Urteilskopf
85 IV 11
4. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. Januar 1959 i.S. Scherer gegen Justizdirektion des Kantons Appenzell A.Rh.
Regeste
Art. 69 StGB.
Soweit Untersuchungshaft ausschliesslich wegen einer Handlung ausgestanden worden ist, für die der Beschuldigte nicht bestraft wird, kann sie auch nicht auf die Strafe angerechnet werden, die im gleichen Verfahren für eine andere Tat ausgefällt wird.
A.- Maria Scherer und ihr Ehemann wurden am 9. August 1955 wegen Verdachts, in der Nacht zuvor Feuer an das von ihnen bewohnte Haus gelegt zu haben, in Untersuchungshaft
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gesetzt. Am 5. Dezember beschlossen die Untersuchungsbehörden, die Angeschuldigte nach nochmaliger Konfrontation mit deren Ehemann aus der Haft zu entlassen. Am folgenden Tag verzeigte sie ihr Ehemann wegen eines 1946 begangenen Versicherungsbetruges, den sie sofort gestand. Am 24. Dezember 1955 wurde sie aus der Untersuchungshaft entlassen.
B.- Das Obergericht von Appenzell A.Rh. sprach am 25. August 1958 Maria Scherer von der Anklage der Brandstiftung frei, verurteilte sie dagegen wegen Betruges zum Nachteil der Versicherungsgesellschaft zu einer Busse von Fr. 100.--. Die Untersuchungshaft rechnete es nicht an, mit der Begründung, sie sei zur Hauptsache wegen des Verdachts der Brandstiftung erlitten worden.
C.- Die Verurteilte erhebt gegen diesen Entscheid Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, die Busse sei als durch die Untersuchungshaft getilgt zu erklären, eventuell sei die Haft bei der Festsetzung der Busse angemessen zu berücksichtigen.
Aus den Erwägungen:
Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, die Untersuchungshaft sei wegen des Betruges, der am 6. Dezember 1955 angezeigt wurde, über diesen Tag hinaus verlängert worden, doch hätte deren Anrechnung selbst dann geprüft werden müssen, wenn die gesamte bis 24. Dezember 1955 dauernde Haft ausschliesslich durch den Brandstiftungsverdacht begründet gewesen wäre.
Dieser Auffassung ist nicht beizupflichten. Nach der Rechtsprechung des Kassationshofes kann die Untersuchungshaft nur insoweit angerechnet werden, als sie wegen einer Handlung ausgestanden worden ist, für die der Beschuldigte bestraft wird (BGE 77 IV 6). Auf die ausgefällte Strafe kann demnach nicht Untersuchungshaft angerechnet werden, die der Beschuldigte ausschliesslich wegen Handlungen erlitten hat, deretwegen keine Strafe ausgesprochen wird. Aus welchem Grunde die Bestrafung
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unterbleibt, ob wegen Einstellung des Straffverfahrens oder infolge Freisprechung des Angeklagten, ist unerheblich. Müsste angenommen werden, die Brandstiftung habe auch nach dem 6. Dezember 1955 allein zur Untersuchungshaft Anlass gegeben, so fehlte eine Strafe, auf welche die Haft angerechnet werden könnte, weil die Beschwerdeführerin von der Anklage der Brandstiftung freigesprochen wurde, und der Betrug, dessetwegen die Bestrafung erfolgte, in keiner Beziehung zur ausgestandenen Haft stünde. Der Umstand, dass beide Handlungen in einem einheitlichen Verfahren untersucht und beurteilt wurden, vermöchte den fehlenden Zusammenhang zwischen der Haft und der Tat, die zur Bestrafung führte, nicht zu ersetzen. Es wäre auch kein sachlicher Grund zu ersehen, der es rechtfertigen könnte, die Beschwerdeführerin bei gleichzeitiger Beurteilung beider Handlungen besser zu stellen, als wenn für jede dieser Handlungen ein getrenntes Verfahren durchgeführt worden wäre.Ob ein Beschuldigter wegen anderer Handlungen verurteilt wird als derjenigen, welche die Untersuchungshaft begründeten, kann im allgemeinen leicht festgestellt werden, wenn in der Haftverfügung angegeben wird, wegen welcher Tat die Untersuchungshafft verhängt oder verlängert wurde, ferner wenn Delikte in Frage stehen, die erst nach der Haftentlassung begangen worden sind, oder wenn sie aus anderen Gründen (sofortiges Geständnis des Beschuldigten, blosse Übertretungen) die Haft offensichtlich nicht veranlasst haben können. Dass gewisse Schwierigkeiten möglich sind, wenn bei einer Mehrzahl von strafbaren Handlungen der Grund der Verhaftung nicht festgelegt wird (WAIBLINGER, ZbJV 1954 S. 448), mag zutreffen. Davon wird jedoch die Grosszahl der Fälle nicht betroffen, in denen zum vorneherein anzunehmen ist, der Beschuldigte sei im Hinblick auf die Gesamtheit der ihm vorgeworfenen Handlungen in Haft gestanden, oder in denen der Angeklagte zumindest wegen einer der Handlungen bestraft wird, deretwegen die Haft angeordnet
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worden ist; denn dann hindert die teilweise Einstellung oder Freisprechung die Anrechnung der Haft überhaupt nicht. Wo die Gründe der Haft dennoch zweifelhaft sind, bleibt dem Richter immer noch die Möglichkeit, durch Rückfragen bei den Untersuchungsbehörden oder auf Grund eigener Beurteilung wenigstens annähernd festzustellen, wie sich die Haftzeit auf die einzelnen Tatbestände verteilt. Diese Ausnahmefälle geben nicht Anlass, den materiellrechtlich richtigen Grundsatz, wie er in der bisherigen Rechtsprechung vertreten wurde, aus prozessualen Gründen fallen zu lassen. Dazu führt auch nicht die Folge, dass der Beschuldigte, dem die ausgestandene Haft auf die Freiheitsstrafe nicht angerechnet werden kann, den Ausgleich nur auf dem Wege des Entschädigungsbegehrens erlangen kann. Sinn und Zweck der in den kantonalen Strafprozessgesetzen vorgesehenen Haftentchädigung ist es gerade, für den Schaden, der einem zu Unrecht Beschuldigten durch Freiheitsentzug zugefügt wird, Ersatz zu leisten.