BGE 86 IV 35 |
12. Urteil des Kassationshofes vom 11. März 1960 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen Prokop. |
Regeste |
Art. 45 Abs. 3 MFV; Vortrittsrecht des Fussgängers. |
2. Es hängt von den Umständen des einzelnen Falles (z.B. von der Verkehrsdichte, Tageszeit, Fahrbahnbreite usw.) ab, inwieweit der Fahrzeugführer im Hinblick darauf, dass ein Fussgänger allenfalls den Vortritt beanspruchen könnte, auf einen Fussgängerstreifen zu die Geschwindigkeit herabzusetzen hat. |
Sachverhalt |
A.- Prokop führte am 10. März 1959, einem Dienstag, kurz vor 14 Uhr in Zürich einen Personenwagen vom Schaffhauserplatz her durch die Weinbergstrasse stadteinwärts gegen deren Kreuzung mit der Ottikerstrasse. Die Weinbergstrasse, deren Fahrbahn 6 m breit ist, ist eine Ausfallstrasse mit grosser Verkehrsdichte. Sie führt über eine ganze Reihe unübersichtlicher Kreuzungen und wird in beiden Richtungen von der Strassenbahn befahren, deren Schienen in geringem Abstand von den beidseitigen Trottoirs in die Strasse eingelassen sind. Unmittelbar vor der Kreuzung mit der Ottikerstrasse befindet sich - in der Fahrtrichtung des Prokop gesehen - am rechten Strassenrand eine Tramhaltestelle, von der ein Fussgängerstreifen quer über die Weinbergstrasse zum linken Trottoir hinüberführt. |
Als Prokop zur angeführten Zeit die Weinbergstrasse befuhr, herrschte vor allem stadteinwärts ausgesprochener Stossverkehr. Unter anderem war gerade ein Tramzug von der Haltestelle Ottikerstrasse stadteinwärts weggefahren, gefolgt von einer kleinen Autokolonne, die hinter dem anhaltenden Tram hatte warten müssen. Prokop näherte sich mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 50 km/Std dieser Kolonne, noch bevor für die dem Tram entstiegenen Personen Gelegenheit bestanden hätte, über die Fahrbahn auf das linksseitige Trottoir zu gelangen. Sein Wagen befand sich noch ca. 40 m vom Fussgängerstreifen entfernt, als dieser vom letzten Auto der mit dem Tram wieder anfahrenden Kolonne passiert wurde. Prokop fuhr, ohne vom Gas zu gehen und Bremsbereitschaft zu erstellen, auf der leicht abfallenden Weinbergstrasse mit unverminderter Geschwindigkeit auf den Fussgängerstreifen zu, bei dem auf dem rechtsseitigen Trottoir mehrere Personen warteten, welche die Fahrbahn überqueren wollten. Drei dieser Fussgänger begannen, als der hinterste Wagen der Fahrzeugkolonne den Fussgängerstreifen überquert hatte, ihr Vorhaben auszuführen. Von diesen drei Personen, die den Fussgängerstreifen betraten, setzte schliesslich aber nur der 66-jährige halbblinde Kaiser den Weg auf die Strassenmitte zu fort. Dabei wurde er ca. 1,6 m vom rechten Strassenrand entfernt auf dem Fussgängerstreifen vom Fahrzeug des Prokop erfasst und zu Boden geworfen. Er erlitt schwere Verletzungen, die zu seinem Tode führten. |
B.- Das Obergericht des Kantons Zürich sprach mit Urteil vom 27. Oktober 1959 Prokop von der Anklage der fahrlässigen Tötung frei, erklärte ihn aber der Übertretung des Art. 25 MFG schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 50.-. Das Gericht nahm an, eine Geschwindigkeit von 50 km/Std sei eindeutig übersetzt gewesen, doch hätte sich der Zusammenstoss wahrscheinlich auch dann nicht vermeiden lassen, wenn die Geschwindigkeit, was nicht zu beanstanden gewesen wäre, in jenem Zeitpunkt nur 35 km/Std betragen hätte.
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C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrage, das Urteil sei aufzuheben und das Obergericht anzuweisen, Prokop der fahrlässigen Tötung schuldig zu erklären und entsprechend zu bestrafen.
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D.- Prokop beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: |
Dem Fussgänger steht demnach, auch wenn er die Fahrbahn auf dem dafür bestimmten Streifen überquert, das Vortrittsrecht gegenüber den Fahrzeugführern nicht schlechthin, sondern nur dann zu, wenn er die Fahrbahn auf angemessene Entfernung vor dem herannahenden Fahrzeug betreten hat. Wie nahe ein Fahrzeug an den Fussgängerstreifen herangerückt sein muss, damit der Führer nicht mehr in Rechnung zu stellen hat, dass ein Fussgänger den Vortritt beanspruchen könnte, kann nicht ein für allemal gesagt werden, sondern hängt von den Umständen, u.a. von der Verkehrsdichte, der Fahrbahnbreite und der Tageszeit ab. Bei dichtem Verkehr ist auf einer schmalen Strasse, zumal kurz vor Arbeitsbeginn oder unmittelbar nach Arbeitsschluss, eher zu erwarten, dass ein Fussgänger eine verhältnismässig kurze Lücke zwischen zwei Fahrzeugen dazu benützen werde, die Fahrbahn zu überqueren als bei schwachem Verkehr oder bei dichtem Verkehr auf einer mehrspurigen Strasse. Bei der Überlegung, ob er angesichts eines sich nähernden Fahrzeuges den Streifen betreten und damit den Vortritt in Anspruch nehmen dürfe, darf der Fussgänger damit rechnen, dass der Fahrzeugführer die Geschwindigkeit vorschriftsgemäss mässigen werde (BGE 65 I 59f.). Hierauf durften sich im vorliegenden Falle die vor dem Streifen wartenden Fussgänger umso mehr verlassen, als für die stadteinwärts fahrenden Führer die Sicht in den von rechts einmündenden Arm der Ottikerstrasse, woher vortrittsberechtigte Fahrzeuge kommen konnten, weitgehend verdeckt ist und daher auch aus diesem Grunde nach Art. 25 Abs. 1 und Art. 27 Abs. 1 MFG langsames Fahren geboten war. |
2. a) Als der Beschwerdegegner sich dem Fussgängerstreifen bei der Tramhaltestelle Ottikerstrasse näherte, standen - nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz (Art. 277bis Abs. 1 BStP) - bei diesem auf dem rechtsseitigen Trottoir 5-10 Personen. Aus ihrem Standort und sonstigen Verhalten musste geschlossen werden, dass sie auf eine Gelegenheit warteten, um die Weinbergstrasse überqueren zu können. Dieser Schluss lag umso näher, als der Tramzug und die an diesen unmittelbar anschliessende Autokolonne, durch die das Überqueren der Weinbergstrasse auf dem Fussgängerstreifen versperrt worden war, sich eben stadtwärts entfernt hatten und die zwischen dem hintersten Wagen der Fahrzeugkolonne und dem Auto des Beschwerdegegners bestehende Lücke von ca. 40 m erfahrungsgemäss von Fussgängern als gross genug erachtet werden mochte, um sie zum Überqueren der Fahrbahn auszunützen. Darauf hatte sich der Beschwerdegegner durch Mässigung der Geschwindigkeit einzustellen. |
b) Die Vorinstanz nimmt an, er hätte dieser Pflicht genügt, wenn er nicht schneller gefahren wäre, als dass er auf 15 m hätte anhalten können, da er erfahrungsgemäss mit der Möglichkeit, dass ein Fussgänger die Strasse überqueren könnte, nicht mehr habe rechnen müssen, als sich sein Fahrzeug dem Fussgängerstreifen bis auf diese Entfernung genähert hatte. Damit trägt die Vorinstanz den gegebenen Umständen jedoch nicht genügend Rechnung.
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Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz herrschte auf der Weinbergstrasse zur Zeit des zu beurteilenden Vorfalles eigentlicher Stossverkehr. Die Möglichkeiten, die Fahrbahn zu überschreiten, waren daher beschränkt. Anderseits war um jene Zeit auch der Fussgängerverkehr rege und hatte es - kurz vor Arbeitsbeginn - ein grosser Teil der Fussgänger unverkennbar eilig. Der Beschwerdegegner musste daher bedenken, dass Fussgänger verhältnismässig kurz vor seinem Wagen die Fahrbahn betreten könnten, um sie auf dem dafür bestimmten Streifen zu überqueren. Damit war umso mehr zu rechnen, als die Fahrbahn der Weinbergstrasse an der in Frage stehenden Stelle verhältnismässig schmal ist.
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Die gleiche Überlegung drängte sich vor allem aber auch im Hinblick auf die beiden Personen auf, die bereits auf den Fussgängerstreifen hinausgetreten waren. Indem sie gleich nach der Durchfahrt des hintersten Wagens der sich stadteinwärts entfernenden Kolonne in die Fahrbahn eingedrungen waren, hatten sie den Vortritt beansprucht, der ihnen gemäss Art. 45 Abs. 3 MFV auch zustand, da sich der Wagen des Beschwerdegegners in diesem Zeitpunkte noch gegen 40 m vor dem Fussgängerstreifen befand. Für Prokop ergab sich daraus die Pflicht, die Geschwindigkeit derart zu mässigen, dass er den Vortritt lassen konnte. Freilich blieben die beiden Fussgänger, nachdem sie den Streifen betreten hatten, sogleich wieder stehen. Daraus hätte der Beschwerdegegner jedoch nur dann ableiten dürfen, dass sie auf den ihnen zustehenden Vortritt verzichteten, wenn bestimmte Anzeichen eindeutig darauf hingewiesen hätten. Das war aber nicht der Fall; es ist nicht festgestellt, dass sie sich auch nur nach jener Richtung hin umgeblickt, geschweige denn dem Beschwerdegegner ein Zeichen gegeben hätten. |
c) Wie die Vorinstanz für den Kassationshof verbindlich festgestellt hat, hatte sich der Beschwerdegegner dem Fussgängerstreifen auf 14-17 m genähert, als Kaiser ihn betrat. Unter den oben angeführten Umständen musste Prokop aber, wovon auch das Obergericht ausgeht, mit der Möglichkeit rechnen, dass die bereits auf dem Fussgängerstreifen stehenden oder andere Passanten sich anschicken könnten, auf diese Entfernung vom Fahrzeug die Fahrbahn noch zu überqueren. Er wäre daher verpflichtet gewesen, die Geschwindigkeit soweit herabzusetzen, dass die Fussgänger auf die genannte Entfernung die Fahrbahn noch hätten ungehindert überqueren können. Hätte er das getan, so wäre er in der Lage gewesen, sein Fahrzeug noch rechtzeitig vor dem Fussgängerstreifen zum Stehen zu bringen, als Kaiser sich auf diesen hinausbegab. Die übersetzte Geschwindigkeit war deshalb rechtserhebliche Ursache für den Zusammenstoss und damit für den Tod Kaisers.
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