Urteilskopf
147 III 402
40. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und VSAO-ASMAC Stiftung für Selbständigerwerbende gegen A. AG sowie A. AG gegen VSAO-ASMAC Stiftung für Selbständigerwerbende (Beschwerden in Zivilsachen)
4A_389/2020 / 4A_415/2020 vom 18. Mai 2021
Regeste a
Art. 45 Abs. 3 OR; Methode der Berechnung des Versorgungsschadens.
Der Versorgungsschaden ist (abstrakt) durch Kapitalisierung auf den Zeitpunkt des Todes des Versorgers zu berechnen (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 5).
Regeste b
Art. 45 Abs. 3 OR; Anrechenbarkeit von Vermögenserträgen bei der Berechnung des Versorgungsschadens.
Vermögenserträge sind bei der Berechnung des Versorgungsschadens anzurechnen, auch wenn diese nicht bereits während bestehendem Versorgungsverhältnis dem Unterhalt dienten (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 10.4 und 10.5).
Regeste c
Art. 45 Abs. 3 OR; Anrechenbarkeit von Vermögenserträgen aus Kapitalien von Summenversicherungen bei der Berechnung des Versorgungsschadens.
Erträge aus dem aufgrund des Todes des Versorgers ausbezahlten Kapital einer Summenversicherung sind bei der Berechnung des Versorgungsschadens anzurechnen (E. 10.7).
A.
Am 30. Januar 2006 überrollte ein bei der A. AG (Versicherung, Beklagte) haftpflichtversicherter LKW (Lastkraftwagen) B.B. (nachfolgend: Versorgerin), geboren am 26. Juli 1956, auf ihrem Fahrrad tödlich. Die eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV, Klägerin 1) und die VSAO-ASMAC Stiftung für Selbständigerwerbende (BVG-Stiftung, Klägerin 2) richteten dem Ehemann der tödlich verunglückten Versorgerin, C.B. (nachfolgend: Witwer), geboren am 13. September 1951, sowie den beiden gemeinsamen Kindern D.B. (nachfolgend: Sohn D.B.), geboren am 6. September 1991, und E.B. (nachfolgend: Sohn E.B.), geboren am 10. Juni 1993, Hinterlassenenleistungen aus.
B.
Mit Eingabe vom 23. November 2017 gelangten die Klägerinnen an das Handelsgericht des Kantons Zürich und verlangten Ersatz für die von ihnen erbrachten Leistungen an den Witwer sowie die beiden Söhne aus übergegangenem Recht. Mit Urteil vom 10. Juni 2020 verpflichtete das Handelsgericht die Beklagte, der Klägerin 1 Fr. 183'801.- (Fr. 84'796.- für den Witwer sowie insgesamt Fr. 99'005.- für die Söhne) und der Klägerin 2 Fr. 265'725.- (Fr. 57'956.- für den Witwer, Fr. 96'579.- für Sohn D.B. und Fr. 111'189.- für Sohn E.B.), je zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 30. Januar 2006 zu bezahlen. Im Mehrbetrag wies es die Klagen ab. Die Kosten auferlegte es nach Massgabe des Obsiegens bzw. Unterliegens zu 10 % der Klägerin 1, zu 40 % der Klägerin 2 und zu 50 % der Beklagten.
C.
Gegen dieses Urteil haben sowohl die Klägerinnen als auch die Beklagte Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht erhoben.
C.a
Die Klägerinnen beantragen im Verfahren 4A_389/2020, das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Juni 2020
BGE 147 III 402 S. 404
sei kostenfällig aufzuheben und die Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin 1 Fr. 321'928.- und der Klägerin 2 Fr. 759'769.-, jeweils zuzüglich 5 % Zins auf verschiedenen Betreffnissen zu bezahlen. Eventuell sei das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin 2 Fr. 755'574.- zuzüglich 5 % Zins auf verschiedenen Betreffnissen zu bezahlen. Subeventuell sei die Sache zur Neufestlegung des Quantitativs an das Handelsgericht zurückzuweisen.
Die Beklagte trägt auf kostenfällige Abweisung der Beschwerde an. Das Handelsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.
C.b
Die Beklagte verlangt im Verfahren 4A_415/2020, der Beschluss und das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Juni 2020 seien kostenfällig aufzuheben, und es sei die Klage vom 23. November 2017 betreffend die Klägerin 2 im den Betrag von Fr. 207'769.- zuzüglich Zins zu 5 % seit 30. Januar 2006 übersteigenden Umfang abzuweisen. Eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an das Handelsgericht des Kantons Zürich zurückzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen die kostenfällige Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden kann. Sie stellen überdies den Antrag, die beiden Verfahren seien zu vereinigen.
Die Parteien haben unaufgefordert repliziert und dupliziert. Das Handelsgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht hat die Beschwerden am 18. Mai 2021 in öffentlicher Beratung beurteilt und sie abgewiesen.
Aus den Erwägungen:
5.
Die Klägerinnen rügen im Verfahren 4A_389/2020 eine bundesrechtswidrige Berechnung der Regressforderungen zufolge Kapitalisierung auf den Todestag.
5.1
Die Vorinstanz erwog, die Rentenleistungen der Klägerinnen und deren Regressschaden sei nach den gleichen Grundsätzen zu kapitalisieren wie der haftpflichtrechtliche Schaden.
Gemäss der langjährigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (mit Hinweis auf:
BGE 145 III 225
E. 4.1.2.2;
BGE 119 II 361
E. 5b;
BGE 108 II 434
E. 5a;
BGE 101 II 346
E. 3c;
BGE 84 II 292
E. 7a; Urteil 4A_122/2016 vom 4. Juli 2016 E. 8.1) werde beim Versorgungsschaden der Schaden abstrakt auf den Todestag berechnet. Demgegenüber erfolge die
BGE 147 III 402 S. 405
Kalkulation beim Invaliditätsschaden (nach Körperverletzung) auf den Urteilstag, womit in diesem Fall unterschieden werden müsse zwischen dem konkret zu berechnenden vergangenen Schaden bis zum Urteilstag und dem abstrakt zu berechnenden zukünftigen Schaden. Von dieser Rechtsprechung sei auszugehen. Entsprechend seien also auch die Renten auf den Todestag zu kapitalisieren und zwar zum Kapitalisierungszinsfuss von 3.5 %.
5.2
Die Klägerinnen machen geltend, vorliegend habe es (im Urteilszeitpunkt) keinen künftigen, zu kapitalisierenden Versorgungsschaden mehr gegeben. Einzig die von der Klägerin 2 ausgerichtete Witwerrente sei noch über das Urteilsdatum (10. Juni 2020) hinaus bis Ende Juli 2020 zu berücksichtigen gewesen, also gerade mal noch einen Monat nach dem Urteil. Sachlich richtig sei einzig die Berechnung der Regressforderung gestützt auf die tatsächlich ausgerichteten,
addierten Renten.
Die Klägerin 1 habe dem Witwer in der Zeit vom 1. Februar 2006 bis zum 30. Juni 2011 (Wegfall der Witwerrente zufolge Erreichen des 18. Altersjahres des jüngsten Kindes,
Art. 24 Abs. 2 AHVG) Witwerrenten von (addiert) Fr. 116'264.- ausgerichtet; für den Sohn D.B. für den Zeitraum zwischen dem 6. September 1991 und Ende September 2016 Waisenrenten von (addiert) Fr. 103'120.-und für den Sohn E.B. bis Ende Juni 2018 solche von (addiert) Fr. 123'421.- (Fr. 117'076.-+ Fr. 6'345.-). Hiervon zog sie 6.09 % ab, da sie den Versorgungsschaden mit der Klage vom 23. November 2017 erst 11.5 Jahre nach dem Todestag berechnet habe und während dieser Zeit die Versorgerin auch ohne den Unfall hätte sterben können (Sterblichkeitsrisiko). Auf den entsprechenden Regressbetreffnissen verlangte sie sodann einen Regresszins von 5 % seit mittlerem Verfall. Grundsätzlich gleich berechnete die Klägerin 2 die geltend gemachte Regressforderung. Die Klägerinnen legen sodann dar, dass eine Kapitalisierung auf den Todestag für sie nachteilig sei. Sie illustrieren dies mit einem Vergleich zwischen den kapitalisierten Beträgen gemäss angefochtenem Entscheid und den addierten Beträgen betreffend die Ansprüche der Klägerin 2 für die dem Witwer ausgerichteten Renten und betreffend die Ansprüche der Beschwerdeführerin 1 für die an Sohn D.B. ausgerichteten Renten. Des Weiteren führe die abstrakte Berechnung dazu, dass die nach dem Tod der Versorgerin eingetretenen Tatsachen bei der Berechnung des Versorgungsschadens nicht berücksichtigt würden, sondern stattdessen auf abstrakte Werte abgestellt werde.
BGE 147 III 402 S. 406
Schliesslich werde auch vom Schweizerischen Versicherungsverband, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der SUVA die zweiphasige Berechnung mit Kapitalisierung per Rechnungstag empfohlen (publ. in: HAVE 2003 S. 355). In der Praxis habe sich die zweiphasige Berechnung schon seit Jahren eingespielt.
5.3
Die Klägerinnen beantragen damit eine Änderung der von der Vorinstanz angewandten bundesgerichtlichen Praxis.
5.3.1
Wie von dieser zutreffend erwähnt (E. 5.1 hiervor), geht die aktuelle bundesgerichtliche Praxis zur Kapitalisierung des Versorgungsschadens auf
BGE 84 II 292
zurück. Das Bundesgericht erwog, die konkrete Berechnung könne vor allem dann zu erheblichen Fehlern führen, wenn das Urteil erst Jahre nach dem Unfall ergehe oder wenn der verunfallte Versorger schon ziemlich alt gewesen sei. Es werde nämlich davon ausgegangen, der Versorger hätte den Abrechnungstag erlebt, wäre der Unfall nicht gewesen. Das Risiko, dass er in der Zwischenzeit verstorben oder arbeitsunfähig geworden wäre, werde damit nicht berücksichtigt. Derartige Fehlerquellen seien nicht zu akzeptieren. Vielmehr müsse - sobald eine mathematisch genauere Berechnungsmethode zur Verfügung stehe - auf diese abgestellt werden. Eine solche genauere und dennoch einfache Methode bestehe darin, dass eine Verbindungsrente auf den Zeitpunkt des Todes des Versorgers kapitalisiert werde. Da damit die Wahrscheinlichkeitsrechnung auch für die Vergangenheit angewendet werde, müsse für die Zeit zwischen Unfall und Urteil ein Schadenszins von 5 % zugesprochen werden. Die Differenz zwischen diesem und dem zur Zeit geltenden Satz der Kapitalisierung von 3.5 % gebe in der Regel den vollen Ausgleich (zum Ganzen
BGE 84 II 292
E. 7).
5.3.2
Die Literatur ist in dieser Frage gespalten.
5.3.2.1
Ein Teil folgt der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, jedoch zumeist ohne sich mit dieser inhaltlich auseinanderzusetzen (DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2. Aufl. 1982, § 26 Rz. 28; MARTIN A. KESSLER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 7. Aufl. 2020, N. 4 zu
Art. 42 OR; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl. 1995, § 6 Rz. 350; REY/WILDHABER, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 5. Aufl. 2018, Rz. 255; ROLAND SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen, 1984, Rz. 172; FRANZ WERRO, La responsabilité civile, 3. Aufl. 2017, Rz. 1226 und
BGE 147 III 402 S. 407
1240;
ders.,
in: Commentaire romand [nachfolgend: Commentaireromand], Code des obligations, Bd. I, 2. Aufl. 2012, N. 24 zu Art. 45OR; vertiefter: BENOÎT CHAPPUIS, Le moment du dommage, 2007, Rz. 533 ff., insb. Rz. 538; zustimmend, sofern zwischen dem Tod des Versorgers und dem Zeitpunkt der Schadensberechnung nicht mehrere Jahre liegen, BERNHARD STEHLE, Der Versorgungsschaden [nachfolgend: Versorgungsschaden], 2010, Rz. 817).
5.3.2.2
Ein anderer Teil der Autoren macht geltend, es gebe keinen zwingenden Grund, bei Todesfällen anders vorzugehen als bei Invalidität (ROLAND BREHM, Berner Kommentar, Das Obligationenrecht, 4. Aufl. 2013, N. 96 zu
Art. 45 OR; HARDY LANDOLT, Zürcher Kommentar, 2007, N. 188 f. zu
Art. 45 OR; WEBER/SCHAETZLE, Personenschaden im Rück- und Ausblick - eine kritische Standortbestimmung, in: Personen-Schaden-Forum 2010, S. 303). Vielmehr könne bei einem zweistufigen Vorgehen der Schaden bis zum Rechnungszeitpunkt genauer - da konkret - ermittelt werden. Da man im Urteilszeitpunkt wisse, ob die Personen noch leben, die versorgt worden wären, gebe es keinen Grund, anstelle des Aufaddierens auf den Todestag zu kapitalisieren und dadurch (über den Kapitalisierungsfaktor) deren Sterbens- und Invalidisierungsrisiken für die zwischen dem Todes- und dem Erledigungs-(Urteils-)zeitpunkt liegende Zeitspanne einzubeziehen. Den hypothetischen Entwicklungen bei der versorgenden Person (z.B. Versterben vor dem Urteilstag) könne mit einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung Rechnung getragen werden (zum Ganzen THOMAS BITTEL, Ausgewählte Fragen zum Versorgungsschaden, in: Personen-Schaden-Forum 2004, S. 61 f.; SCHAETZLE/WEBER, Kapitalisieren, 5. Aufl. 2001, Rz. 2.46 und 4.93 ff.; vgl. auch GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY, Le recours subrogatoire de l'assurance-accidents sociale contre le tiers responsable ou son assureur, 2007, Rz. 1694). Diese Autoren verweisen zum Teil auch darauf, dass die abstrakte einphasige Ermittlung dazu führe, dass die Rechtsprechung gegenüber Änderungen im Zeitraum zwischen Unfall und Urteilstag - zum Beispiel betreffend Lohnentwicklung oder Wiederverheiratung - zum Nachteil der versorgten Person (zu) restriktiv sei (namentlich BITTEL, a.a.O., S. 61; SCHAETZLE/WEBER, a.a.O., Rz. 3.352 und 4.98).
Die Kapitalisierung auf den Todestag sei auch deshalb unzulässig, weil damit der aufgelaufene Schaden bis zum Rechnungstag abgezinst werde, obwohl die Versorgten in dieser Periode das Kapital noch gar nicht zur Verfügung hätten und dieses folglich auch nicht
BGE 147 III 402 S. 408
zinsbringend anlegen könnten. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung werde zwar der gesetzlich geschuldete Schadenszins von 5 % zugesprochen, bei dem aber anders als bei der Diskontierung die Zinseszinsen nicht berücksichtigt würden (
BGE 131 III 12
E. 9). Bei kürzerer Laufzeit sei daher zwar der Schadenszins höher als der zur Abzinsung verwendete Satz von 3.5 %. Bei einem längeren Zeitraum zwischen Todes- und Urteilstag jedoch fange der Schadenszins wegen der Zinseszins-Komponente der Diskontierung den Nachteil der Abzinsung nicht mehr auf (SCHAETZLE/WEBER, a.a.O., Rz. 4.96 f.; STEHLE, Versorgungsschaden, a.a.O., Rz. 819). Mit dieser Methode nehme das Bundesgericht schliesslich auch in Kauf, dass der Teuerung zwischen Todes- und Urteilstag überhaupt nicht oder höchstens sehr beschränkt Rechnung getragen werden könne (BITTEL, a.a.O., S. 62; DENGER/SCHLUEP, Berücksichtigung der aufgelaufenen Teuerung beim Ersatz von Versorgungsschäden, ZBJV 131/1995 S. 508). Insgesamt bestreiten diese Autoren die in
BGE 84 II 292
und nachfolgenden Entscheiden geäusserte Auffassung, dass "[d]ie Differenz zwischen diesem [gemeint: Schadenszins von 5 %] und dem derzeitigen Satz der Kapitalisierung von 3 ½ % [...] in der Regel einen vollen Ausgleich" gebe.
Schliesslich wird darauf hingewiesen, das Bundesgericht habe bei der Bestätigung seiner mit
BGE 84 II 292
begründeten Rechtsprechung auch mit Praktikabilitätsgründen argumentiert. Angesichts der heutigen Möglichkeiten der Berechnung mit dem LEONARDO-Programm entfalle dieses Argument aber (BITTEL, a.a.O., S. 63).
5.3.3
Nach konstanter Rechtsprechung muss sich eine Praxisänderung auf ernsthafte, sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung für zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht, andernfalls ist die bisherige Praxis beizubehalten (
BGE 145 III 281
E. 3.4.2;
BGE 144 III 209
E. 2.3;
BGE 143 IV 9
E. 2.4;
BGE 135 III 66
E. 10;
BGE 132 III 770
E. 4).
5.3.4
Die vorliegend anwendbare Praxis datiert aus dem Jahr 1958. Sie wurde mithin bereits seit über 62 Jahren aufrechterhalten. Eine Änderung dieser Praxis bedarf mit Blick auf deren lange
BGE 147 III 402 S. 409
Anwendungsdauer sehr gewichtiger Gründe. Solche sind indes nicht erkennbar:
5.3.4.1
Zunächst ist zu konstatieren, dass sich die Stimmen in der Literatur zur Frage, ob der Schaden ein- oder zweiphasig zu berechnen ist, keineswegs ausschliesslich oder grossmehrheitlich gegen die bundesgerichtliche Rechtsprechung richten. Vielmehr finden sich - wie aus den vorstehenden Ausführungen in E. 5.3.2 ersichtlich wurde - zahlreiche Autoren, welche die mit
BGE 84 II 292
eingeführte Praxis befürworten. Es liegt also nicht eine (nahezu) einhellige Kritik in der Doktrin vor, die das Bundesgericht veranlassen müsste, in deren Licht seine Praxis zu überdenken. Auch sind die Kritikpunkte nicht neu, sondern standen bereits im Raum, als das Bundesgericht seine Praxis mehrfach bestätigte.
5.3.4.2
Wenn in der Literatur vorgebracht wird, es gäbe keinen zwingenden Grund, den Versorgungsschaden anders zu berechnen als den Invaliditätsschaden, wird damit kein wichtiger Grund für eine Änderung einer seit über 60 Jahren bestehenden Rechtsprechung dargetan. Die beiden Schadenarten unterscheiden sich wesentlich: Der Invalide lebt weiter. Mit welchen Einschränkungen er fortan leben muss, zeigt sich erst im Einzelfall. Da der Schadenersatz ausgleichen soll, was dem invalid Gewordenen nicht mehr möglich ist, ist beim Invaliditätsschaden in einer ersten Phase eine konkrete Berechnung sachgerecht. Anders verhält es sich beim Versorgungsschaden: Abgesehen davon, dass hier die Versorgung wegfällt, ändert der Todesfall im Leben, in der Gesundheit und den sonstigen Verhältnissen der anspruchsberechtigten Hinterbliebenen nichts. Aufgrund dessen kann der Versorgungsausfall abstrakt berechnet werden. Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Invalide seine Situation nicht - oder zumindest nicht in jenem Ausmass - zu beeinflussen vermag, wie es die Hinterbliebenen in der Lage sind. Diese können auf ihre Lebensumstände Einfluss nehmen. Eine daran anknüpfende konkrete Schadensberechnung für eine möglicherweise - wie in casu - sehr lange Zeitperiode und für mehrere Personen ist nicht nur komplex, sondern fällt unter Umständen sehr einseitig zugunsten der Hinterbliebenen aus, die ihre Verhältnisse gestalten können.
5.3.4.3
Soweit gegen die bundesgerichtliche Rechtsprechung weiter eingewendet wird, den in
BGE 84 II 292
erwähnten Schwierigkeiten bei der Berechnung des Schadens könnte durch die Verwendung
BGE 147 III 402 S. 410
des LEONARDO-Programms begegnet werden, liegt darin kein wichtiger Grund, um die bisherige Praxis aufzugeben: Obgleich das LEONARDO-Programm schon länger in Gebrauch ist, hielt das Bundesgericht an seiner Praxis fest. Zum anderen räumt dieses Programm nicht alle praktischen Schwierigkeiten einer konkreten Berechnung aus. Schliesslich - und vor allem - gründet die bestehende Praxis nicht einzig auf Praktikabilitätsüberlegungen.
5.3.4.4
Auch das von den Klägerinnen vorgetragene Argument, wonach veränderte Verhältnisse vorlägen, da der Schweizerische Versicherungsverband, das Bundesamt für Sozialversicherungen und die SUVA die zweiphasige Berechnung empfählen und sich in der Praxis der Sozialversicherungen die zweiphasige Berechnung schon seit Jahren eingespielt habe, indiziert keine Änderung der bundesgerichtlichen Praxis. Abgesehen davon, dass eine solche gelebte Praxis weder belegt wird noch deren Gründe offengelegt werden, offenbart eine nähere Betrachtung einen zentralen Unterschied zur Schadensberechnung im Gerichtsverfahren: Während die Verfahren der Versicherungen meist zeitnah nach dem Tod des Versorgers geführt werden, weshalb die Phase der konkreten Berechnung des Versorgungsschadens überblickbar ist und sich weitgehend der Beeinflussung durch die Leistungsempfänger entzieht, verstreicht in Gerichtsverfahren regelmässig viel Zeit zwischen dem Tod und dem (massgebenden) Zeitpunkt, zu dem letztmals Noven vorgebracht werden können. Dafür liefert der vorliegende Fall das beste Beispiel: Die Versorgerin verstarb im Januar 2006; die Hauptverhandlung vor dem Handelsgericht fand über 14 Jahre später, im März 2020, statt. Hätte das Verfahren in einem Kanton stattgefunden, der einen doppelten Instanzenzug vorsieht, wäre noch mehr Zeit verstrichen. Allein diese lange Dauer macht eine konkrete Berechnung des Schadens bis zum Urteilszeitpunkt ungleich komplizierter und fehleranfälliger als im Verfahren der Versicherungen.
5.3.4.5
Gegen eine zweiphasige Berechnung spricht schliesslich auch, dass der Urteilszeitpunkt, der die Grenze zwischen konkreter und abstrakter Schadenskalkulation bildet, von prozessualen Taktiken der Parteien abhängt (vgl.
BGE 145 III 225
E. 4.1.2.2). Überdies steht er in keinem logischen Zusammenhang zum Zeitpunkt, da der Anspruch auf Schadenersatz entstanden ist (Tod).
5.3.5
Dem Gesagten zufolge ist die Kapitalisierung auf den Todestag durch die Vorinstanz nicht zu beanstanden. Es liegen keine
BGE 147 III 402 S. 411
ernsthaften, sachlichen Gründe vor, die eine Änderung der bundesgerichtlichen Praxis zu begründen vermöchten. Die Beschwerde der Klägerinnen ist in diesem Punkt abzuweisen.
(...)
10.4
Zu beurteilen ist somit die (Rechts-)Frage der Anrechenbarkeit von Vermögenserträgen, wenn diese Erträge nicht bereits während bestehendem Versorgungsverhältnis dem Unterhalt dienten. Diesbezüglich ist die Lehre geteilt.
10.4.1
Zahlreiche Autoren bejahen - zum Teil mit unterschiedlicher Begründung - mit dem Bundesgericht die Anrechnung (BREHM, a.a.O., N. 54 ff., v.a. N. 56 ff. zu
Art. 45 OR; JÜRG FISCHER, Berechnungsvorschläge zum Versorgungsschaden aus der Praxis, in: Personen-Schaden-Forum 2012, S. 45; ROLF KUHN, Die Anrechnung von Vorteilen im Haftpflichtrecht, 1987, S. 150 f.; HANS MERZ, Allgemeiner Teil, in: Obligationenrecht, SPR Bd. VI/1, 1984, S. 210;
ders., ZBJV 107/1971 S. 128; REY/WILDHABER, a.a.O., Rz. 356; SCHAER, a.a.O., Rz. 193; WERRO, Commentaire romand, a.a.O., N. 29 zu
Art. 45 OR [alle bezogen auf Erbanfall];MARTIN A. KESSLER, a.a.O., N. 12 zu
Art. 45 OR [bezogen auf güter- und erbrechtlichen Anfall];OFTINGER/STARK, a.a.O., § 6 Rz. 276 [bezogen aufgüter- und erbrechtlichen Anfall sowie zusätzlich auch auf das eigene, bisherige Vermögen]).
10.4.2
Nach anderer Auffassung sind - wie auch die Klägerinnen geltend machen - solche Vermögenserträge nur anzurechnen, soweit sie auch ohne den Tod des Versorgers zur Bestreitung des Lebensunterhalts verwendet worden wären. Sei das nicht der Fall - wäre der betreffende Einkommensteil also gespart worden - wäre das entsprechende Vermögen ohnehin eines Tages der versorgten Person unter Einschluss der zwischenzeitlich entstandenen Zinsen zugefallen. Für diese entstehe somit aus dem vorzeitigen Tod des Versorgers kein Vorteil (FELLMANN/KOTTMANN, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 2012, Rz. 2221; HARDY LANDOLT, Fragen der Vorteilsanrechnung, HAVE 2019 S. 300; BERNHARD STEHLE, Die Berechnung des Versorgungsschadens: Drei neue Faktoren, in: Personen-Schaden-Forum 2012, S. 139; WEBER/SCHAETZLE/DOLF, Der Personenschaden und seine Berechnung, in: Haftung und Versicherung, 2. Aufl. 2015, Rz. 9.189; PIERMARCO ZEN-RUFFINEN, La perte de soutien, 1979, S. 107). Die Anrechnung, ohne dass gleichzeitig beim
BGE 147 III 402 S. 412
Versorgungsausfall die Sparquote berücksichtigt werde, breche somit koordinationsrechtliche Grundsätze (STEPHAN WEBER, Dogmatisch Ungereimtes beim Personenschaden, in: Festschrift für Willi Fischer [...], 2016, S. 565).
Die Klägerinnen merken an, es sei heute - 33 Jahre nach dem Entscheid C 509/86 vom 28. April 1987, in: Zeitschrift für Walliser Rechtsprechung (ZWR) 1989 S. 294, in welchem sich das Bundesgericht letztmals mit der Anrechnung von Erträgen aus Anteilen am Nachlass der verstorbenen Person auseinandergesetzt habe - an der Zeit, diese Rechtsfrage erneut zu beurteilen, zumal die aktuelle Lehre mehrheitlich gegen eine Anrechnung sei und das Bundesgericht sich im früheren BGE 62 II 55 S. 58 noch gegen die Anrechenbarkeit von Vermögenserträgen ausgesprochen habe. Sie beantragen eine Änderung der Rechtsprechung.
10.5
Das Bundesgericht erwog im zit. Urteil C 509/86, die Anrechnung erfolge im Sinn einer Vorteilsausgleichung. Dass bei Fortbestehen des Versorgungsverhältnisses die Vermögenserträge, soweit sie nicht für den Unterhalt verwendet worden wären, der Vermögensbildung und damit der Vergrösserung der güter- und erbrechtlichen Ansprüche von Versorgten hätten dienen können, schliesse die Vorteilsanrechnung nicht aus; die durch den Tod des Versorgers abgebrochene Vermögensbildung stelle einen haftpflichtrechtlich nicht relevanten Reflexschaden dar.
Sowohl die vertieften Überlegungen der Vorinstanz wie das Schrifttum (vgl. MARC HÜRZELER, Versorgungsschaden: Vermögensbildung und Anrechnung güter- und erbrechtlicher Zuwendungen?[nachfolgend: Versorgungsschaden], HAVE 2019 S. 291) lassen erkennen, dass sich die Schwierigkeiten der Abgrenzung aus den dogmatisch unklaren Begriffen des Vorteils einerseits und der Versorgungsleistung
andererseits ergeben.
10.5.1
Der Versorgungsschaden ist ein positiv-rechtlich geregelter Reflexschaden (
BGE 127 III 403
E. 4b/aa; Urteile 4A_433/2013 vom 15. April 2014 E. 5.2 und 5C.7/2001 vom 20. Juli 2001 E. 8b; BREHM, a.a.O., N. 19 zu
Art. 41 OR; STEHLE, Versorgungsschaden, a.a.O., Rz. 261). Zu entschädigen ist der durch die Tötung des Versorgers entstandene Schaden. Auch wenn in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung davon die Rede ist, es solle der bisherige Lebensstandard weiterhin gewährleistet sein, geht es darum, dass die versorgende Person mit ihren bisherigen Leistungen diesen
BGE 147 III 402 S. 413
Lebensstandard finanzierte und dieser Ausfall zu ersetzen ist (vgl.
BGE 129 II 49
E. 2;
BGE 108 II 434
E. 2b). Entsprechend erfolgt der Hinweis auf den Anspruch auf Gewährleistung der bisherigen Lebensführung im Zusammenhang mit der Bestimmung der Versorgungsquote (zit. Urteil C 509/86 E. 2). Formulierungen in früheren Urteilen, namentlich in
BGE 95 II 411
, wonach kein Bedarf nach Unterstützung bestehe und daher auch kein Versorgungsschaden, soweit das ererbte Vermögen der versorgten Person erlaube, ihren Unterhalt ganz oder teilweise zu bestreiten und eine standesgemässe Lebensführung beizubehalten (
BGE 95 II 41
E. 1b), sind missverständlich. Dies wäre nur dann richtig, wenn vor dem Tod des Erblassers dessen Vermögen zur Versorgung der versorgten Personen verwendet worden wäre (SCHAER, a.a.O., Rz. 189 f.). Der Blick ist somit nicht auf die
versorgte Person und deren Bedarf im Sinn der Unterstützungsbedürftigkeit gerichtet, sondern auf die
versorgende Person und deren (ausfallende) Leistungen. Entsprechend kann es keine Rolle spielen, wie die Vorinstanz richtig festhielt, dass die versorgte Person zum Erhalt ihres bisherigen Lebensstandards allenfalls gar nicht auf die Leistungen angewiesen ist, weil sie mit den Erträgen aus ihrem eigenen Vermögen (die sie zuvor nicht verwenden musste) den bisherigen Lebensstandard weiterführen kann. In der Lehre wird daher zu Recht gesagt, dem Kriterium der Bedürftigkeit komme keine eigenständige Bedeutung zu (MARC HÜRZELER, Versorgungsbedürftigkeit beim Versorgungsschaden?, in: Personen-Schaden-Forum 2015, S. 144 f.; STEHLE, Versorgungsschaden, a.a.O., Rz. 637 und 643 f.).
10.5.2
Entscheidend ist zunächst, wie weit der
Begriff der Versorgungsleistung geht, deren Entfallen abzugelten ist. Es sind verschiedene vermögensrechtliche Nachteile denkbar, die kausale Folgen des Todes der versorgenden Person sind, weshalb eine Abgrenzung erforderlich ist. Dies sollte mit der Feststellung im zit. Urteil C 509/86 ausgedrückt werden, wonach die durch den Tod des Versorgers abgebrochene Vermögensbildung einen nicht relevanten Reflexschaden darstellt (zit. Urteil C 509/86 E. 3a). Soweit in der Lehre für die Nicht-Anrechnung von Vermögenserträgen plädiert wird, wird dagegen angeführt, es könne nicht abgesprochen werden, dass Ersparnisse und Rücklagen in der Regel den gesamten Lebensstandard erhöhen würden - auch wenn die Vermögensbildung zeitlich nicht unmittelbar zu einer Verbesserung der Versorgungslage beitrage (HÜRZELER, Versorgungsschaden, a.a.O., S. 290;
ders., System
BGE 147 III 402 S. 414
und Dogmatik der Hinterlassenenversicherung im Sozialversicherungs- und Haftpflichtrecht[nachfolgend: System], 2014, S. 232; PETER STEIN, Die Vorteilsanrechnung, insbesondere bei Versicherungsleistungen, SVZ 54/1986 S. 284). Folglich müsse auch die Vermögensbildung zum Versorgungsschaden zählen, womit die nicht leicht zu ziehende Grenze von der Vorsorge zur Vermögensbildung obsolet werde (WEBER/VOSS, Neue Zahlen und Hilfsmittel für die Schadenberechnung, in: Person-Schaden-Forum 2018, S. 278; HÜRZELER, System, a.a.O., S. 231 f.). Nun trifft es zwar zu, dass im Falle des Fortbestands des Versorgungsverhältnisses die Vermögenserträge - soweit sie nicht zu Unterhaltszwecken verwendet worden wären - der Vermögensbildung und damit der Vergrösserung (allfälliger) güter- und erbrechtlicher Ansprüche von Versorgten hätten dienen können. Diese hätten aber nicht der Versorgung gedient, sowenig wie künftige (der Vermögensbildung dienende) Ersparnisse aus dem Einkommen. Für ausfallende Sparanteile auf dem Einkommen (Sparquote) wird dies von Rechtsprechung und herrschender Lehre anerkannt (Urteil 4A_433/2013 vom 15. April 2014 E. 7.2 mit Hinweisen; FELLMANN/KOTTMANN, a.a.O., Rz. 2140; FISCHER, a.a.O., S. 31;GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY, a.a.O., Rz. 1689; LANDOLT, Zürcher Kommentar, 2007, N. 246 zu
Art. 45 OR; STARK, Berechnung des Versorgerschadens, ZSR 105/1986 I S. 347 f.; a.A. die hiervor erwähnten Autoren). Es würde dem Begriff des Versorgungsschadens widersprechen, der zu versorgenden Person so hohe Leistungen zuzusprechen, dass diese neben der Aufrechterhaltung des bisherigen Lebensstandards noch Ersparnisse bilden könnte (STARK, a.a.O., S. 347). Dass die zur freien Verfügung stehenden Sparanteile grundsätzlich vom Versorgungsausfall auszuscheiden sind, wie die Vorinstanz erkannte, wird denn auch von den Klägerinnen im Beschwerdeverfahren nicht mehr gerügt. Es besteht kein sachlicher Grund, hinsichtlich des Begriffs der zu entschädigenden Versorgungsleistung, die Vermögensbildung zufolge Ersparnissen auf dem Einkommen anders zu behandeln als jene zufolge der Äufnung von Vermögenserträgen.
10.5.3
Auf der Basis des so verstandenen Vorsorgeausfalls ist es - wie im zit. Urteil C 509/86 zutreffend festgehalten wurde - ein Vorteil, wenn die versorgte Person zufolge des vorzeitigen Vermögensanfalls selbst Vermögenserträge erzielen kann. Die Vorinstanz rechnete zwar gemäss der geltenden bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Vermögenserträge an, liess aber durchblicken, dass
BGE 147 III 402 S. 415
die Voraussetzungen dafür eigentlich nicht gegeben seien. Gemäss
BGE 136 III 113
E. 3.1.1 und 112 Ib E. 5a müsse nämlich zwischen dem Vorteil und dem Schaden ein innerer Zusammenhang bzw. Kongruenz bestehen. Da der Ausfall von Sparbeiträgen keinen ersatzfähigen Versorgungsschaden darstelle, bilde der vorzeitige güter- und erbrechtliche Vermögensanfall mangels kongruenter Schadenposition keinen anrechenbaren Vorteil. Das Bundesgericht verzichte mit seiner Rechtsprechung auf das
Kriterium der Kongruenz
und nehme beim Versorgungsschaden eine Abweichung vom Prinzip des vollen Schadenersatzes in Kauf. Darauf berufen sich auch die Klägerinnen.
Kongruenz bedeutet, dass ein Vorteil nur anrechenbar ist, wenn er sich auf einen Schadenposten bezieht, bei dem der Vorteil eingetreten ist. Das Bundesgericht verlangte in
BGE 112 Ib 322
in diesem Sinn, es müsse zwischen dem Vorteil und dem schädigenden Ereignis ein "innere[r] Zusammenhang bestehen, ähnlich der adäquaten Kausalität". Dabei könnten allerdings auch Billigkeitsüberlegungen einbezogen werden. Im konkreten Fall bestätigte es, ersparte Unterhaltskosten für ein Kind könnten zwar beim Versorgerschaden angerechnet werden, nicht jedoch beim eingeklagten Ersatz für Bestattungskosten (
BGE 112 Ib 322
E. 5). Dies ist ohne Weiteres einsichtig, handelt es sich doch bei Bestattungskosten um einen Schadenposten, der in keinem Zusammenhang zum Unterhalt und damit auch nicht zum eingesparten Unterhalt steht. In
BGE 136 III 113
wurde die Berufung auf die Vorteilsanrechnung als "an der Sache vorbei[gehend]" bezeichnet; zwischen dem (im Rahmen der Haftung eines Beirats für die Vermögensverwaltung) eingeklagten Schaden aus Verlust des Wertschriftenvermögens einerseits, und den mit Baulandgrundstücken erwirtschafteten Gewinnen andererseits, bestehe keine "Konnexität" (
BGE 136 III 113
E. 3.1.1). Hier handelte es sich in der Tat nicht um eine Frage der Vorteilsanrechnung. Sowohl die Argumentation der Vorinstanz wie jene der Klägerinnen beruht darauf, dass die Anrechnung eines Vermögensertrags unzulässig ist, wenn nicht gleichzeitig der Ausfall des künftigen Vermögensaufbaus als Versorgungsschaden anerkannt wird. Ist aber anerkannt, wie hiervor in E. 10.5.2 dargelegt, dass der Begriff des Versorgungsschadens nicht so weit geht, eine solche künftig entgehende Vermögensbildung einzubeziehen, dann ist es auch zulässig, den vorzeitigen Anfall der Erbschaft bzw. die Möglichkeit, damit Vermögenserträge zu erwirtschaften, als Vorteil anzurechnen. Um eine Frage der Kongruenz handelt es sich dabei nicht.
BGE 147 III 402 S. 416
Die Voraussetzungen für eine Änderung der Rechtsprechung sind daher nicht erfüllt. Die Vermögenserträge aus dem Vermögenszufluss von Fr. 2'748'727.- für den Witwer (vgl. aber E. 10.7 hiernach) und von je Fr. 504'587.- für die beiden Söhne sind anzurechnen. Aus den obigen Ausführungen (vgl. E. 10.5.1 in fine) folgt gleichzeitig, dass entgegen der Beklagten (Verfahren 4A_415/2020) die Erträge auf jenem Vermögen, das bereits vor dem Ableben der Versorgerin im Eigentum des Witwers stand, nicht anzurechnen sind.
(...)
10.7
Die Klägerinnen rügen, die Vorinstanz habe das Kapital aus der als Summenversicherung zu qualifizierenden Lebensversicherung im Betrag von Fr 127'227.- dem ertragbringenden Kapital zugeschlagen (vgl. nicht publ. E. 10.2.3) und auf diesem Kapital einen Vermögensertrag von 3.5 % angerechnet. Damit habe sie
Art. 96 VVG (SR 221.229.1) verletzt. Soweit ein Ertrag überhaupt zu berücksichtigen sei, müsse bei dem von der Vorinstanz in der Tabelle auf S. 63 aufgeführten massgeblichen Vermögen ein Betrag von Fr. 127'227.- abgezogen werden.
10.7.1
Die Vorinstanz stellte zutreffend fest, dass der Anspruchsberechtigte aufgrund von
Art. 96 VVG Schadenersatz- und Versicherungsleistungen kumulieren kann. Unklar sei aber, ob sich diese Bestimmung auch auf die aus zugeflossenen Versicherungsleistungen resultierenden Vermögenserträge beziehe. Die Vorinstanz rechnete diese Vermögenserträge an mit der Begründung, im entsprechenden Umfang entfalle die Versorgungsbedürftigkeit der versorgten Personen.
10.7.2
Gemäss
Art. 96 VVG kann der Versicherte bei einer Summenversicherung die Versicherungsleistung beziehen und zusätzlich den vollen Schadenersatz vom Haftpflichtigen verlangen. Weder der eine noch der andere Belangte kann sich darauf berufen, dass der andere Leistungen erbracht habe. Insbesondere kann nicht argumentiert werden, der Schaden habe sich um die Versicherungsleistung reduziert (CHRISTOPH GRABER, in: Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag [VVG], 2001, N. 13 zu
Art. 96 VVG; OFTINGER/STARK, a.a.O., § 11 Rz. 131). Lebensversicherungen sind in der Regel Summenversicherungen (GRABER, a.a.O., N. 7 zu
Art. 96 VVG).
10.7.2.1
Die Beklagte bestreitet, dass sachverhaltsmässig überhaupt von einer Summenversicherung ausgegangen werden könne.
BGE 147 III 402 S. 417
Entgegen der Behauptung der Klägerinnen habe sie auch den Bestand einer Summenversicherung bestritten. Dass andererseits die Erträgnisse auf dem Kapital einer Schadenversicherung anzurechnen wären, werde auch von den Klägerinnen nicht in Abrede gestellt.
Die Klägerinnen halten selbst fest, die Vorinstanz habe nirgends explizit festgestellt, bei der streitgegenständlichen Lebensversicherungspolice der Säule 3b handle es sich um eine Summenversicherung. Ihnen ist jedoch zuzustimmen, dass die Vorinstanz offensichtlich von einer solchen ausging, da sie die Frage diskutierte, ob gestützt auf Art. 96 VVG auf die Anrechnung von Erträgen aus der Lebensversicherung verzichtet werden könnte. Die Beklagte rügt die fehlende Begründung nicht. Darauf ist somit nicht weiter einzugehen und mit der Vorinstanz von einer Summenversicherung auszugehen, was auch - wie erwähnt (E. 10.7.2) - der Regel entspricht.
10.7.2.2
Ein Teil der Lehre vertritt wie die Vorinstanz die Ansicht, künftige Erträge auf dem ausbezahlten Kapital einer Summenversicherung seien anzurechnen, denn sie reduzierten entsprechend die Versorgungsbedürftigkeit der versorgten Person. Aus
Art. 96 VVG könne nichts Gegenteiliges abgeleitet werden, denn diese Bestimmung beziehe sich nur auf die Versicherungs
kapitalien und das Kriterium der Versorgungsbedürftigkeit gehe vor (BREHM, a.a.O., N. 65 f. zu
Art. 45 OR; KUHN, a.a.O., S. 153; gl.M. FISCHER, a.a.O., S. 45).
Nach anderer Auffassung ist die Anrechnung ausgeschlossen, jedoch nicht aufgrund von Art. 96 VVG, sondern weil im Sinn der hiervor dargelegten Überlegungen zu den Erträgen aus zugeflossenem Vermögen grundsätzlich keine Anrechnung von Erträgen darauf erfolgen soll. Ebenso wie die getötete Person weiterhin Ersparnisse gebildet hätte, hätte sie auch weiterhin Versicherungsprämien bezahlt und die Erträge aus dem Versicherungskapital wären den versorgten Personen nicht zur Verfügung gestanden (HÜRZELER, System, a.a.O., S. 251).
Ein weiterer Teil der Lehre nimmt an, aus
Art. 96 VVG folge, dass als Summenversicherung ausgestaltete Lebensversicherungen nicht der Vorteilsausgleichung unterworfen seien (MERZ, a.a.O., S. 210), womit auch die Anrechnung von darauf zu erzielenden Vermögenserträgen als Vorteil wegfällt. Der - namentlich von BREHM geäusserten - Auffassung, wonach es den Gesetzgeber bei der Schaffung von
Art. 96 VVG nicht interessiert habe, was mit den Zinsen
BGE 147 III 402 S. 418
auf ausbezahltem Versicherungskapital geschehe, sei entgegenzuhalten, dass Sinn und Zweck des Privilegs von
Art. 96 VVG gerade darin bestehe, durch Spar- und Risikoprämien finanzierte Summenversicherungen vom "Zugriff" des Haftpflichtigen zu schützen, weshalb auch die Anrechnung der Erträge von
Art. 96 VVG erfasst werde (LANDOLT, Zürcher Kommentar, 2007, N. 381 f. zu
Art. 45 OR; im Ergebnis gl.M. STEHLE, Versorgungsschaden, a.a.O., Rz. 759 ff.; STEIN, a.a.O., S. 285 f.; WEBER/SCHAETZLE/DOLF, a.a.O., Rz. 9.190).
10.7.3
Die Klägerinnen gehen davon aus, das Bundesgericht habe im zit. Urteil C 509/86 bereits im Sinn der zuletzt genannten Auffassung die Anrechnung von Erträgen aus ausbezahlten Summenversicherungen verneint. Es ist fraglich, ob aus dem erwähnten Entscheid Derartiges abgeleitet werden kann, zumal sich das Bundesgericht zu dieser Frage nicht ausdrücklich äusserte und sie auch nicht Verfahrensgegenstand bildete. Die erstgenannte Ansicht von BREHM und anderen überzeugt. Die Bestimmung von
Art. 96 VVG ist eng auszulegen. Sie betrifft lediglich die Anrechnung des Stamm
kapitals, nicht jedoch die daraus entstehenden Erträge. Der Summenversicherte rechnet mit dem für den Versicherungsfall versprochenen Kapital, das er kumulativ zum Schaden erhält. Wenn er auf diesem Kapital zusätzlich einen Ertrag erwirtschaften kann, ist nicht einzusehen, weshalb er diesen nicht für seinen Unterhalt soll verwenden müssen, so dass sich seine Versorgungsbedürftigkeit, die
Art. 45 Abs. 3 OR einzig ausgleichen will, vermindert.
Des Weiteren ist Folgendes zu beachten: Wird ein Versicherungsanspruch - wie in casu - nicht zu Lebzeiten zugunsten eines Dritten begründet, bildet die Versicherungsleistung Teil der Erbschaft (Art. 476 ZGB). Deshalb ist es folgerichtig, den Ertrag aus diesem Teil der Erbschaft genauso zu berücksichtigen wie den Ertrag aus der übrigen Erbschaft. Sowohl die Erbschaft wie die auf den Todesfall ausbezahlte Summenversicherung beruhen auf einem besonderen Rechtsgrund, werden aber beide infolge des Todes ausgerichtet und stehen beide in einem inneren Zusammenhang mit dem Wegfall des Versorgers. Es wäre inkonsequent, könnten Erträge aus Erbschaft angerechnet werden, solche aus dem Kapital einer Summenversicherung jedoch nicht. Demzufolge ist der Vorinstanz zu folgen und die Beschwerde auch in diesem Punkt abzuweisen.