Urteilskopf
140 III 320
49. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Nachlassmasse der SAirLines AG in Nachlassliquidation und Nachlassmasse der SAirGroup AG in Nachlassliquidation gegen Masse en faillite ancillaire de Sabena SA (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_740/2012 vom 8. Mai 2014
Regeste
Art. 1 Abs. 2 lit. b LugÜ; sachlicher Anwendungsbereich des Lugano-Übereinkommens; Ausschluss von Konkursen, Vergleichen und ähnlichen Verfahren.
Anerkennung und Vollstreckbarerklärung eines ausländischen Urteils gegen Gesellschaften in Nachlassliquidation nach
Art. 317-331 SchKG. Ausnahme gemäss
Art. 1 Abs. 2 lit. b LugÜ vorliegend bejaht (E. 6-10).
Die Masse en faillite ancillaire de Sabena SA (Beschwerdegegnerin) ist die schweizerische IPRG-Konkursmasse (im Sinne von Art. 170 IPRG) der am 7. November 2001 in Konkurs geratenen belgischen Luftfahrtgesellschaft Sabena SA (nachfolgend: Sabena). Die SAirLines AG (nachfolgend: SAirLines) war eine im Jahr 1997 gegründete Tochtergesellschaft der SAirGroup AG (nachfolgend: SAirGroup), der ehemaligen "Swissair" Schweizerische Luftverkehr-Aktiengesellschaft. Am 5. Oktober 2001 wurde der SAirLines und der SAirGroup je die provisorische Nachlassstundung bewilligt. Sodann wurde am 20. Juni 2003 der jeweilige Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung (Art. 317 SchKG) bestätigt. Die Beschwerdeführerinnen sind die Massen dieser beiden Gesellschaften in Nachlassliquidation (vgl. Art. 319 SchKG).
In Belgien ist vor der Cour d'appel de Bruxelles ein Zivilprozess hängig (nachfolgend: belgischer Prozess), der zum Gegenstand hat, ob unter anderem die SAirGroup und die SAirLines im Zusammenhang mit der kommerziellen Kooperation zwischen dem SAir-Konzern und der Sabena vertragliche und/oder ausservertragliche Verpflichtungen verletzt haben respektive ob dadurch eine Schadenersatzpflicht ausgelöst wurde. Am 27. Januar 2011 erging in diesem Verfahren ein Vorentscheid (nachfolgend: belgisches Urteil). Gemäss den Erläuterungen der Vorinstanz wird in Dispositivziffer 7 lit. a festgestellt, dass die SAirGroup und SAirLines direkt für den Konkurs von Sabena verantwortlich seien, da sie die Vereinbarung vom 2. August 2001 (Astoria Agreement) nicht erfüllt hätten. In Dispositivziffer 7 lit. b hält der Gerichtshof fest, dass der kausal daraus resultierende Schaden der Passivenzunahme aufgrund der Eröffnung des Konkurses (über die Sabena) entspreche (sog. Diskontinuitätsschaden). Sodann werden in Dispositivziffer 7 lit. c die SAirGroup und SAirLines unter solidarischer Haftbarkeit verpflichtet, an die Konkursmasse der
BGE 140 III 320 S. 322
Sabena - einstweilen - die Summe von EUR 18'290'800.60 zu bezahlen.
Die Beschwerdegegnerin beantragte daraufhin beim Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich, das belgische Urteil sei anzuerkennen und für vollstreckbar zu erklären. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte die vom Einzelrichter ausgesprochene Vollstreckbarerklärung von Dispositivziffer 7 lit. c und anerkannte das belgische Urteil hinsichtlich der Dispositivziffern 7 lit. a und b.
Das Bundesgericht heisst die dagegen gerichtete Beschwerde gut und weist das Gesuch der Beschwerdegegnerin um Anerkennung und Vollstreckbarerklärung des belgischen Urteils ab, soweit darauf einzutreten ist.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
6.1 Das Bundesgericht folgt bei der Auslegung des Lugano-Übereinkommens (LugÜ; SR 0.275.12) nach ständiger Praxis grundsätzlich der Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) sowie zur Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO; ABl. L 12 vom 16. Januar 2001 S. 1), die das EuGVÜ für die Vertragsstaaten der Europäischen Union ersetzt hat. Soweit ein Entscheid des EuGH sich indessen massgeblich auf gemeinschaftsrechtliche Grundsätze stützt, die weder dem LugÜ noch den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten entnommen worden sind, ist diesem Umstand insofern Rechnung zu tragen, als diese Grundsätze und die sich daraus ergebenden Auslegungsfolgen nicht unbesehen auf die Auslegung des revidierten LugÜ zu übertragen sind (
BGE 139 III 345 E. 4,
BGE 139 III 232 E. 2.2;
BGE 138 III 386 E. 2.6;
BGE 135 III 185 E. 3.2; siehe Art. 1 zu Protokoll Nr. 2 LugÜ).
6.2 Nach der grundlegenden Rechtsprechung des EuGH erfasst der Ausschlusstatbestand von Art. 1 Abs. 2 Ziff. 2 EuGVÜ neben dem Insolvenzverfahren als solchem (Gesamtverfahren) auch sogenannte Einzelverfahren. Allerdings sind "Entscheidungen, die sich auf ein Insolvenzverfahren beziehen, (...) nur dann von der Anwendung des Übereinkommens ausgeschlossen, wenn sie unmittelbar aus diesem Verfahren hervorgehen und sich eng innerhalb des Rahmens eines
BGE 140 III 320 S. 323
Konkurs- oder Vergleichsverfahrens (...) halten" (Urteil des EuGH vom 22. Februar 1979 C-133/78
Gourdain gegen Nadler, Randnr. 4). Eine Klage, die derartige Merkmale aufweist, fällt daher nicht in den Anwendungsbereich des Übereinkommens (vgl. Urteil des EuGH vom 12. Februar 2009 C-339/07
Seagon gegen Deko Marty Belgium NV, Randnr. 19).
6.3 In seiner auf dieser Rechtsprechung aufbauenden publizierten Praxis erachtete es das Bundesgericht hinsichtlich der Frage der Anwendbarkeit des Lugano-Übereinkommens für massgebend, ob das betreffende Verfahren seine Grundlage im Schuldbetreibungs- und Konkursrecht hat. Verfahren, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch ohne den Konkurs erhoben worden wären, fallen nicht unter den Ausschlusstatbestand von
Art. 1 Abs. 2 lit. b LugÜ (
BGE 131 III 227 E. 3.2;
BGE 129 III 683 E. 3.2;
BGE 125 III 108 E. 3d S. 111). Bedeutung wurde sodann unter anderem der Frage zugemessen, ob das Verfahren der Vergrösserung der Konkursmasse dient (
BGE 131 III 227 E. 4.1;
BGE 129 III 683 E. 3.2).
Aus diesen Grundsätzen folgerte das Bundesgericht namentlich, dass das Lugano-Übereinkommen auf die nach Konkurseröffnung eingeleitete Anfechtungsklage gemäss
Art. 285 ff. SchKG nicht anwendbar ist (
BGE 131 III 227 E. 3.3 und 4). Weiter führte das Bundesgericht in einer nicht publizierten Erwägung aus, die Klage einer italienischen Konkursverwaltung gegen einen in der Schweiz wohnhaften Schuldner bezwecke die Vergrösserung der ausländischen Konkursmasse und wäre ohne das Konkursverfahren in Italien nicht eingeleitet worden, weshalb sie nicht unter das LugÜ falle (Urteil 4A_231/2007 vom 6. März 2008 E. 4.2, nicht publ. in:
BGE 134 III 366). Ferner qualifizierte das Bundesgericht eine Widerklage als konkursrechtlich, mit der die Widerklägerin eine Vereinbarung rückabzuwickeln suchte, die sie mit einem deutschen Insolvenzverwalter abgeschlossen hatte (
BGE 139 III 236 E. 5.2). Unter anderem wurde in diesem Urteil auf die (Widerklage-)Begründung abgestellt, aus der sich ergab, dass der Prozess inhaltlich die Anfechtungsansprüche der Konkursmasse gegen die Widerklägerin nach deutschem Insolvenzrecht betraf, womit er einen konkursrechtlichen Gegenstand hatte.
6.4 In seiner jüngeren Rechtsprechung hat sich der EuGH seinerseits zweimal zum Ausnahmetatbestand von Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO geäussert:
Im Streitfall, der dem Urteil des EuGH vom 2. Juli 2009 C-111/08
SCT Industri gegen Alpenblume zugrunde lag, hatte ein schwedischer
BGE 140 III 320 S. 324
Konkursverwalter Anteile an einer österreichischen Gesellschaft an eine schwedische Gesellschaft verkauft. Letztere wurde in Österreich als Inhaberin der Gesellschaftsanteile eingetragen. Ein österreichisches Urteil stellte in der Folge fest, dass diese Eintragung ungültig gewesen sei. Die Käuferin erhob daraufhin in Schweden Klage auf Rückübertragung der Anteile. Im Rahmen dieses Verfahrens war die Anerkennung des österreichischen Urteils streitig. Der EuGH hielt fest, für die Anwendung von Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO sei die "Enge des Zusammenhangs" entscheidend, der im Sinne des Urteils
Gourdain zwischen einer gerichtlichen Klage und dem Konkursverfahren bestehe (Randnr. 25). Sodann befand er, vorliegend sei dieser Zusammenhang besonders eng (Randnr. 26), da zum einen die streitige Übertragung und die daran anknüpfende Rückforderungsklage "unmittelbare und untrennbare Folge dessen [seien],dass der Konkursverwalter, also ein Rechtssubjekt, das erst nach Einleitung eines Konkursverfahrens tätig wird, ein Vorrecht ausgeübt hat, das er eigens Bestimmungen des nationalen Rechts entnimmt, die für diese Art von Verfahren gelten." Dies spiegle sich darin, dass sich nach dem Verkauf der fraglichen Gesellschaftsanteile durch den Konkursverwalter die Masseaktiven erhöht hätten (Randnr. 28 f.). Zum anderen - so der EuGH weiter - stelle das österreichische Urteil, das die Unwirksamkeit der Übertragung der Gesellschaftsanteile erklärt habe, einzig und allein auf den Umfang der Befugnisse des betreffenden Konkursverwalters im Rahmen eines Konkursverfahrens und insbesondere dessen Befugnis ab, über Vermögen in Österreich zu verfügen (Randnr. 30).
Dieser Entscheid wurde in der Literatur kritisiert (siehe PETER MANKOWSKI, Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung[NZI] 2009 S. 572;PAUL OBERHAMMER, Im Holz sind Wege [...], Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts [IPRax]2010 S. 318 und 322-324; WALTER/DOMEJ, Internationales Zivilprozessrecht der Schweiz, 5. Aufl. 2012, S. 189 Fn. 52; zweifelnd auch: CHRISTOPH THOLE,
Vis attractiva concursus europaei? [...],Zeitschrift für Europäisches Privatrecht [ZEuP] 2010 S. 919 f.;RAINER HAUSMANN, in: Brüssel I-Verordnung, Kommentar [...], 2012,N. 82 zu Art. 1 EuGVVO, Fn. 258). So wurde namentlich zu bedenken gegeben, es könne für eine Ausnahme vom Übereinkommen nicht genügen, dass ein ausländisches Zivilverfahren Auswirkungen auf die Konkursmasse habe, da sich mit diesem Kriterium die notwendige "Enge" zum Konkurs nicht abgrenzen lasse (MANKOWSKI, a.a.O., S. 572; OBERHAMMER, a.a.O., S. 323; THOLE, a.a.O., S. 919). Sodann
BGE 140 III 320 S. 325
wurde vorgebracht, die Verfügungsmacht des Konkursverwalters sei vorliegend lediglich eine Vorfrage gewesen, was für einen Ausschluss nach
Art. 1 Abs. 2 LugÜ nicht ausreiche (MANKOWSKI, a.a.O., S. 572; OBERHAMMER, a.a.O., S. 322).
Von anderer Seite erhielt der Entscheid allerdings auch Zustimmung (siehe KROPHOLLER/VON HEIN, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2011, N. 35 zu Art. 1 EuGVVO; HÉLÈNE GAUDEMET-TALLON, Compétence et exécution des jugements en Europe, 4. Aufl. 2010, S. 40; ANDREAS PIEKENBROCK, Zeitschrift für Insolvenzrecht [KTS] 2009 S. 539 und 546 f.). Insbesondere wurde geltend gemacht, die von den Kritikern geforderte Abgrenzung einer (insolvenzrechtlichen) Vorfrage vom (nicht insolvenzrechtlichen) Streitgegenstand trage dem Streitgegenstandsverständnis des EuGH nicht Rechnung (PIEKENBROCK, a.a.O., S. 546 f.; KROPHOLLER/VON HEIN, a.a.O., N. 35 zu Art. 1 EuGVVO).
Einigkeit besteht hingegen darüber, dass der EuGH im Urteil SCT Industri den Ausschlusstatbestand von Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO in der praktischen Anwendung weit interpretiert hat (siehe FELIX DASSER, in: Lugano-Übereinkommen [...], Dasser/Oberhammer [Hrsg.],2. Aufl. 2011, N. 83 zu Art. 1 LugÜ; THOLE, a.a.O., S. 919; vgl. auch OBERHAMMER, a.a.O., S. 324, der mit Blick auf dieses Urteil eine "exzessiv[e] Ausdehnung des Insolvenztatbestands"befürchtet).
In dem kurz danach ergangenen Urteil vom 10. September 2009 C- 292/08
German Graphics gegen van der Schee ging es demgegenüber um die Abgrenzung zwischen der EuGVVO und der Verordnung (EG) Nr.1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (EuInsVO; ABl. L 160 vom 30. Juni 2000 S. 1). In diesem Entscheid verneinte der EuGH die Frage, ob eine auf einen Eigentumsvorbehalt gestützte Klage eines Verkäufers gegen einen Käufer aufgrund der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Letzteren vom Anwendungsbereich der EuGVVO ausgeschlossen ist. Zur Begründung verwies er in allgemeiner Form auf die Intention des Gemeinschaftsgesetzgebers, den Anwendungsbereich der EuGVVO "weit" zu fassen (Randnrn. 23-25). Gleichzeitig erwähnte er aber das Urteil
SCT Industri in anderer Hinsicht ohne jede Einschränkung (Randnr. 28) und stellte weiterhin auf die "Enge der Verbindung" zwischen der Klage und dem Konkursverfahren ab. Im vorliegenden Fall hielt er den Zusammenhang weder für unmittelbar noch eng genug (Randnrn. 29-34). Diese Beurteilung wurde in der Literatur gutgeheissen (MORITZ BRINKMANN, Der Aussonderungsstreit
BGE 140 III 320 S. 326
im internationalen Insolvenzrecht [...],IPRax 2010 S. 327; OBERHAMMER, a.a.O., S. 324; THOLE, a.a.O., S. 922).
7. Die Beschwerdeführerinnen weisen zu Recht darauf hin, dass das Verhältnis zwischen den in der Schweiz laufenden Nachlassverfahren betreffend den SAir-Konzern und den vor ausländischen Gerichten hängigen Zivilprozessen gegen die Konzerngesellschaften schon in der Vergangenheit zu Gerichtsverfahren geführt hat. So hatten insbesondere die in der Beschwerde als Präjudizien angerufenen
BGE 133 III 386 und
BGE 135 III 127 Ansprüche der belgischen Mehrheitsaktionäre der Sabena gegen die SAirLines zum Gegenstand.
7.1 In
BGE 133 III 386 erkannte das Bundesgericht, dass die
Vormerkung streitiger Forderungen (pro memoria)
im Kollokationsplan (der SAirLines) gemäss Art. 63 der Verordnung des Bundesgerichts vom 13. Juli 1911 über die Geschäftsführung der Konkursämter (KOV; SR 281.32) bei einem Prozess in Belgien ausser Betracht falle. Als entscheidend beurteilte es dabei, dass aufgrund der verfahrensrechtlichen Natur der Auseinandersetzung das Territorialitätsprinzip gelte und die schweizerischen Gerichte für das Kollokationsverfahren (
Art. 244-251 SchKG) im hierzulande durchgeführten Nachlassvertrag international zuständig seien (E. 4). Bereits in
BGE 130 III 769 hatte das Bundesgericht erwogen,
Art. 207 SchKG beziehe sich nur auf Prozesse im Inland, weshalb der darauf beruhende
Art. 63 KOV bei Prozessen im Ausland nicht anwendbar sei. Folglich habe die Konkursverwaltung eine angemeldete Forderung ohne Rücksicht auf den im Zeitpunkt der Konkurseröffnung hängigen Prozess im Ausland zu erwahren (E. 3).
In
BGE 135 III 127 ging es sodann um die
Sistierung des Kollokationsprozesses gegen die SAirLines AG in Nachlassliquidation im Hinblick auf den in Belgien gegen dieselbe Beklagte hängigen Zivilprozess. Das Bundesgericht hob in seinem Urteil die kantonal gewährte Sistierung auf. In der Begründung setzte es sich mit dem Argument auseinander, dass der belgische Richter für den schweizerischen Kollokationsrichter verbindlich über den Bestand der Forderung entscheiden könne. Es verneinte "diese Verbindlichkeit" (E. 3.3.2), so wie auch die Frage nach der "Anerkennbarkeit eines ausländischen Urteils als Kollokationsurteil" (E. 3.3.3). Das Bundesgericht gelangte zum Schluss, mangels einer gesetzlichen Grundlage sei das in Belgien ergehende Urteil "hinsichtlich der Konkursforderungen in materieller Hinsicht für den schweizerischen Kollokationsrichter nicht verbindlich" (E. 3.3.4).
BGE 140 III 320 S. 327
7.2 Der letztgenannte Entscheid hat zu einer Intervention des Königreichs Belgien gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) wegen einer Verletzung des Lugano-Übereinkommens geführt (siehe Requête introductive d'instance vom 21. Dezember 2009; vgl. zu diesem Verfahren auch CHRISTIAN KOHLER, La Convention de Lugano devant la Cour internationale de Justice: L'affaire Belgique c. Suisse, SZIER 2012 S. 441-485). Auch in der Lehre ist die bundesgerichtliche Rechtsprechung auf Kritik gestossen. So wurde insbesondere geltend gemacht, die Auffassung, das künftige belgische Urteil wäre im Kollokationsverfahren unverbindlich, verletze das LugÜ. Da es sich dabei um ein anerkennungsfähiges Zivilurteil handle - so die Kritik -, müsse das schweizerische Kollokationsgericht seine Rechtskraft respektieren, d.h. den darin beurteilten Bestand der Forderung dem Kollokationsurteil zugrunde legen (siehe KOHLER, a.a.O., S. 477-479; IVO SCHWANDER, SZIER 2009 S. 426 f.; ROHNER/LERCH, in: Basler Kommentar, Lugano-Übereinkommen, 2011, N. 58 zu
Art. 1 LugÜ; vgl. ferner auch DANIEL HUNKELER, Entwicklung des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts in den Jahren 2007 und 2008, in: Aktuelle Anwaltspraxis 2009, Fellmann/Poledna [Hrsg.], S. 1369; FRANCO LORANDI, AJP 2008 S. 485-487). Belgien zog das Begehren vor dem IGH schliesslich zurück, nachdem die Schweiz im Wesentlichen argumentiert hatte, das Bundesgericht habe sich noch gar nicht rechtskräftig zur Anerkennung eines zukünftigen belgischen Urteils geäussert (vgl. Exceptions préliminaires de la Confédération suisse vom 17. Februar 2011, Rz. 74- 87 und 103 sowie Ordonnance vom 5. April 2011).
7.3 In der Tat hat das Bundesgericht entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen in
BGE 135 III 127 nicht entschieden, ob das dereinstige belgische Urteil in der Schweiz ungeachtet des Umstands, dass sich die Beklagten in Nachlassliquidation befinden und ihre Verbindlichkeiten Gegenstand des Kollokationsverfahren sind, anerkannt respektive für vollstreckbar erklärt werden kann. Es verneinte in diesem Entscheid lediglich die Anerkennbarkeit eines ausländischen Urteils "als Kollokationsurteil". Zur Begründung führte es unter Berufung auf
BGE 133 III 386 E. 4.3.2 und 4.3.3 aus, die schweizerischen Gerichte seien für das Kollokationsverfahren wegen der verfahrens- und vollstreckungsrechtlichen Natur der Auseinandersetzung international zwingend zuständig. Weiter erwog es, dass
Kollokationsurteile unter den Begriff der Entscheidungen in "Konkurs- und Nachlassvertragssachen" gemäss Art. 1 Abs. 2 des Abkommens vom 29. April 1959 zwischen der Schweiz und Belgien über die Anerkennung und
BGE 140 III 320 S. 328
Vollstreckung von gerichtlichen Entscheiden und Schiedssprüchen (SR 0.276.191.721) fielen und dass auch eine Anerkennung nach den allgemeinen Bestimmungen gemäss
Art. 25 ff. IPRG [SR 291] ausser Betracht falle (E. 3.3.3). Der Sache nach wurde damit gleichzeitig erkannt, dass Kollokationsurteile als konkursrechtliche Entscheidungen nicht unter das Lugano-Übereinkommen fallen, wie es denn auch der herrschenden Lehre in der Schweiz entspricht (DASSER, a.a.O., N. 88 zu
Art. 1 LugÜ; WALTER/DOMEJ, a.a.O., S. 190 f.; DOMENICO ACOCELLA, in: Lugano-Übereinkommen [LugÜ] zum internationalen Zivilverfahrensrecht, Schnyder [Hrsg.], 2011, N. 110 zu
Art. 1 LugÜ; BRUNNER/REUTTER, Kollokations- und Widerspruchsklage nach SchKG, 2. Aufl. 2002, S. 50 f.), in
BGE 133 III 386 E. 4 aber noch offengelassen worden war.
Mit dieser Erläuterung nahm das Bundesgericht auf die in der Literatur vertretene Meinung Bezug, wonach ein nach Beginn der Generalexekution fortgeführter ausländischer Prozess aus schweizerischer Sicht gemäss
Art. 63 Abs. 3 KOV zum Kollokationsprozess gemäss
Art. 250 SchKG und das Urteil zum Kollokationsurteil werde (so noch ANDREA BRACONI, La collocation des créances en droit international suisse de la faillite, 2005, S. 150 f., unter Hinweis auf mittlerweile überholte Rechtsprechung). Diese Auffassung machte sich das Bundesgericht indessen nicht zu eigen, zumal es an anderer Stelle ausdrücklich unter Hinweis auf
BGE 130 III 769 bemerkte,
Art. 63 KOV sei auf im Ausland hängige Prozesse gerade nicht anwendbar (E. 3.3.1).
8.1 Wie der angefochtene Entscheid zutreffend bemerkt, hat das belgische Urteil, über dessen Anerkennung und Vollstreckbarerklärung vorliegend zu befinden ist, keine Kollokationsklage, sondern eine zivilrechtliche Forderungs- respektive Haftungsklage zum Gegenstand. Es beurteilt den Schadenersatzanspruch der Sabena gegen die SAirGroup sowie die SAirLines wegen Nichterfüllung des Astoria Agreement. Dem entspricht es, dass sich das belgische Urteilsdispositiv nicht dazu äussert, ob und in welcher Form die Sabena (oder ihre Masse) im Nachlassverfahren der SAirGroup und der SAirLines zu kollozieren und folglich bei der Liquidation der Insolvenzmassen zu berücksichtigen ist.
8.2 Umgekehrt ist der
zivilrechtliche Bestand der Forderung genau genommen nicht Gegenstand des in der Schweiz hängigen Kollokationsprozesses. Dieser dient vielmehr ausschliesslich der Bereinigung des
BGE 140 III 320 S. 329
Kollokationsplans, d.h. der Feststellung der Forderungen, die am Konkursergebnis nach Bestand, Höhe, Rang und allfälligen Vorzugsrechten am Vermögen des Schuldners teilzunehmen haben (
BGE 133 III 386 E. 4.3.3 S. 390;
BGE 98 II 313 E. 4). Allerdings hat der schweizerische Kollokationsrichter den zivilrechtlichen Bestand der Forderung
vorfrageweise zu überprüfen, um über die Kollokation zu befinden (vgl.
BGE 133 III 386 E. 4.3.3 S. 390).
8.3 Dieser Zusammenhang wirft die grundsätzliche Frage auf, inwiefern allfällige zivilrechtliche Forderungsprozesse gegen den insolventen Schuldner mit dem (die identischen Forderungen betreffenden) zwangsvollstreckungsrechtlichen Kollokationsstreit zu koordinieren sind:
8.3.1 In diesem Sinne ist - für nationale Sachverhalte - anerkannt, dass die Konkursverwaltung und das Kollokationsgericht an die Feststellungen über Bestand und Höhe einer Forderung gebunden sind, die sich aus einem
vor der Konkurseröffnung in Rechtskraft erwachsenen Urteil ergeben (Urteil 5A_476/2007 vom 2. November 2007 E. 3; DIETER HIERHOLZER, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, 2. Aufl. 2010, N. 15 zu
Art. 244 SchKG). Entsprechendes hat ohne Weiteres auch im internationalen Verhältnis zu gelten: So ist die Rechtskraft einer nach dem Lugano-Übereinkommen anerkennbaren ausländischen Entscheidung grundsätzlich bei jeder inländischen Rechtsanwendung als Vorfrage zu beachten (siehe ROLF SCHULER, in: Basler Kommentar, Lugano-Übereinkommen, 2011, N. 8 zu
Art. 33 LugÜ; KROPHOLLER/VON HEIN, a.a.O., N. 11 vor Art. 33 EuGVVO; vgl. auch FRIDOLIN WALTHER, in: Lugano-Übereinkommen [...], Dasser/Oberhammer [Hrsg.], 2. Aufl. 2011,N. 10 zu
Art. 33 LugÜ). Dementsprechend ist ein rechtskräftiges ausländisches Zivilurteil aus dem Anwendungsbereich des Lugano-Übereinkommens, das ergeht, bevor der schweizerische Konkurs eröffnet worden ist, im schweizerischen Kollokationsverfahren zu beachten, sofern die Anerkennungsvoraussetzungen gegeben sind (siehe HIERHOLZER, a.a.O., N. 35 zu
Art. 247 SchKG; FRANCO LORANDI, Grenzüberschreitende Aspekte in der Insolvenz - ausgewählte Fragen [imFolgenden: Aspekte], in:Sanierung und Insolvenz von Unternehmen II, Sprecher [Hrsg.],2012, S. 37; ähnlich auch THOMAS SPRECHER, Schweizerischer Konkurs und ausländischer Prozess, in: Internationales Zivilprozess- und Verfahrensrecht III, Spühler [Hrsg.], 2003,S. 35 f.). Wie bei inländischen Zivilurteilen bleibt immerhin die Überprüfung unter konkursrechtlichen Aspekten, so etwa der
BGE 140 III 320 S. 330
Anfechtbarkeit nach den
Art. 285 ff. SchKG, vorbehalten (vgl. LORANDI, Aspekte, a.a.O., S. 37; SCHWANDER, a.a.O., S. 427; ROHNER/LERCH, a.a.O., N. 58 zu
Art. 1 LugÜ; vgl. auch BRUNNER/REUTTER, a.a.O., S. 62 f.).
8.3.2 Weitere Gesichtspunkte müssen demgegenüber beachtet werden, wenn wie vorliegend bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch kein rechtskräftiges Urteil über die Forderung gegen den Schuldner vorliegt. In dieser Konstellation ist einerseits zu überlegen, ob der Forderungsprozess und der die gleiche Forderung betreffende Kollokationsstreit grundsätzlich unabhängig voneinander stattfinden können, und andererseits, was zu geschehen hat, wenn der Zivilprozess zu einer rechtskräftigen Beurteilung des Forderungsstreits führt, solange noch nicht rechtskräftig über die Kollokation entschieden worden ist.
Für das Binnenverhältnis ordnen
Art. 207 Abs. 1 SchKG sowie
Art. 63 KOV an, dass ein bei Konkurseröffnung
bereits hängiger Zivilprozess grundsätzlich eingestellt wird, später aber von der Masse oder von einzelnen Gläubigern nach Artikel 260 SchKG fortgeführt werden kann. Der Zivilprozess wird gegebenenfalls zum Kollokationsprozess (
BGE 135 III 127 E. 3.3.1). Dadurch wird grundsätzlich verhindert, dass während des Konkursverfahrens parallel zum Kollokationsstreit ein Zivilprozess über die zu kollozierende Forderung stattfindet und darin ein Urteil ergeht (vgl. immerhin
BGE 133 III 377 E. 8;
BGE 132 III 89 E. 2).
Im internationalen Verhältnis, wo entsprechende Koordinationsregeln fehlen, nimmt das Kollokationsverfahren am schweizerischen Konkursort demgegenüber unbeeinflusst von der Rechtshängigkeit eines ausländischen Forderungsprozesses seinen Lauf (vgl. E. 7.1). Es ist demzufolge möglich, dass nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein ausländisches Zivilurteil ergeht und sodann im Kollokationsprozess vorgelegt wird. Welche Wirkungen das entsprechende Zivilurteil gegenüber der Konkursmasse respektive den anderen Gläubigern entfaltet, wenn eine autonome Rechtsbestimmung oder gar ein völkerrechtlicher Vertrag seine Anerkennung und Vollstreckung vorschreibt, braucht an dieser Stelle indessen - wie sogleich aufzuzeigen ist (E. 9 und 10) - nicht beurteilt zu werden.
9.1 Mit der Bewilligung der provisorischen Nachlassstundung am 5. Oktober 2001 wurde über die Beschwerdeführerinnen je ein Nachlassverfahren eröffnet, das am 20. Juni 2003 jeweils in einen Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung (
Art. 317-331 SchKG) mündete.
BGE 140 III 320 S. 331
Der Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung ist eine konkursähnliche Generalliquidation des Schuldnervermögens; wie im Konkurs wird das Schuldnervermögen verselbständigt und bildet die Nachlassmasse (
BGE 134 III 273 E. 4.6.2 mit weiteren Hinweisen). Er bezweckt, das abgetretene Schuldnervermögen zur Gläubigerbefriedigung zu liquidieren (siehe AMONN/WALTHER, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, 9. Aufl. 2013, § 55 Rz. 21). Der Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung enthält den Verzicht der Gläubiger auf den durch den Verwertungserlös nicht gedeckten Forderungsbetrag (
Art. 318 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG). Das Liquidationsverfahren findet seinen Abschluss darin, dass das abgetretene Schuldnervermögen verwertet ist. Nach Beendigung der Liquidation meldet der Liquidator beim Handelsregister die Löschung der Rechtseinheit an (Art. 161 Abs. 4 der Handelsregisterverordnung vom 17. Oktober 2007 [SR 221.411]). Dies bedeutet, dass die Gläubiger nach Eröffnung des Nachlassverfahrens ihre Forderungen nur noch in dessen Rahmen durchsetzen können.
In Übereinstimmung hiermit bestreitet die Beschwerdegegnerin denn auch nicht die Ausführung der Beschwerdeführerinnen, wonach das belgische Urteil ausserhalb der Nachlassliquidation keine Bedeutung habe, sondern hält diesen Umstand bloss für unerheblich für die Frage der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung. Die von ihr und der Vorinstanz immerhin erwähnte theoretische Möglichkeit, dass ein Nachlassvertrag widerrufen werden könnte (Art. 313 SchKG), ändert an dieser Sachlage nichts. Denn hierfür bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte.
9.2 Die Beschwerdegegnerin trat im Februar 2003 dem von ihren belgischen Mehrheitsaktionären beim Handelsgericht von Brüssel anhängig gemachten Verfahren infolge Streitverkündung bei. Den vorliegend prozessgegenständlichen (Konkurs-)Schaden aus der Verletzung des Astoria Agreement machte sie nach unbestritten gebliebener und mit dem Urteil des Obergerichts vom 8. November 2012 übereinstimmender Darstellung der Beschwerdeführerinnen erstmals im Rahmen einer Klageergänzung vom 14. Februar 2003 geltend. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Beschwerdeführerinnen seit geraumer Zeit in einem Nachlassverfahren und somit in Generalexekution.
An dieser zeitlichen Abfolge vermag auch der von der Beschwerdegegnerin hervorgehobene Umstand nichts zu ändern, dass die Liquidationsvergleiche in den Nachlassverfahren erst am 20. Juni 2003 vom Nachlassrichter bestätigt wurden und bis zu diesem Zeitpunkt
BGE 140 III 320 S. 332
nicht feststand, ob nicht doch noch der Konkurs über die Beschwerdeführerinnen eröffnet würde (vgl.
Art. 309 SchKG). Denn bereits die Nachlassstundung zeitigt gleichartige Wirkungen wie die Konkurseröffnung: Die individuelle Weiterverfolgung von Gläubigeransprüchen ist ausgeschlossen, wie auch die Veränderung der Verhältnisse unter den Gläubigern (vgl.
BGE 125 III 154 E. 3b S. 157 f.; LUCIEN GANI, in: Commentaire romand, Poursuite et faillite, 2005, N. 1 zu
Art. 297 SchKG; ALEXANDER VOLLMAR, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, 2. Aufl. 2010, N. 1 zu
Art. 297 SchKG; vgl. auch AMONN/WALTHER, a.a.O., § 54 Rz. 27; siehe zu den Rechtsfolgen im Einzelnen
Art. 297 SchKG). Sodann stellt
Art. 331 Abs. 2 SchKG für die Anfechtung von Rechtshandlungen hinsichtlich der Verdachtsfristen auf die Bewilligung der Nachlassstundung ab, setzt diese also insofern mit der Konkurseröffnung gleich (vgl. bereits
BGE 134 III 273 E. 4). Somit markiert bereits die Nachlassstundung den Beginn des Insolvenzverfahrens.
9.3 Diesen offensichtlichen Zusammenhang zwischen dem belgischen Prozess und dem schweizerischen Nachlassverfahren verkannte die Vorinstanz:
Für die Beschwerdegegnerin konnte im Zeitpunkt der Anhängigmachung des hier interessierenden Begehrens beim belgischen Gericht kein Zweifel daran bestehen, dass sie das dereinstige - nun vorliegende - Urteil ausschliesslich im Nachlassverfahren über die Beschwerdeführerinnen (gegenüber deren Massen) würde vollstrecken können. Demzufolge ist davon auszugehen, dass die Beschwerdegegnerin ihre Klage in Belgien in der Absicht eingeleitet hat, mit dem Zivilurteil ihre Kollokation im schweizerischen Nachlassverfahren erwirken zu können. Diesem Vorhaben entspricht es, dass die Beschwerdegegnerin den identischen Anspruch (betreffend den wegen Nichterfüllung des Astoria Agreement entstandenen Diskontinuitätsschaden) parallel zum belgischen Prozess im Nachlassverfahren der SAirLines eingab und sich im anschliessenden Kollokationsprozess auf das inzwischen ergangene belgische Urteil berief. Die Beschwerdegegnerin beabsichtigte mit anderen Worten bei Einleitung des Forderungsprozesses beim Handelsgericht von Brüssel, über die Frage des zivilrechtlichen Bestandes der Forderung statt im Kollokationsverfahren am schweizerischen Vollstreckungsort in einem Zivilverfahren vor belgischen Gerichten zu prozessieren, um mit dem Urteil an der Generalexekution gegen die Beschwerdeführerinnen teilzunehmen.
BGE 140 III 320 S. 333
Mit dem belgischen Verfahren verfolgte die Beschwerdegegnerin somit jedenfalls mittelbar das gleiche Ziel wie mit einer Kollokationsklage. Die in Belgien erhobene Klage erscheint unter diesen Umständen - wenn nicht formell, so immerhin von ihrer Funktion her - als Bestandteil des schweizerischen Nachlassverfahrens.
9.4 Angesichts dieser funktionalen Beziehung stellt die in Belgien nach der Eröffnung des schweizerischen Nachlassverfahrens ausschliesslich im Hinblick auf die Kollokation erhobene Klage ein
insolvenzrechtliches Verfahren im Sinne der massgeblichen Rechtsprechung des EuGH und des Bundesgerichts dar (E. 6.2-6.4), das gemäss
Art. 1 Abs. 2 lit. b LugÜ nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Lugano-Übereinkommens fällt:
Wohl ist das belgische Verfahren streng genommen nicht aus dem Nachlassverfahren hervorgegangen, wie es der im Urteil Gourdain geprägten Formel entsprechen würde (vgl. E. 6.2), da die Klage - zumindest theoretisch - auch ohne das Nachlassverfahren über die Beschwerdeführerinnen unter Geltendmachung einer von diesen begangenen Vertragsverletzung hätte erhoben werden können. Demgegenüber spricht die nach dem EuGH-Urteil SCT Industri massgebliche "Enge des Zusammenhangs" (E. 6.4) unter den vorliegenden Umständen für den Ausschluss vom Lugano-Übereinkommen, da bei Anhängigmachung der Klage absehbar war, dass das Urteil ausschliesslich im schweizerischen Nachlassverfahren würde vollstreckt werden können - einmal abgesehen von der in jedem Insolvenzverfahren verbleibenden Möglichkeit einer Einzelzwangsvollstreckung in einem Drittstaat, wo das Insolvenzverfahren nicht anerkannt ist. Der Zusammenhang ist vorliegend sogar enger als im Ausgangsverfahren von SCT Industri, indem sich hier nicht bloss eine insolvenzrechtliche Vorfrage stellt, sondern die insolvenzrechtliche Wirkung des Entscheids das eigentliche Klageziel war.
Dass die vorliegende Streitsache nicht unter das Lugano-Übereinkommen fällt, entspricht somit jedenfalls der weiten Interpretation des Ausnahmetatbestandes von Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH.
Die entsprechende Anwendung von
Art. 1 Abs. 2 lit. b LugÜ trägt sodann vor allem den Interessen Rechnung, die bei einem Konkurs mit internationalen Bezügen in Erscheinung treten: Sie verhindert, dass nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über den Schuldner die Masseverwaltung von den einzelnen Gläubigern mit Blick auf die
BGE 140 III 320 S. 334
bevorstehende Kollokation systematisch vor Gerichten in anderen Staaten des Lugano-Übereinkommens verklagt wird, was die wirtschaftliche Abwicklung der Generalexekution in Frage stellen könnte. Die Interessenlage ist in dieser Beziehung vergleichbar mit derjenigen bei Insolvenzanfechtungsklagen, wo eine Bündelung der Verfahren am Vollstreckungsort eine effiziente und rasche Durchführung des Konkurses fördert. Diese Zielsetzung hat denn etwa auch der EuGH ins Feld geführt, um die - auf Art. 3 Abs. 1 EuInsVO gestützte - internationale Zuständigkeit für derartige Klagen am Ort des Insolvenzverfahrens zu begründen (Urteil
Seagon, Randnrn. 22-24). Die resultierende Konzentration der nach Insolvenzeröffnung eingeleiteten Verfahren am Konkursort kommt in beiden Fällen letztlich der Gläubigergesamtheit zu Gute. Sie geht indessen - was die hier interessierenden Ansprüche
gegen den (insolventen) Schuldner betrifft - nicht so weit, dass jedem hängigen Zivilprozess an einem besonderen Gerichtsstand mit Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über die Beklagte die zuständigkeitsrechtliche Grundlage entzogen würde oder dass ausländische Entscheidungen gar generell nicht mehr unter dem Lugano-Übereinkommen anerkannt und vollstreckt werden könnten, wenn ein Schuldner der Generalexekution unterliegt. Die dahingehende Befürchtung der Beschwerdegegnerin erweist sich als unbegründet.
10. Das belgische Urteil fällt aus den dargelegten Gründen nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Lugano-Übereinkommens. Dass das Urteil unter diesen Umständen nach den Regeln des IPRG anzuerkennen wäre, wird nicht geltend gemacht und ist aufgrund der insolvenzrechtlichen Natur der Streitsache auch nicht ersichtlich (vgl.
BGE 139 III 236 E. 5.3). Bei dieser Sachlage kommt eine Anerkennung und Vollstreckbarerklärung von vornherein nicht in Frage, und es erübrigt sich, darüber zu befinden, ob die Anerkennungsvoraussetzungen gemäss dem LugÜ gegeben wären und ob die Beschwerdegegnerin überhaupt ein genügendes Rechtsschutzinteresse an einer selbstständigen Anerkennungsfeststellung und Vollstreckbarerklärung gemäss
Art. 33 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 1 LugÜ hätte, wie die Vorinstanz annahm, die Beschwerdeführerinnen hingegen bestreiten.