BGE 86 IV 113
 
30. Urteil des Kassationshofes vom 20. Mai 1960 i. S. Nuolf gegen Statthalteramt Affoltern a.A.
 
Regeste
Art. 45 Abs. 2 MFV.
 
Sachverhalt


BGE 86 IV 113 (113):

A.- Am 9. Oktober 1959, kurz vor Mittag, fuhr ein Lastenzug die Westrampe der Albispasstrasse Richtung Riedmatt hinunter. Vor der Abzweigung nach Rifferswil-Mettmenstetten hielt der Fahrzeugführer bei der Scheune des Landwirtes Künzi auf der rechten Seite der 7 m breiten, auf diesem Teilstück mit einer Sicherheitslinie versehenen Strasse an, um den dort anwesenden Strassenwärter Gerber nach dem Weg zu fragen. Der unmittelbar hinter dem Lastenzug folgende Lastwagen Schweizer hielt ebenfalls an. Klara Nuolf, die hinter dem Lastwagen ein Personenauto führte, überholte kurz darauf den Lastwagen und den Lastenzug auf der linken Strassenhälfte.


BGE 86 IV 113 (114):

B.- Das Statthalteramt Affoltern büsste Klara Nuolf mit Fr. 40.- mit der Begründung, sie habe Art. 26 Abs. 3 MFG und Art. 45 Abs. 2 MFV verletzt, indem sie an einer unübersichtlichen Strassenbiegung überholt und die Sicherheitslinie überfahren habe.
C.- Der Einzelrichter des Bezirksgerichtes Affoltern, der auf Einsprache der Gebüssten am 27. Februar 1960 zu urteilen hatte, nahm eine Übertretung von Art. 26 Abs. 3 MFG nicht an, bestätigte aber die Busse von Fr. 40.- wegen Widerhandlung gegen Art. 45 Abs. 2 MFV.
D.- Klara Nuolf führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, sie sei gänzlich freizusprechen.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Nach Art. 45 Abs. 2 MFV sind die Fahrzeugführer verpflichtet, in Strassen mit Sicherheitslinien rechts dieser Linie zu fahren. Von diesem Gebot darf nach ständiger Rechtsprechung nur aus zwingenden Gründen abgewichen werden, z.B. wenn ein anderes Fahrzeug wegen einer Panne die rechte Fahrbahn versperrt (BGE 79 IV 84 Erw. 3) oder wenn ein sonstwie aufgestelltes Fahrzeug die nachfolgenden Führer zwingt, die Sicherheitslinie zu überfahren (BGE 81 IV 300 /1).
Die Beschwerdeführerin beruft sich zu Unrecht auf diese Rechtsprechung. Ein Zwang, an Sicherheitslinien die dem Gegenverkehr vorbehaltene Strassenseite zu beanspruchen, besteht nur, wenn dem Führer, der auf ein Hindernis stösst, nicht zugemutet werden kann, mit der Weiterfahrt auf der rechten Fahrbahn solange zuzuwarten, bis diese wieder frei ist. Er hat sich daher, bevor er die Sicherheitslinie überfährt, zu vergewissern, ob ein Grund vorliege, der das Abweichen vom Gebot des Rechtsfahrens zu rechtfertigen vermag. Das trifft z.B. zu, wenn die Weiterfahrt durch ein aufgestelltes Fahrzeug behindert wird, was voraussetzt, dass dessen Führer sich entfernt hat oder ausserhalb des Wagens einer Beschäftigung nachgeht, die voraussichtlich

BGE 86 IV 113 (115):

einige Minuten in Anspruch nimmt. Die Beschwerdeführerin hatte keine solchen Anhaltspunkte. Nach ihrer eigenen Darstellung hat sie den Lastenzug und hinter diesem den Lastwagen Schweizer anhalten gesehen, aber nicht festgestellt, dass einer dieser Führer sein Fahrzeug verliess. Sie war zugegebenermassen überhaupt nicht im Bild, was vorne vor sich ging und wie lange der Halt dauern werde. Abgesehen hievon bekümmerte sie sich auch nicht darum, obschon ihr möglich und zuzumuten gewesen wäre, zuerst abzuklären, weshalb die beiden Lastwagen anhielten, zum mindesten ein Warnsignal zu geben, um festzustellen, ob der Führer des Lastenzuges daraufhin seine Fahrt fortsetze oder durch ein Zeichen zum Vorfahren zu erkennen gebe, dass sein Halt länger andaure. Überholte somit die Beschwerdeführerin die Lastwagen ohne Rücksicht auf die Ursache und Dauer ihres Haltes, so bestand für sie kein zwingender Grund zum Überfahren der Sicherheitslinie, selbst wenn angenommen wird, sie habe vorher ein bis zwei Minuten hinter dem Lastwagen angehalten, was übrigens nicht eindeutig festgestellt und nach den Akten zweifelhaft ist. Die Übertretung von Art. 45 Abs. 2 MFV war unter den gegebenen Umständen nicht gerechtfertigt.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.