81 IV 128
Urteilskopf
81 IV 128
27. Urteil des Kassationshofes vom 10. Februar 1955 i.S. Berger gegen Generalprokurator des Kantons Bern.
Regeste
1. Art. 249, 273 Abs. 1 lit. b, 277 bis Abs. 1 BStP. Der Kassationshof hat die Beweiswürdigung, die den tatsächlichen Feststellun. gen der kantonalen Behörde zugrunde liegt, auch nicht auf Ermessensüberschreitung hin zu überprüfen (Erw. 1).
2. Art. 25 Abs. 1, 27 Abs. 1 MFG. Unzulässige Geschwindigkeit innerorts und an Strassenkreuzung (Erw. 2).
A.- Hans Berger, der in Orpund auf eigene Rechnung als Automechaniker arbeitet, fuhr am 24. Dezember 1953 etwa um 12.50 Uhr mit seinem Personenwagen, Modell Hansa aus dem Jahre 1936, auf 6,9 m breiter Hauptstrasse innerorts mit mindestens 60 km/Std. von Biel her durch
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das Ausserdorf Orpund gegen den zwischen dem Hause Lips und dem Postgebäude von rechts her einmündenden Krautplätzenweg. Bevor Berger diese Einmündung erreichte, hatte er eine ziemlich lange gerade Strecke vor sich. Nach der Einmündung trennten ihn dagegen nur etwa 50 m von einer unübersichtlichen Rechtsbiegung. Die Sicht in den Krautplätzenweg, einem Durchgangsweg, an dem Automobilbesitzer wohnen und der oft auch mit Fuhrwerken befahren wird, ist für den von Biel her Kommenden durch den Gartenzaun mit Lebhag der Liegenschaft Lips verdeckt. Die Strasse, auf der Berger fuhr, wies keine Fussgängersteige auf. Verschiedene private Zufahrten verbinden sie mit den zu beiden Seiten stehenden Häusern. Das Gebiet, das Berger durchfuhr, hat vorstädtischen Charakter.Beim Krautplätzenweg stiess Berger mit dem aus entgegengesetzter Richtung kommenden Radfahrer Armin Rihs zusammen, als dieser, ohne seine Absicht durch Ausstrecken des Armes angezeigt zu haben, gegen den Krautplätzenweg hin abbog. Berger betätigte vor dem Zusammenstoss kräftig die Bremsen, die nur noch gerade den Mindestanforderungen entsprachen, prallte unter Hinterlassung einer 18,5 m langen Bremsspur an einen Telephonmast und brachte den Wagen nach einer anschliessenden Schleuderbewegung von etwa 4 m Länge quer in der Strasse zum Stehen.
B.- Am 27. September 1954 verurteilte das Obergericht des Kantons Bern Berger in Anwendung der Art. 25 Abs. 1 und 27 MFG zu Fr. 80.- Busse. Es warf ihm vor, er habe die Geschwindigkeit seines Wagens den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen nicht angepasst. Angesichts der Häufung von Gefahren durch die örtlichen Verhältnisse seien die eingehaltenen 60 km/Std. entschieden zu hoch gewesen. Bei dieser Fahrweise wäre Berger nicht in der Lage gewesen, einem aus dem Krautplätzenweg kommenden Fahrzeug den Vortritt zu lassen. Er sei ortskundig und habe die unübersichtliche Einmündung
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gekannt. Er habe darauf Rücksicht zu nehmen gehabt. Zudem hätte er dem Umstand Rechnung tragen sollen, dass er einen alten Wagen steuerte, dessen Bremsen nur noch gerade den Mindestanforderungen entsprachen.
C.- Berger führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Ergänzung der Akten und zur Neubeurteilung, eventuell zur Freisprechung, an das Obergericht zurückzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Tatsächliche Feststellungen des kantonalen Richters binden den Kassationshof (Art. 277 bis Abs. 1 BStP). Ausführungen, die sich gegen sie richten, dürfen in einer Nichtigkeitsbeschwerde nicht gemacht werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Aus diesen Bestimmungen folgt klar, dass der Kassationshof die Beweiswürdigung nicht zu überprüfen hat, auf der die tatsächlichen Feststellungen beruhen. Daran ändert Art. 249 BStP nichts, der die entscheidende Behörde anweist, die Beweise frei zu würdigen. Das heisst lediglich, dass sie sich nicht an gesetzliche Beweisregeln gebunden fühlen darf, sondern frei von solchen die Überzeugungskraft der Beweise in Betracht zu ziehen hat. Dass sie in der Abwägung der Beweise die Grenzen des Ermessens nicht überschreiten, d.h. nicht willkürlich entscheiden dürfe, ist damit nicht gesagt. Das Verbot der Willkür ergibt sich lediglich aus Art. 4 BV, dessen Verletzung jedoch nicht mit Nichtigkeitsbeschwerde, sondern nur mit staatsrechtlicher Beschwerde, gerügt werden kann (Art. 269 Abs. 2 BStP).
Soweit der Beschwerdeführer der Vorinstanz unter Berufung auf Art. 249 BStP Überschreitung des Ermessens in der Beweiswürdigung vorwirft, insbesondere die Feststellung anficht, er habe bei der Annäherung an die Unfallstelle eine Geschwindigkeit von mindestens 60 km/Std. innegehabt, ist daher auf die Beschwerde nicht einzutreten. Die Vorinstanz hat ihre Feststellungen nicht auf Grund gesetzlicher Beweisregeln getroffen - was der
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Beschwerdeführer auch nicht behauptet -, sondern die Beweise frei gewürdigt, also Art. 249 BStP nicht verletzt.
2. Der Führer muss sein Fahrzeug ständig beherrschen und die Geschwindigkeit den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen anpassen. Er hat namentlich in Ortschaften und auch sonst überall da, wo das Fahrzeug Anlass zu Verkehrsstörung, Belästigung des Publikums, Erschrecken des Viehs oder Unfällen bieten könnte, den Lauf zu mässigen, nötigenfalls sogar anzuhalten (Art. 25 Abs. 1 MFG). Insbesondere hat er bei Strassengabelungen und -kreuzungen die Geschwindigkeit zu mässigen (Art. 27 Abs. 1 MFG). Diese Bestimmungen wollen abstrakt die Unfallgefahren bekämpfen. Sie gelten auch dann, wenn der Führer keine Anhaltspunkte für eine drohende konkrete Gefahr hat. Daher hilft dem Beschwerdeführer der Einwand nicht, es habe im Augenblick des Unfalles kein Verkehr geherrscht, er habe also keine konkreten Anhaltspunkte gehabt, dass er wegen des Verkehrs langsamer fahren müsse. Die angesichts der örtlichen Verhältnisse gegebene abstrakte Möglichkeit, dass er mit anderen Strassenbenützern zusammentreffen und sie gefährden oder auch nur belästigen könnte, wenn er mit mindestens 60 km/Std. fahre, genügte, um ihn zur Mässigung der Geschwindigkeit zu verpflichten.
Dass solche Möglichkeiten bestanden, steht nach den Feststellungen der Vorinstanz über die örtlichen Verhältnisse ausser Frage. Die Strasse, auf der der Beschwerdeführer sich bewegte, ist die Hauptader der Ortschaft Orpund. Sie führt in der Gegend der Unfallstelle an der unübersichtlichen Einmündung des Krautplätzenweges, am Postgebäude und an verschiedenen nach links und nach rechts abzweigenden privaten Zufahrten zu Häusern vorbei. Das Gebiet hat vorstädtischen Charakter. Die Strasse ist die Hauptverbindung zwischen der Stadt Biel und einigen Ortschaften der zu ihrem Einzugsgebiet gehörenden Gegend. Der Beschwerdeführer durfte daher trotz des Zeitpunktes, in dem er sie benützte, nicht damit
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rechnen, dass er keine anderen Strassenbenützer begegnen könne. Tatsächlich hat er ja auch zum mindesten einen, den Radfahrer Rihs, begegnet. Er hatte auch darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Strasse trotz ihrer Bedeutung keine Fussgängersteige aufweist und verhältnismässig schmal ist. Ob Fussgänger, die von den Häusern her kommen konnten, ihn vor dem Betreten der Strasse hätten sehen können, ist unerheblich; auch wenn dies zugetroffen haben sollte, hatte der Beschwerdeführer auf sie Rücksicht zu nehmen, verbietet doch Art. 25 Abs. 1 MFG auch schon die blosse Belästigung des Publikums. Dass der Kassationshof in BGE 80 IV 130 ff. eine Geschwindigkeit von 60 bis 70 km/Std. für einen mit etwa 1 m Abstand an einem vereinzelten unübersichtlichen Gartentor vorbeifahrenden Personenwagen als nicht übersetzt bezeichnet hat, ändert nichts. Jene Stelle befand sich ausserorts, wo die Führer von Motorfahrzeugen Anspruch auf erhöhte Bewegungsfreiheit haben und die Anwohner zu erhöhter Aufmerksamkeit verpflichtet sind. Die vom Beschwerdeführer benützte Strecke im Ausserdorf Orpund liegt dagegen innerorts, wo dem Führer erhöhte Rücksichtnahme auf andere zuzumuten ist und die Anwohner sich in vermehrtem Masse frei sollen bewegen können. Der Auffassung des Beschwerdeführers, auch innerorts könne jedem zugemutet werden, die Strasse nicht zu betreten oder zu überqueren, wenn ihm ein Motorfahrzeug auf 40 bis 50 m nahe sei, ist nicht beizupflichten. Dadurch würde bei dichtem Motorfahrzeugverkehr der Fussgängerverkehr ungebührlich erschwert oder lahmgelegt, zumal dort, wo Fussgängersteige fehlen. Die Strasse kann oft nicht anders als wenige Meter vor einem Motorfahrzeug überschritten werden. Die Führer der Fahrzeuge dürfen das nicht durch übersetzte Geschwindigkeiten verunmöglichen. Der Beschwerdeführer geht auch fehl mit der Auffassung, die Grenze der zulässigen Geschwindigkeit liege erst dort, wo keine Gewähr mehr bestehe, dass der Wagen bei plötzlichem Bremsen nicht ins Schleudern BGE 81 IV 128 S. 133
gerate. Die Art. 25 Abs. 1 und 27 Abs. 1 MFG erlauben dem Motorfahrzeugführer keineswegs, die technischen Möglichkeiten sicherer Führung bis zur Grenze auszuschöpfen und damit die Strasse zur Rennbahn zu machen, sondern verlangen Rücksichtnahme auf andere. Solche ist namentlich an der Einmündung oder Kreuzung von Strassen geboten, wo auch der auf einer Hauptstrasse Fahrende innerorts dem von rechts Kommenden den Vortritt zu lassen hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bedeutet das freilich nicht, dass der auf der Hauptader Verkehrende nicht schneller fahren dürfe, als dass er vor der Einmündung oder Kreuzung anhalten könne, wenn von rechts ein anderes Fahrzeug gleichzeitig eintreffen sollte. Der aus einer Nebenstrasse kommende Vortrittsberechtigte hat zu berücksichtigen, dass der Verkehr auf der Hauptader dichter ist und flüssiger sein darf als auf der Nebenstrasse; er darf sein Vortrittsrecht nicht ausüben, wenn der mit angemessener Geschwindigkeit auf der Hauptader Fahrende nicht mehr in der Lage ist, ihm den Vortritt zu lassen. Daraus folgt aber nicht, dass der auf der Hauptader Verkehrende sich schlechthin so verhalten dürfe, als ob er der Vortrittsberechtigte wäre, es den Einmündenden überlassend, allein für die Verhütung von Zusammenstössen zu sorgen. Die Benützer der Hauptverkehrsader haben vielmehr ihrerseits durch Herabsetzung der Geschwindigkeit, wie Art. 27 Abs. 1 MFG es ausdrücklich verlangt, auf die Einmündungen und Kreuzungen, zumal wenn sie unübersichtlich sind, Rücksicht zu nehmen (BGE 76 IV 257und dort angeführte Urteile). Indem der Beschwerdeführer sich mit mindestens 60 km/Std. dem Krautplätzenweg näherte, in den er keine Sicht hatte, übertrat er dieses Gebot, unbekümmert darum, ob tatsächlich ein Vortrittsberechtigter nahte oder nicht. Endlich hätte er auch der unübersichtlichen Rechtsbiegung, der er auf etwa 50 m nahe war, durch Herabsetzung der Geschwindigkeit Rechnung tragen sollen.Übersetzt war seine Geschwindigkeit unbekümmert darum, dass die Bremsen seines Wagens nur gerade den Mindestanforderungen entsprachen. Auch mit besseren Bremsen hätte er nicht so schnell fahren dürfen. Das Gebot der Rücksichtnahme hätte das nicht erlaubt, da andere Strassenbenützer den Zustand der Bremsen eines mit übersetzter Geschwindigkeit daherkommenden Fahrzeuges nicht kennen und durch es auch dann in ihrer Bewegungsfreiheit ungebührlich behindert werden, wenn es besonders gute Bremsen hat. Ob der Beschwerdeführer gewusst hat, dass die seinen knapp den Anforderungen entsprachen, ist daher unerheblich. Als selbständigerwerbender Automechaniker hätte er es übrigens zum mindesten wissen sollen.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten ist.
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