BGE 85 IV 41 |
12. Urteil des Kassationshofes vom 5. Februar 1959 i.S. Thomet gegen Generalprokurator des Kantons Bern. |
Regeste |
Art. 62 Abs. 4 MFV. |
Auf Strecken mit Gefälle hat stets der abwärts fahrende Wagen anzuhalten. |
Sachverhalt |
A.- Thomet fuhr am Nachmittag des 30. Dezember 1957 mit seinem Personenwagen Fiat 1100 auf der Diemtigtalstrasse von Schwenden Richtung Oey-Diemtigen hinunter. In Zwischenflüh, wo die auf eine längere Strecke eben verlaufende Strasse vier Meter breit ist, auf beiden Seiten aber durch einen 30 cm breiten und ebenso hohen Schneewall eingeengt war, kam ihm ein VW-Personenwagen entgegen, der auf 80-100 m Entfernung sichtbar war. Thomet setzte darauf seine bisherige Geschwindigkeit von 25 km/Std. etwas herab und bewegte sich möglichst nahe am rechten Strassenrand weiter. Der Führer des mit einer Geschwindigkeit von 30 km/Std. nahenden VW, Hostettler, erkannte jedoch, dass der Platz zum Kreuzen zu eng war. Um einen Zusammenstoss beider Fahrzeuge zu vermeiden, steuerte er seinen Wagen gegen einen am Strassenrand befindlichen Zaunpfahl und bremste leicht ab. Dadurch rutschte der Hinterteil seines Wagens auf der festgefrorenen Schneedecke gegen die linke Seite des vorbeifahrenden Fiat, der seinerseits durch den Anprall gegen den Strassenzaun gedrückt wurde. |
B.- Der Gerichtspräsident von Niedersimmental erklärte am 29. April 1958 beide Führer der Nichtbeherrschung des Fahrzeuges schuldig und verurteilte Thomet in Anwendung von Art. 62 Abs. 4 MFV und Art. 25 MFG zu einer Busse von Fr. 30.-, Hostettler auf Grund von Art. 25 MFG zu einer solchen von Fr. 20.-.
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Das Obergericht des Kantons Bern, an das Thomet appellierte, bestätigte am 3. Oktober 1958 das Urteil erster Instanz. Es hält dafür, Thomet sei nach der Vorschrift des Art. 62 Abs. 4 MFV, die auf der ganzen Länge und an jeder Stelle der Bergstrasse gelte, verpflichtet gewesen, seinen talwärts fahrenden Wagen vor der schwierigen Kreuzung anzuhalten. Sein Verhalten verstosse gemäss Art. 25 Abs. 1 MFG ausserdem gegen die allgemeine Pflicht, einen drohenden Unfall zu verhüten, indem er den kurz vor der Unfallstelle neben seiner Fahrbahnhälfte gelegenen Ausweichplatz nicht benützt habe und im Bewusstsein der Gefährlichkeit des bevorstehenden Kreuzens sorglos weitergefahren sei. |
C.- Thomet führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei insoweit aufzuheben, als es ihn wegen Übertretung von Art. 62 Abs. 4 MFV bestraft habe. Er macht geltend, diese Bestimmung sei nicht anwendbar, wenn Fahrzeuge auf ebener Strecke kreuzen.
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D.- Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt Abweisung der Beschwerde.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: |
1. Art. 69 lit. p MFG ermächtigt den Bundesrat, besondere Vorschriften über den Verkehr auf Bergstrassen zu erlassen. Das geschah in Art. 62 der Vollziehungsverordnung. Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung fallen unter den Begriff der Bergstrassen alle Passtrassen sowie steile, kurvenreiche Strassen in bergigen und hügeligen Gegenden, die weniger als sechs Meter breit sind. Nach Abs. 2 darf auf Bergstrassen allgemein nur mit mässiger Geschwindigkeit, bei Begegnung mit anderen Fahrzeugen und mit Viehherden nur langsam gefahren werden, und nach Abs. 3 ist in unübersichtlichen Strassenbiegungen die Geschwindigkeit so stark herabzusetzen, dass auf 6 m angehalten werden kann. Abs. 4 bestimmt sodann, dass wenn wegen schwieriger Kreuzung ein Wagen anhalten muss, der talwärts fahrende Wagen dazu verpflichtet ist. |
Der gesetzgeberische Grund für den Erlass des Art. 62 Abs. 4 MFV liegt dagegen nicht, wie die Vorinstanz annimmt, in der Gefährlichkeit der Bergstrasse als solcher. Hätte mit der Anhaltepflicht die Absturzgefahr verhütet werden wollen, so wäre bestimmt worden, dass der auf der Bergseite Fahrende anzuhalten habe, der gegenüber dem auf der Talseite Fahrenden weniger gefährdet ist. Die Verpflichtung des talwärts Fahrenden zum Anhalten geht offensichtlich auf die Überlegung zurück, dass dem abwärts fahrenden Wagen das Wiederanfahren leichter fällt als dem aufwärts fahrenden (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 24. Juni 1955 zum Entwurf des neuen Strassenverkehrsgesetzes). Dem Führer des abwärts fahrenden Wagens kann das Anhalten überdies eher zugemutet werden, weil er eine bessere Übersicht über die Fahrbahn hat und sein Fahrzeug rascher und wenn nötig müheloser im Schritttempo an den Strassenrand manövrieren kann. Auf ebener Strecke, wo die Möglichkeiten zum Wiederanfahren aus beiden Richtungen gleich gut sind, besteht auch auf Bergstrassen keine Veranlassung, einem der kreuzenden Fahrzeuge ein Vorrecht einzuräumen. Es genügt die Anwendung der allgemeinen Regel des Art. 25 Abs. 1 MFG, die jeden Führer verpflichtet, zur Vermeidung von Unfällen nötigenfalls anzuhalten. Aus dem Zweck, den Art. 62 Abs. 4 MFV erreichen will, ist daher zu schliessen, dass sich diese Bestimmung nur auf Bergstrassenstrecken mit Gefälle bezieht und dass unter talwärts fahrendem Wagen stets das abwärts fahrende Fahrzeug zu verstehen ist. Auf diesen Sinn weist auch der französische und der italienische Text hin, die für das deutsche Wort talwärts den Ausdruck voiture descendante bzw. veicolo in discesa verwenden. Damit stimmt überein, dass das Bundesgesetz über den Strassenverkehr vom 19. Dezember 1958 in Art. 45 Abs. 1 an Stelle der bisherigen Wendung ausdrücklich vom abwärts fahrenden Fahrzeug spricht. Diese Lösung hat den praktischen Vorteil, dass es nicht darauf ankommt, ob der abwärts fahrende Wagen sich in Richtung Tal oder Berg bewegt, während die vorinstanzliche Auslegung, folgerichtig angewendet, zum sinnwidrigen Ergebnis führen würde, dass der talwärts Fahrende selbst an Gegensteigungen zum Anhalten verpflichtet wäre. |
Demnach erkennt der Kassationshof:
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Die Nichtigkeitsbeschwerde wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 3. Oktober 1958, soweit es den Beschwerdeführer wegen Widerhandlung gegen Art. 62 Abs. 4 MFV bestraft hat, aufgehoben und die Sache zur Freisprechung in diesem Punkt an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.
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