art. 99 Abs. 1 des Übereinkommens vom 5. Oktober 1973 über die Erteilung europäischer Patente (EPÜ; SR 0.232.142.2) zu widerrufen, da es nicht neu sei (Art. 100 lit. a EPÜ i.V.m. Art. 54 EPÜ) und nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe (Art. 100 lit. a EPÜ i.V.m. Art. 56 EPÜ). Zur Begründung fehlender Neuheit ebenso wie für das Naheliegen berief sie sich insbesondere auf ihr Produkt "Y.". |
Die A. AG (Beschwerdeführerin 1) vertreibt Systeme zur Abdichtung von Gebäudehüllen. Sie bietet unter "Klebetechnik" insbesondere einen lösungsmittelfreien, luftdichten und dauerhaft elastischen "Randanschlusskleber" unter der Bezeichnung "Z." an. Dieser wird von der Beschwerdeführerin 2 hergestellt.
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B. Am 6. April 2004 stellte die Beschwerdegegnerin beim Präsidenten des Handelsgerichts St. Gallen ein Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen. Sie behauptete, die Beschwerdeführerinnen verletzten ihr Patent insbesondere mit der Fabrikation und dem Vertrieb des Produktes "Z." und beantragte ein entsprechendes Verbot.
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Mit Entscheid vom 24. Dezember 2004 verfügte der Handelsgerichtspräsident gegenüber den Beschwerdeführerinnen ein Verbot gemäss diesen Rechtsbegehren und drohte den Beschwerdeführerinnen bzw. ihren Organen Strafe im Sinne von Art. 292 StGB für den Fall der Nichtbeachtung an.
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C. Mit Entscheid vom 26. April 2005 wies der Präsident des Kassationsgerichts des Kantons St. Gallen die Nichtigkeitsbeschwerde der Beschwerdeführerinnen ab. Die Rüge, der Handelsgerichtspräsident habe die Patentverletzung nicht geprüft, verwarf der Kassationsgerichtspräsident im Wesentlichen mit der Begründung, die Vorinstanz habe festgestellt, dass die Beschwerdeführerin 1 unter der Bezeichnung "Z." einen lösungsmittelfreien, luftdichten "Randanschlusskleber" vertreibe und dass die Beschwerdegegnerin den Beschwerdeführerinnen vorwerfe, mit diesem Produkt ihr Patent zu verletzen, was den Anforderungen an die Begründung der Verletzung genüge. Die Rüge, es sei die beanspruchte Weiterbenutzung nicht beurteilt worden, lehnte der Kassationsgerichtspräsident im Wesentlichen ab in der Erwägung, der Handelsgerichtspräsident habe die Frage mittelbar beantwortet, indem er verneint habe, dass die Beschwerdeführerinnen eine neuheitsschädliche Vorbenutzung mit Y. glaubhaft gemacht hätten, welches im Hinblick auf die Merkmale des Klagepatents nach Ansicht der Beschwerdeführerinnen dem Produkt Z. gleichzusetzen sei. |
D. Mit staatsrechtlicher Beschwerde stellen die Beschwerdeführerinnen das Begehren, der Präsidialentscheid des Kassationsgerichts des Kantons St. Gallen sei aufzuheben. Sie rügen die Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV sowie von Art. 9 BV. Die Beschwerdeführerinnen halten dafür, die Kernfrage des Patentstreits betreffe die Unterscheidung zwischen Dichtmassen einerseits und Klebemassen anderseits. Sie rügen, es sei ihnen das rechtliche Gehör verweigert und es sei das Willkürverbot verletzt worden, indem die Patentverletzung nicht begründet worden sei; weiter seien die Beweismittel zur "Standfestigkeit" willkürlich gewürdigt worden; in willkürlicher Weise sei auch das Parteigutachten P. gewürdigt und deshalb die neuheitsschädliche Vorwegnahme der beanspruchten Erfindung der Beschwerdegegnerin verneint worden.
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Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
3.3 Der Handelsgerichtspräsident hat die von den Parteien eingereichten Privatgutachten inhaltlich wiedergegeben und seinen Entscheid darauf gestützt. Die von den Beschwerdeführerinnen beantragte gerichtliche Kurzexpertise hat er nicht als erforderlich erachtet. Er hat insbesondere die durch das Privatgutachten der Beschwerdegegnerin gestützte Behauptung für überzeugend gehalten, dass eine fachkundige Person den im Patent der Beschwerdegegnerin verwendeten Begriff "Dichtmasse" vom Begriff der "Klebemasse" abzugrenzen vermöge und hat den ebenfalls durch ein Privatgutachten der Beschwerdeführerinnen gestützten gegenteiligen Standpunkt verworfen, so dass er die Einwände gegen die Gültigkeit des Patents als nicht glaubhaft erachtete. Er hat dabei den eingereichten Privatgutachten der Beschwerdegegnerin eine nicht unerhebliche Glaubwürdigkeit beigemessen. Die gutachterliche Stellungnahme der Patentanwälte der Beschwerdeführerinnen zum Privatgutachten der Beschwerdegegnerin qualifizierte der Handelsgerichtspräsident dagegen nicht als glaubwürdig, da das Patentanwaltbüro bereits die Einspruchsschrift beim EPA verfasst hatte und die Parteigutachter als eigentliche Anwälte aufträten. Den Ausführungen des von den Beschwerdeführerinnen beigezogenen international anerkannten Experten mass der Handelsgerichtspräsident zwar eine nicht unerhebliche Glaubwürdigkeit bei, stellte darauf jedoch nicht ab, da es sich beim Experten nicht um einen Patentexperten handle. |
3.4 Die in den Patentansprüchen umschriebenen technischen Anleitungen sind so auszulegen, wie der Fachmann sie versteht (BGE 122 III 81 E. 4a S. 83; BGE 107 II 366 E. 2 S. 369, je mit Hinweisen; BLUMER, in: Bertschinger/Münch/Geiser [Hrsg.], Schweizerisches und europäisches Patentrecht, Basel 2002, Rz. 14.29 ff. und 14.35; SCHAREN, in: Benkard [Hrsg.], Europäisches Patentübereinkommen, München 2002, N. 6 ff. zu Art. 69 EPÜ; H.P. WALTER, Zwischen Skylla und Charybdis - zur Auslegung der Patentansprüche nach Art. 69 EPÜ, GRUR 1993 S. 351). Dies gilt vornehmlich für die Beurteilung des Schutzumfangs, in gleicher Weise aber auch etwa für die Neuheitsprüfung (A. TROLLER, Immaterialgüterrecht, Bd. I, 3. Aufl., Basel 1983, S. 480/483; BLUMER, a.a.O., Rz. 14.15 ff.). Lässt sich die Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Aussage nicht mit hinreichender Sicherheit aus der einschlägigen Fachliteratur erschliessen, so wird ein nicht fachkundig besetztes Gericht daher im Streitfall über die Auslegung eines Patentanspruchs nicht ohne Beizug eines gerichtlich bestellten Gutachters entscheiden können, zumal Parteigutachten insbesondere auch zum technischen Verständnis im Streitfall nicht die Bedeutung von Beweismitteln, sondern von Parteivorbringen zukommt (BGE 95 II 364 E. 2 S. 368 mit Hinweisen; ZÜRCHER, in: Bertschinger/Münch/Geiser [Hrsg.], Schweizerisches und europäisches Patentrecht, Basel 2002, Rz. 19.94). Dies gilt auch im Verfahren der vorsorglichen Massnahmen nach Art. 77 PatG (SR 232.14), in dem eine Beschränkung der Beweismittel grundsätzlich nicht Platz greift, so dass streitige Fragen ohne weiteres mit Kurzgutachten geklärt werden können (vgl. BGE 103 II 287 E. 2 S. 291; ZÜRCHER, a.a.O., Rz. 19.96 ff.; DAVID, a.a.O., S. 154 f.). |
3.6 Der Kassationsgerichtspräsident hat die Willkürrüge zu Unrecht verworfen. Er hat zwar an sich zutreffend bemerkt, Willkür liege nicht vor, wenn mehrere gutachterliche Befunde gegeneinander abgewogen würden und schliesslich dem einen der Vorzug gegeben werde, um überhaupt entscheiden zu können. Er hat jedoch verkannt, dass Parteigutachten nach konstanter Rechtsprechung nicht die Qualität von Beweismitteln, sondern von blossen Parteivorbringen zukommt (BGE 95 II 364 E. 2 S. 368 mit Hinweisen; ZÜRCHER, a.a.O., Rz. 19.94). Der Kassationsgerichtspräsident hätte den angefochtenen Entscheid auch in Bezug auf die Streitfrage aufheben müssen, ob die Beschwerdeführerinnen die Ungültigkeit des Patents der Beschwerdegegnerin glaubhaft gemacht haben. |