BGE 81 IV 150
 
33. Urteil des Kassationshofes vom 6. Mai 1955 i.S. Christen gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
 
Regeste
Art. 112 StGB, Mord.
b) Art. 112 geht dem Art. 113 StGB vor.
 
Sachverhalt


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A.- Fritz Christen, geb. 1899, ist deutlich, aber nicht hochgradig debil. Die Schule beendete er nach der sechsten Klasse, da er dreimal wiederholen musste. Beruf erlernte er keinen. Wie schon durch die Mitschüler, wurde er auch durch seine Nebenarbeiter oft ausgelacht. Niemand liebte ihn. Beziehungen zum Weibe vermochte er keine anzuknüpfen. Er überwertete eine Missbildung seines Geschlechtsteils so sehr, dass er sich nur als halber Mensch vorkam. Die chronische Verdrängung seiner agressiven und sexuellen Triebe führte zu einem neurotischen Charakter. Christen entwickelte sich zu einem wortkargen, verschlossenen und misstrauischen Manne, den andere, auch ohne näher mit ihm zu verkehren, als guten Kerl beurteilten. Er war gut beleumdet und hatte sich nie vor dem Strafrichter zu verantworten. Wahrscheinlich wurde schliesslich noch durch den Beginn einer Arteriosklerose sein Hirn verändert.
Am 10. September 1953 gegen 7 Uhr trat Christen von seiner Wohnung an der Dättnauerstrasse in Winterthur-Töss aus den Weg nach dem Kantonsspital an, wo er wegen eines Oberarmbruches eine Nachbehandlung durchmachte. Unterwegs, in der Nähe der Stelle, wo der Kronenrainweg in den Ebnet-Wald führt, traf er die im Jahre 1941 geborene Ursula Weishaupt, die auf dem Wege zur

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Schule war. Nachdem er mit dem Mädchen ungefähr fünfzig Meter weit gegangen war, trat es zu einer Sandkiste in der Nähe des Weges und urinierte. Der Anblick des entkleideten Unterleibes des Kindes gab Christen einen solchen Schock, dass seine chronisch gestauten Triebe ausbrachen. Er stürzte sich auf das Mädchen und warf es nieder, um es am Geschlechtsteil ausgreifen zu können. Indem er ihm mit einer Hand den Mund zuhielt und ihm Schürze und Rock über den Kopf stülpte, hinderte er es am Schreien. Mit dem linken Arm den Nacken des Mädchens umfassend und dessen Gesicht gegen seinen Körper pressend, würgte er das Opfer, schleppte es in ein kleines ausgetrocknetes Bachtobel und liess es dort zu Boden fallen. Hierauf schnitt er dem bewusstlosen Kinde mit einem Taschenmesser vorn auf beiden Seiten die Hosen auf, griff ihm mit dem rechten Mittelfinger in die Scheide und tötete es, indem er ihm mit dem Messer fünf Stiche in den Hals und einen Stich in die linke Schulter versetzte und es würgte. Er deckte die Leiche mit Ästen zu, reinigte sich und ging seines Weges nach dem Kantonsspital, führte unterwegs im Autobus mit einem Dritten ein belangloses Gespräch und bewahrte auch im Spital seine Ruhe. Nachher besuchte er eine Wirtschaft, ass und kehrte auf dem Heimweg noch zwei weitere Male ein.
B.- Am 17. Februar 1955 verurteilte das Obergericht des Kantons Zürich Christen wegen Mordes (Art. 112 StGB) zu zwölf Jahren Zuchthaus, abzüglich 491 Tage Untersuchungs- und Sicherheitshaft, und stellte ihn für sieben Jahre in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit ein.
Das Gericht nahm übereinstimmend mit dem Sachverständigen an, der.Angeklagte habe in einem Affektdämmerzustande gehandelt, wobei seine Fähigkeit zur Einsicht in das Unrecht der Tat nicht wesentlich beeinträchtigt, jedoch die Fähigkeit, sich gemäss seiner Einsicht zu verhalten, wegen der sensitiven Debilität und der Störungen im Hirn mindestens mittelstark vermindert gewesen sei (Art. 11 StGB). Es führte weiter aus, die Begehung

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der Tat im erwähnten Zustande schliesse den Vorwurf aus, Christen habe mit einer Überlegung getötet, die seine besonders verwerfliche Gesinnung oder seine Gefährlichkeit im Sinne des Art. 112 StGB offenbaren könnte. Ob dagegen die Umstände der Tat eine besonders verwerfliche Gesinnung oder Gefährlichkeit des Täters verrieten, beurteile sich unabhängig von dessen Geisteszustand. Zu diesen Umständen gehörten auch die Beweggründe. Christen erinnere sich nicht mehr an die Einzelheiten seines Verbrechens und wisse auch nicht, warum er Ursula Weishaupt getötet habe. Die Tat sei nach ihrem Verlaufe ein typischer Lustmord. Es müsse angenommen werden, Christen habe entweder in sexueller Ekstase und zur Befriedigung seines plötzlich hervorbrechenden Geschlechtstriebes gehandelt, oder um die Entdeckung seines Sittlichkeitsdeliktes zu verhindern, oder aus beiden Motiven zugleich. Der eine wie der andere Beweggrund offenbare eine besonders verwerfliche Gesinnung. Auch durch das Verhalten nach der Tat, das von einer grossen Kaltblütigkeit und vom Mangel jeder echten Reue zeuge, habe Christen solche Gesinnung bekundet. Die Umstände der Tat zeigten auch seine Gefährlichkeit, nämlich dass er fähig sei, unter den gleichen oder anderen Umständen ein ähnliches Verbrechen zu begehen. Das psychiatrische Gutachten komme überzeugend zum Schluss, das sei möglich. Dass Christen in heftiger Gemütsbewegung getötet habe, führe nicht zur Anwendung der Bestimmung über Totschlag (Art. 113 StGB). Wenn eine Tat die Merkmale des Mordes aufweise, der gegenüber der vorsätzlichen Tötung (Art. 111) qualifizierter Tatbestand sei, könnte sie nicht zugleich den privilegierten Tatbestand des Totschlages erfüllen. Eine Tötung in sexueller Erregung sei zudem nicht entschuldbar.
C.- Christen führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei statt des Mordes des Totschlages, eventuell der vorsätzlichen Tötung, schuldig zu erklären und entsprechend milder zu bestrafen.


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D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Über diese Abweichung vom Entwurfe darf nicht hinweggesehen werden. Sie wurde von den eidgenössischen Räten beschlossen, weil die kasuistische Aufzählung nicht befriedigte, insbesondere weil befürchtet wurde, sie könnte Lücken aufweisen (Sten Bull, Sonderausgabe, NatR 251, 252, 266, StR 137). Daher geht es nicht an, mit dem Beschwerdeführer den Tatbestand des Mordes nur zu bejahen, wenn die besonders verwerfliche Gesinnung oder die Gefährlichkeit des Täters sich in einer der in Art. 99 des Entwurfes aufgezählten Tatsachen (Mordlust, Habgier, besondere Grausamkeit usw.) äussert. Sie kann sich auch aus anderen Umständen oder Überlegungen des Täters ergeben, wie anderseits die in Art. 99 des Entwurfes aufgezählten Beweggründe und Arten des Vorgehens die Tat nicht notwendigerweise zum Morde machen.
Welche Fassung den Sinn richtig wiedergibt, kann dahingestellt bleiben; denn der Beschwerdeführer hat unter Umständen getötet, die nicht nur seine Gefährlichkeit, sondern seine besondere Gefährlichkeit offenbaren. Sie ergibt sich daraus, dass er über ein zufällig des Weges kommendes zwölfjähriges Mädchen aus dem einzigen Grunde, weil es ahnungslos zur Verrichtung der Notdurft vor ihm die unteren Teile des Körpers entblösste, in einem Affektdämmerzustand einherfiel und es hierauf entweder im Sinnenrausch, oder damit es ihn nicht als Täter der an ihm begangenen Unzucht verraten könne, durch Messerstiche und Würgen tötete. Nach der verbindlichen Feststellung des Obergerichts befindet er sich in einem Geisteszustand, der befürchten lässt, dass seine chronisch gestauten Affekte unter gleichen oder anderen Umständen erneut ausbrechen und ihn zu einer ähnlichen Tat treiben werden. Der Beschwerdeführer verkennt den Sinn des Art. 112, wenn er glaubt, die besondere Gefährlichkeit sei zu verneinen, weil er seinen Zustand nicht verschuldet habe. Ob verschuldet oder nicht, hat diese Geistesverfassung sich in der vom Beschwerdeführer schuldhaft begangenen Tat offenbart. Das genügt, die besondere Gefährlichkeit als (alternatives) Merkmal des Mordes zu bejahen. Dass sie ihre Ursache in der Gesinnung habe, setzt Art. 112 nicht voraus.
Ob die Umstände der Tat ausserdem eine besonders verwerfliche Gesinnung verraten, oder ob diese zu verneinen wäre, weil der Beschwerdeführer im Affektdämmerzustande gehandelt hat, kann dahingestellt bleiben.
Das Obergericht verkennt den Sinn dieser Bestimmung,

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wenn es ihren Tatbestand verneint, weil die Entschuldbarkeit davon abhange, was der Täter in der Gemütsbewegung getan hat, eine in geschlechtlicher Erregung begangene Tötung aber nicht entschuldbar sei. Art. 113 setzt nach seinem klaren Wortlaut lediglich voraus, dass die heftige Gemütsbewegung, nicht auch, dass die in ihr begangene Tat entschuldigt werden könne.
Ob der Affektdämmerzustand, in dem die heftige, den Beschwerdeführer zur Tötung treibende Gemütsbewegung bestand, entschuldbar war, da das Mädchen seine den Beschwerdeführer so unerwartet beeindruckenden Körperteile unaufgefordert entblösst hatte, kann jedoch dahingestellt bleiben. Denn selbst wenn die Tat ausser den Tatbestandsmerkmalen des Art. 112 auch jene des Art. 113 aufweisen sollte, wäre der Beschwerdeführer zu Recht nach ersterer Bestimmung verurteilt worden. Der Grundtatbestand der vorsätzlichen Verbrechen und Vergehen gegen das Leben ist in Art. 111 (vorsätzliche Tötung) normiert (Botschaft des Bundesrates zum Entwurf S. 30; Sten Bull, Sonderausgabe, NatR 266). Nur im Verhältnis zu diesem ist Totschlag privilegierter Tatbestand, nicht auch im Verhältnis zum Mord (Art. 112), der qualifizierter Fall ist. Es kann nicht der Sinn des Gesetzes sein, dem privilegierenden Merkmal den Vorrang vor dem qualifizierenden zu geben. Im Volke gilt sowohl der Lustmörder, der sein Opfer im Sinnenrausch umbringt, als auch der Sittlichkeitsverbrecher, der es lediglich tötet, damit es ihn nicht verraten kann, auch dann als ein mit der vollen Strenge des Gesetzes zu züchtigender Mörder, wenn er in heftiger Gemütsbewegung, möge sie entschuldbar sein oder nicht, gehandelt hat. Hierauf hat in Bezug auf den Lustmord und andere Fälle schon Zürcher in der zweiten Expertenkommission hingewiesen (Prot. 2148). Er hat auch, ohne dass ihm widersprochen worden wäre, betont, dass die Merkmale des Mordes die Annahme eines blossen Totschlages ausschliessen (Prot. 2162). Ein anderes Mitglied der Kommission hat der Bestimmung

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über Mord wenigstens in dem Sinne den Vorrang gegeben, dass es für die Fälle des Mordes die entschuldbare Gemütsbewegung überhaupt verneint hat (Prot. 8 221).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.