82 IV 145
Urteilskopf
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31. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. September 1956 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
Regeste
1. Art. 157 Ziff. 1 Abs. 1 StGB.
Wucherisches Arzthonorar.
a) Die Vermögensleistung; Bestimmung des objektiven Wertes ärztlicher Dienste (Erw. I 2 lit. a und b);
b) Das offenbare Missverhältnis (Erw. I 2 lit. b);
c) Die Notlage (Erw. I 2 lit. c).
2. Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB.
Pflicht des Richters zur Berücksichtigung früherer Verfahren, auch wenn sie zu keiner Bestrafung geführt haben.
A.- Am 31. August 1953 nahm Dr. B. in seiner Arztpraxis in Zürich an der damals im zweiten Monat schwangeren M. L. mittels einer Curette eine Auskratzung der Gebärmutter vor. Zu diesem Eingriff hatte er sich nur unter der Bedingung bereit erklärt, dass ihm zum voraus Fr. 700.-- bezahlt würden. Er hatte das Geld im Bewusstsein entgegengenommen, dass die ledige und in bescheidenen finanziellen Verhältnissen lebende M. L. sich in einem Zustand der Hilflosigkeit und Verzweiflung befand und alles daran setzte, eine Unterbrechung der Schwangerschaft herbeizuführen.
B.- Am 19. November 1955 verurteilte das Schwurgericht des Kantons Zürich B. wegen Abtreibung und Wucher zu einer auf fünf Jahre bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von einem Jahr und Fr. 500.-- Busse.
C.- Hiegegen führen der Verurteilte und die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Nichtigkeitsbeschwerde.
B. beantragt, es sei das Urteil des Schwurgerichtes aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er bestreitet, sich des Wuchers schuldig gemacht zu haben. Art. 157 StGB setze die zahlenmässige Bestimmbarkeit von Leistung und Gegenleistung, m.a.W. deren wertmässige Vergleichbarkeit voraus. Der Wert der ärztlichen Heiltätigkeit lasse sich zahlenmässig nicht genau feststellen, weswegen sie keine Vermögensleistung im Sinne des Gesetzes sei. Abgesehen davon fehle es am Tatbestandsmerkmal der Notlage.
Die Staatsanwaltschaft stellt den Antrag, das angefochtene Urteil sei insoweit aufzuheben, als es dem Verurteilten den bedingten Strafvollzug gewähre. B. sei seit 1932 wiederholt wegen Abtreibung in Strafuntersuchung gestanden. Indem die Vorinstanz dessen ungeachtet angenommen habe, er werde sich durch die Gewährung des bedingten Strafvollzuges von weiteren strafbaren Handlungen abhalten lassen, habe sie ihr Ermessen überschritten.
Jede der beiden Parteien beantragt Abweisung der gegnerischen Beschwerde.
D.- Eine von B. erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 16. Juni 1956 ab.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
2. Des Wuchers im Sinne des Art. 157 Ziff. 1 Abs. 1 StGB macht sich schuldig, wer die Notlage einer Person ausbeutet, um sich oder einem andern für eine Vermögensleistung Vermögensvorteile gewähren oder versprechen zu lassen, die mit der Leistung in einem offenbaren Missverhältnis stehen.
a) Nach herrschender Auffassung fällt das Vertragsverhältnis zwischen Arzt und Patient unter die zivilrechtlichen Bestimmungen über den Auftrag. Gemäss Art. 394 Abs. 3 OR schuldet der Auftraggeber dem Beauftragten eine Vergütung, wenn sie verabredet oder üblich ist. Entgeltlichkeit ist die Regel, wo die Geschäfts- oder Dienstleistung berufsmässig geschieht; das gilt sowohl für gewerbliche, als auch für Dienste der sog. freien Berufe (BECKER, Kommentar, N. 18 zu Art. 394; OSER/SCHÖNENBERGER, Kommentar, N. 17 zu Art. 394); insbesondere ist es üblich, dass ärztliche Hilfeleistungen honoriert werden. Da die Übung nicht bloss bestimmt, ob, sondern auch wieviel für die Verrichtung des Beauftragten zu bezahlen ist (GAUTSCHI, Auftrag und Geschäftsführung,
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S. 221), und dem Wesen des entgeltlichen Auftrages als eines gegenseitigen Rechtsgeschäftes die annähernde Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung entspricht, kann aus der Höhe eines bestimmten üblichen Entgelts auf den objektiven Wert der damit zu vergütenden Dienste geschlossen werden. Auf diesem Weg lässt sich auch der nach Art. 157 StGB massgebende Vermögenswert der ärztlichen Heiltätigkeit zahlenmässig erfassen und zu dem tatsächlich bezahlten Honorar in Vergleich setzen. Die unbestrittenermassen geldwerten Dienste des Arztes, zu denen der vom Beschwerdeführer an M. L. vorgenommene Eingriff zählt, stellen demnach Vermögensleistungen im Sinne des Gesetzes dar (vgl. auch BGE 70 IV 204; LOGOZ, Kommentar, N. 2 zu Art. 157).b) In Ausführung von § 17 des kantonalen Gesetzes betreffend das Medizinalwesen vom 2. Oktober 1854 erliess der Regierungsrat des Kantons Zürich eine Taxordnung für Ärzte (Privattarif vom 9. Mai 1912/21. August 1947/24. Juli 1952) in der Meinung, damit in streitigen Fällen dem Richter einen Massstab für seine Entscheidung in die Hand zu geben. Behördliche Dispositivtarife solcher Art sind der gesetzliche Niederschlag der in einer Berufsgruppe bestehenden Usanzen über die Höhe der Vergütungen, die für bestimmte stereotype Arbeiten zu leisten sind (vgl. OSER/SCHÖNENBERGER, a.a.O. N. 17 zu Art. 394; GAUTSCHI a.a.O. S. 228 ff.). Für die Bestimmung des objektiven Wertes der vom Beschwerdeführer im vorliegenden Fall erbrachten ärztlichen Leistung ist daher vom genannten Privattarif auszugehen. Zwar gelten dessen Ansätze gemäss Regierungsratsbeschluss vom 21. August 1947 nur für bemittelte Patienten, während für unbemittelte die niedrigeren Tarife der kantonalen Taxordnung für die vom Bunde anerkannten Krankenkassen vom 21. Juli 1949/21. Juni 1951/24. Juli 1952 zur Anwendung gelangen. Darauf kommt indessen nichts an; der Wert der ärztlichen Leistung richtet sich nicht nach den finanziellen Verhältnissen des Patienten. Zudem legen Krankenkassentarife
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nicht das hier allein massgebende übliche Honorar im Sinne des Art. 394 Abs. 3 OR fest (GAUTSCHI, a.a.O. S. 231 unten).Nach dem Privattarif, auf den somit abzustellen ist, hat der im Kanton Zürich tätige Arzt für eine "durch keine Umstände erschwerte" Auslöfflung des Uterus Anspruch auf ein Honorar von Fr. 24.- bis Fr. 120.--. Wie dem von der Staatsanwaltschaft eingeholten Gutachten des gerichtlich-medizinischen Instituts der Universität Zürich zu entnehmen ist, sind solche Eingriffe regelmässig mit weiteren ärztlichen Verrichtungen (wie gynäkologischer Untersuchung, Injektionen, Untersuchung des Urins usw.) verbunden, was eine entsprechende Erhöhung der angeführten Ansätze zur Folge hat. Da der Beschwerdeführer die an M. L. vorgenommene Auskratzung der Gebärmutter in 15-20 Minuten komplikationslos erledigt hatte und weder Nachbehandlung noch Kontrolle nötig waren, hätte er nach Auffassung des Gutachters ein Honorar im Rahmen von Fr. 100.-- bis Fr. 250.-- fordern können. Bei wohlwollendster Würdigung der Gesamtheit seiner Aufwendungen und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er Spezialarzt ist, wäre er demnach mit Fr. 250.-- hinreichend honoriert gewesen. Der Vermögensvorteil von Fr. 700.--, den er sich gewähren liess, steht daher in einem offenbaren Missverhältnis zum objektiven Wert seiner Leistung. Daran ändert nichts, dass § 17 des zürcher. Medizinalgesetzes die Höhe der Vergütung der individuellen Vereinbarung zwischen Arzt und Patient überlässt, sich M. L. ohne weiteres zur Bezahlung der verlangten Fr. 700.-- bereit fand und wegen der Höhe des Honorars nicht klagte. Unsere Rechtsordnung anerkennt keine schrankenlose Vertragsfreiheit (vgl. Art. 20 und 21 OR ). Auch schliesst die Einwilligung der Verletzten die Anwendung von Art. 157 StGB nicht aus; sie ist im Gegenteil Merkmal des Wuchertatbestandes (GERMANN, Das Verbrechen, N. 5 zu Art. 157). Dass M. L. die Anfechtung nach Art. 21 OR unterliess, berührt die strafrechtliche Verurteilung
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des Beschwerdeführers nicht (vgl. HAFTER, Besonderer Teil I, S. 304/5).c) Die Vorinstanz stellt fest, M. L. habe zur Bezahlung des von B. geforderten Honorars ein Darlehen von Fr. 500.-- aufnehmen müssen, nachdem sie Fr. 200.-- von ihrem Schwängerer erhalten habe. Da dieser verheiratet gewesen sei und ihr erklärt habe, er werde für ein aussereheliches Kind keine Alimente bezahlen, habe sie sich in einem Zustand der Hilflosigkeit und Verzweiflung befunden. Sie habe daher alles daran gesetzt, eine Unterbrechung der Schwangerschaft herbeizuführen. Diese Feststellungen sind tatsächlicher Natur und binden den Kassationshof (Art. 277bis Abs. 1 BStP). Sie können mit der Nichtigkeitsbeschwerde nicht angefochten werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Inwiefern die Vorinstanz gestützt auf diesen von ihr als erwiesen erachteten Sachverhalt zu Unrecht angenommen haben soll, M. L. habe sich in einer Notlage befunden, ist nicht ersichtlich. Wie der Kassationshof in BGE 70 IV 204 entschieden hat, verlangt Art. 157 StGB nicht eine Not im Sinne der Armut, sondern es genügt jede Zwangslage, welche den Bewucherten in seiner Entschlussfreiheit dermassen beeinträchtigt, dass er sich zu der wucherischen Leistung bereit erklärt (vgl. ebenso LOGOZ, a.a.O. N. 3 lit. a zu Art. 157; SCHÖNKE, Kommentar, N. V 1 zu § 302 a DStGB). Dass sich M. L. in einer solchen Bedrängnis befand, liegt nach dem Gesagten auf der Hand. Was der Beschwerdeführer hiegegen vorbringt, läuft im wesentlichen auf eine Bestreitung der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz hinaus und ist daher nicht zu hören.
d) Wie das Schwurgericht verbindlich feststellt, hat der Beschwerdeführer mit Wissen und Willen gehandelt. Insbesondere hat er die Entschädigung von Fr. 700.-- in Kenntnis des Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung, sowie im Bewusstsein entgegengenommen, dass sich M. L. in schwerer seelischer Bedrängnis befand und nur aus diesem Grunde auf seine Bedingung einging. Darin liegt
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eine Ausbeutung der Notlage im Sinne des Art. 157 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. B. wurde zu Recht wegen Wuchers bestraft.Der bedingte Strafvollzug setzt unter anderem voraus, dass Vorleben und Charakter des Verurteilten erwarten lassen, er werde durch diese Massnahme von weiteren Verbrechen oder Vergehen abgehalten (Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Ob sich diese Erwartung rechtfertigt, ist Ermessensfrage (BGE 77 IV 68 und dort zitierte Entscheide).
Nach dem angefochtenen Urteil steht fest, dass der Beschwerdeführer erstmals im Jahre 1932 wegen illegaler Schwangerschaftsunterbrechungen in Strafuntersuchung gezogen wurde. Dieses wie zwei im Jahre 1936 gegen ihn wegen gleicher Verfehlungen eingeleitete Strafverfahren wurden mangels rechtsgenügenden Beweises eingestellt. Aus demselben Grund musste im Jahre 1938 die Untersuchung in unbestimmt vielen Fällen sistiert werden. In acht Fällen wurde gegen ihn Anklage wegen Abtreibung erhoben. Das Schwurgericht des Kantons Zürich sprach ihn unter Überbindung sämtlicher Kosten frei. Weitere in den Jahren 1946, 1947, 1948 und 1950 gegen ihn durchgeführte Untersuchungen mussten ebenfalls mangels zureichenden Beweises eingestellt werden, während eine am 7. März 1952 erhobene Anklage wegen Abtreibung infolge Verjährung am 8. Mai 1953 zurückgezogen wurde. Wenige Monate danach trieb B. der M. L. die Frucht ab.
Über diese Tatsachen geht die Vorinstanz mit der Bemerkung hinweg, der Beschwerdeführer habe bisher noch keine Strafe erlitten, weswegen nicht beurteilt werden könne, wie er sich verhalten hätte, wenn er früher einmal bestraft worden wäre. Diese Betrachtungsweise hält vor dem Gesetz nicht stand. Wenn Art. 41 Ziff. 1 Abs. 3 StGB das Fehlen näher umschriebener Vorstrafen auch zu einer Bedingung des Strafaufschubes macht, so ist damit nicht zugleich gesagt, dass ein Strafverfahren, das zu keiner Bestrafung führte, keinerlei Bedeutung für die Entscheidung
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über den bedingten Strafvollzug haben könne. Vielmehr ist es eine höchst natürliche, unmöglich zu verkennende Wirkung, dass das Erstehen einer Strafuntersuchung dem Angeschuldigten zur Warnung wird (BGE 61 I 448, BGE 77 IV 69). Zwar wird der Strafvollzug den Täter in der Regel mehr abschrecken als eine blosse Untersuchung. Das enthebt jedoch den Richter nicht der Pflicht, bei Prüfung der Voraussetzungen des bedingten Strafvollzuges auch frühere Verfahren zu berücksichtigen, die zu keiner Bestrafung geführt haben; dies vor allem dann nicht, wenn der Verurteilte nicht bloss wegen weniger vereinzelter Straftaten, sondern wie hier wegen zahlreicher Abtreibungen wiederholt in Untersuchung gezogen wurde. In solchen Fällen kann nicht gesagt werden, lediglich der frühere Vollzug einer Strafe könne zu einer ungünstigen Prognose führen.Der Vorinstanz ist auch nicht beizupflichten, wenn sie daraus, dass der Beschwerdeführer unter dem Eindruck des Schwurgerichtsverfahrens vom Jahre 1939 für vier Jahre auf die Weiterführung seiner Praxis verzichtete, schliesst, auch das heutige Urteil habe ihn stark beeindruckt und werde ihn ohne Vollzug der Strafe dauernd von weiteren Verbrechen oder Vergehen abhalten. Abgesehen davon, dass er damals nach Wiederaufnahme seiner Arztpraxis bald wieder in das alte Übel zurückfiel, spricht sein psychischer Zustand gegen eine solche Erwartung. Wie das Schwurgericht gestützt auf ein psychiatrisches Gutachten selbst feststellt, handelt es sich beim Beschwerdeführer um einen vorgealterten, eigenwilligen und eigenbrötlerischen Neurotiker mit nervös-depressiven Zügen und einer unmännlichen Gemütsweichheit. Angesichts dessen kann nicht angenommen werden, B. werde einzig unter dem Eindruck des heutigen Strafverfahrens in Zukunft den an ihn herantretenden Versuchungen widerstehen können. Dass er nach der Eröffnung des Wahrspruchs der Geschworenen zusammenbrach, führt zu keinem andern Schluss. Schon während des Strafverfahrens
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vom Jahre 1952/53 wurde der "völlige nervöse Zusammenbruch" des Beschwerdeführers festgestellt, was ihn aber nicht daran hinderte, weiter illegale Schwangerschaftsunterbrechungen vorzunehmen.Was die Vorinstanz zur Stütze ihrer Entscheidung vorbringt, hält sich also nicht nur nicht im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens, sondern ist geradezu gesetzwidrig. Das will indessen nicht heissen, dass der bedingte Strafvollzug im vorliegenden Fall überhaupt ausgeschlossen sei. Vielmehr ist das Urteil in dem von der Staatsanwaltschaft angefochtenen Punkt aufzuheben und die Sache an das Schwurgericht zurückzuweisen, damit es erneut prüfe, ob dem Verurteilten die Rechtswohltat des bedingten Strafvollzuges nicht auf anderer, gesetzesgemässer Grundlage gewährt werden könne.
Demnach erkennt der Kassationshof:
1.- Die Nichtigkeitsbeschwerde des Dr. B. wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.
2.- Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich wird gutgeheissen, das Urteil des Schwurgerichtes des Kantons Zürich vom 19. November 1955 insoweit aufgehoben, als es dem Verurteilten den bedingten Strafvollzug gewährt, und die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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