Urteilskopf
86 IV 120
32. Urteil des Kassationshofes vom 18. März 1960 i.S. Schweizerische Bundesanwaltschaft gegen Stickelberger.
Regeste
Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV; Ausnahmen von der Eichpflicht.
1. Flaschen mit dem in dieser Bestimmung umschriebenen Fassungsvermögen und der dort angegebenen Zweckbestimmung dürfen unbekümmert darum, ob sie bereits vor oder erst nach dem Inkrafttreten der MGV in Verkehr gesetzt wurden, ohne amtliche Eichzeichen verwendet werden (Erw. 2).
2. In analoger Anwendung dieser Bestimmung dürfen auch für Gemüsesaft verwendete Flaschen mit einem Inhalte von 30-40 bzw. 60-80 cl ohne amtliche Eichzeichen in Verkehr gesetzt werden (Erw. 3).
A.- Die Gemüsebau AG, deren Geschäftsführer Stickelberger ist, stellt Gemüsesäfte her, die sie u.a. in ungeeichten Flaschen von 6 dl in den Handel bringt.
B.- Am 25. September 1959 büsste die Gerichtskommission Kreuzlingen Stickelberger wegen Übertretung von Art. 25 des BG vom 24. Juni 1909 über Mass und Gewicht (MGG) sowie von Art. 11 Ziff. 1 lit. a, c und d, Ziff. 2 lit. a und c und Ziff. 5 lit. a der Vollziehungsverordnung vom 12. Januar 1912 betreffend die in Handel und Verkehr gebrauchten Längen- und Hohlmasse, Gewichte und Waagen (MGV). Das Gericht nahm an, dass Flaschen mit einem Inhalt von 6 dl, wie sie von der Gemüsebau AG für den Vertrieb von Gemüsesaft verwendet worden seien, nach den angeführten Bestimmungen nur geeicht in Verkehr gesetzt werden dürften.
C.- Die Rekurskommission des Obergerichtes des Kantons Thurgau sprach als Berufungsinstanz am 24. November 1959 Stickelberger von der Anschuldigung, durch den Verkauf von Gemüsesäften in ungeeichten Gefässen von 6 dl gegen Art. 25 MGG und Art. 11 MGV verstossen zu haben, frei. Zur Begründung führte das Gericht u.a. an, die von der Gemüsebau AG vertriebenen Gemüsesäfte seien den in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV genannten Getränken gleichzustellen, weshalb die zu ihrem Vertrieb verwendeten Flaschen von 6 dl nach dieser Vorschrift auch dann ohne amtliche Eichzeichen in Verkehr gesetzt werden durften, wenn sie nach Art. 25 MGG und Art. 11 MGV an sich der Eichpflicht unterstellt wären, was übrigens entgegen der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichtes nicht zutreffe.
D.- Die Schweizerische Bundesanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, das zweitinstanzliche Urteil sei aufzuheben und die Sache an das Obergericht zurückzuweisen, damit es Stickelberger wegen Widerhandlung gegen Art. 25 MGG und Art. 11 Ziff. 1 lit. a, c und d sowie Ziff. 5 lit. a MGV, begangen durch Verwendung ungeeichter 6 dl-Flaschen zum Vertrieb von Gemüsesaft, bestrafe. Sie macht geltend, dass diese Flaschen nach den angeführten Bestimmungen der Eichpflicht unterstellt seien und keine der in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV umschriebenen Ausnahmen zutreffe.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Gemäss Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV dürfen Flaschen mit einem Inhalt von 30-40 bzw. von 60-80 cl, die an sich der Eichpflicht unterstellt sind, ohne amtliche Eichzeichen in Verkehr gesetzt werden, sofern sie für Bier, Most, alkoholfreien Obst- und Traubensaft oder Milch verwendet werden. Nach Auffassung der Vorinstanz ist diese Bestimmung auf die von der Gemüsebau AG verwendeten Flaschen von 60 cl anwendbar, da die darin in den Verkehr gebrachten Gemüsesäfte einzelnen der dort aufgezählten Getränke, insbesondere dem Most und den alkoholfreien Obst- und Traubensäften, gleichzustellen seien. Ist diese Annahme begründet, so kann dahingestellt bleiben, ob diese Flaschen, wie die Beschwerdeführerin geltend macht, nach Art. 25 MGG in Verbindung mit Art. 11 Ziff. 1 lit. a, c und d sowie Ziff. 5 lit. a MGV an sich der Eichpflicht unterstellt seien, da sie auch dann gemäss Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV ohne amtliche Eichzeichen in Verkehr gesetzt werden durften.
2. Die Beschwerdeführerin nimmt an, Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV könne im vorliegenden Falle schon deshalb nicht angewendet werden, weil die beanstandeten Flaschen von der Gemüsebau AG, erst in letzter Zeit in den Verkehr
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gebracht worden seien, während diese Bestimmung erlassen worden sei, um aus praktischen Gründen die bereits im Zeitpunkte ihres Inkrafttretens im Handel mit Bier, Most, alkoholfreiem Obst- und Traubensaft und Milch verwendeten ganzen und halben Normalflaschen von der Eichpflicht zu befreien; denn für die Inhaber der damals vorhandenen grossen Flaschenlager hätte es eine kaum tragbare Belastung bedeutet, wenn sie die Millionen solcher Flaschen nachträglich noch hätten eichen lassen müssen (in gleichem Sinne: ISLER, Das Schweizerische Mass- und Gewichtsrecht, S. 58 lit. a). Gewiss mag diese Überlegung für die in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV getroffene Regelung gesprochen haben. Weder die Stellung dieser Bestimmung in der Verordnung, noch ihr Wortlaut enthalten jedoch den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass die Befreiung von der Eichpflicht nur für die bereits damals vorhandenen Flaschen eingeräumt werden wollte.Hätte ihr der Gesetzgeber bloss diese beschränkte Tragweite zugedacht, so hätte er sie wohl in dem mit "Übergangsbestimmung" überschriebenen Teil der Verordnung und nicht im Abschnitt über die Funktionen der kantonalen Eichstätten eingeordnet, oder jedenfalls, wenn er aus irgendwelchen Gründen von der systematischen Einordnung absehen wollte, sie so gefasst, dass über ihre Natur als Übergangsbestimmung kein Zweifel hätte bestehen können. Der Wortlaut des Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV bringt indessen durch nichts auch nur andeutungsweise zum Ausdruck, dass eine Unterscheidung gemacht werden wollte zwischen den beim Erlass der Verordnung bereits im Verkehr befindlichen und den erst nachher in den Verkehr gebrachten Flaschen. Tatsächlich wird denn auch von den mit dem Vollzug des MGG und der MGV betrauten Behörden eine solche Unterscheidung nicht gemacht. Jedenfalls erblickt das Eidg. Amt für Mass und Gewicht, wie sich aus dem bei ihm eingeholten Amtsbericht ergibt, darin keine Umgehung der Eichpflicht, sondern ein nach Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV zulässiges Vorgehen, dass zum
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Vertrieb von Bier, Most, alkoholfreien Obst- und Traubensäften und Milch fortlaufend neue Flaschen in den Verkehr gebracht werden, die nicht geeicht sind.
3. a) Nach Auffassung der Beschwerdeführerin kann Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV jedenfalls nicht ausdehnend ausgelegt werden, da es sich um eine Ausnahmebestimmung handle, die naturgemäss strikte angewendet werden müsse. Bestimmungen, die den Anwendungsbereich einer Regel einschränken, sind jedoch wie andere Rechtsnormen weder allgemein einschränkend oder allgemein ausdehnend, sondern stets nach ihrem wahren Sinne auszulegen. Das gilt für strafrechtliche Bestimmungen so gut wie für Vorschriften anderer Rechtsgebiete (vgl.BGE 71 IV 148;BGE 72 IV 103;BGE 78 IV 40). Von dieser Rechtsprechung abzugehen, besteht kein Anlass.
b) Die angefochtene Entscheidung, die unter dem Gesichtspunkte der Eichpflicht keinen Unterschied macht, ob Flaschen mit einem Fassungsvermögen zwischen 30 und 40 bzw. 60 und 80 cl im Verkehr mit Bier, Most, alkoholfreiem Obst- und Traubensaft und Milch, oder im Handel mit Gemüsesaft verwendet werden, verstösst nicht gegen Bundesrecht, wenn davon auszugehen ist, dass die in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV getroffene Regelung auf Flaschen, in denen Gemüsesaft vertrieben wird, analoge Anwendung findet. Da durch die dahingehende Annahme nicht Strafbarkeit begründet, sondern im Gegenteil die Strafverfolgung wegen an sich unter die Strafdrohung des Art. 28 MGG fallender Handlungen ausgeschlossen würde, steht Art. 1 StGB der analogen Anwendung des Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV auf die dem Verkauf von Gemüsesaft dienenden Flaschen von 30 bis 40 bzw. 60 bis 80 cl nicht entgegen (vgl.BGE 77 IV 28; ferner GERMANN, Kommentar zum StGB N. 123 zu Art. 1 und dort angeführte Lehre und Rechtsprechung).
c) Sie wäre indessen von vorneherein ausgeschlossen, wenn feststände, dass der Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkte der Eichpflicht für Flaschen zum Vertrieb von Gemüsesaft und für solche zum Verkauf der in Art. 11
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Ziff. 2 lit. b MGV angeführten Getränke nicht die gleiche Ordnung schaffen wollte und darum davon abgesehen hat, in dieser Bestimmung auch die Gemüsesäfte anzuführen. Das trifft jedoch schon deshalb nicht zu, weil, wie die Beschwerdeführerin gestützt auf einen Bericht des Eidgenössischen Gesundheitsamtes selber bemerkt, Gemüsesäfte erst seit einigen Jahren in den Handel gebracht werden, somit im Jahre 1912, als die MGV erlassen wurde, als Handelsartikel noch unbekannt waren, weshalb sich damals die Frage, ob die zum Verkaufe dieses Produktes verwendeten Flaschen geeicht werden müssten, überhaupt nicht stellte.d) Kann angenommen werden, dass sie, wenn sie sich gestellt hätte, gleich entschieden worden wäre, wie für die im Detailhandel mit Bier, Most, alkoholfreiem Obst- und Traubensaft und Milch verwendeten Flaschen, so rechtfertigt es sich, die in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV getroffene Ordnung auf den hier zur Beurteilung stehenden Tatbestand analog anzuwenden. Das trifft zu.
Gemüsesäfte und die in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV angeführten Getränke (ausgenommen Bier) sind weitgehend wesensverwandt. Wie diese (Most, alkoholfreier Obst- und Traubensaft, Milch) sind auch die Gemüsesäfte Produkte der Landwirtschaft. Sie enthalten, wie die Mehrzahl der in jener Vorschrift genannten Getränke, keinen Alkohol und sind, gleich Most und alkoholfreien Obst- und Traubensäften, Erzeugnisse pflanzlicher Herkunft Wesensverwandtschaft besteht überdies darin, dass Gemüsesäfte, wie Milch und alkoholfreier Obst- und Traubensaft, erheblichen Nährwert besitzen und vor allem auch darum konsumiert werden, somit weniger Genuss- als Nahrungsmittel sind. Die Wesensverwandtschaft geht namentlich zwischen Gemüse und Früchten, und damit auch zwischen deren Saft, so weit, dass der Laie die Grenze zwischen diesen beiden Arten landwirtschaftlicher Erzeugnisse nicht ohne weiteres zu ziehen vermag. So zählt er beispielsweise regelmässig die Tomate zu den Gemüsen, obwohl sie botanisch eine Frucht ist.
Unter diesen Umständen ist nicht einzusehen, inwiefern die gewerbepolizeilichen Gründe, die zum Erlass der Mass- und Gewichtsordnung des MGG und der MGV geführt haben, gebieten sollen, Flaschen von 30-40 cl bzw. von 60-80 cl nur dann zum Verkauf von Gemüsesaft zuzulassen, wenn sie geeicht sind, während Flaschen mit dem gleichen Fassungsvermögen im Handel mit Bier, Most, alkoholfreiem Obst- und Traubensaft sowie mit Milch ohne amtliche Eichzeichen verwendet werden dürfen. Diese Unterscheidung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn davon auszugehen wäre, dass im Detailhandel mit Gemüsesaft der Käufer in vermehrtem Masse als im Kleinhandel mit Bier, Most, alkoholfreiem Obst- und Traubensaft und Milch des Schutzes vor Täuschung und Übervorteilung durch ungenaue oder unklare Massangaben bedürfe.
Inwiefern das der Fall sein soll, ist unerfindlich und wird im Grunde genommen auch von der Beschwerdeführerin nicht darzutun versucht. Sie weist lediglich darauf hin, dass - wie sich aus einem Bericht des Eidgenössischen Gesundheitsamtes ergebe - zwischen Fruchtsäften einerseits und Gemüsesäften anderseits wesentliche Unterschiede beständen inbezug auf Natur, Herstellung, Aufbewahrung und Zusammensetzung. Diese Unterschiede lassen indessen höchstens erkennen, dass es, um den Konsumenten vor Schaden an der Gesundheit zu bewahren, offenbar unzweckmässig wäre, in Erlassen auf dem Gebiete der Lebensmittelpolizei für den Verkehr mit Fruchtsäften und mit Gemüsesäften durchwegs die gleichen Vorschriften aufzustellen. Dagegen enthält jener Einwand, worauf es hier allein ankommt, nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, inwiefern das öffentliche Interesse gebieten soll, dass Gemüsesäfte nicht wie Bier, Most, alkoholfreier Frucht- und Traubensaft sowie Milch in ungeeichten Flaschen von 30-40 bzw. 60-80 cl in den Verkehr gebracht werden. Dass unter dem Gesichtspunkte der Eichpflicht auf jene Unterschiede nichts ankommen kann, ergibt sich übrigens auch daraus, dass beispielsweise zwischen Bier und Milch oder zwischen Bier und alkoholfreiem Traubensaft inbezug auf
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Natur, Herstellung, Aufbewahrung und Zusammensetzung weit grössere Unterschiede bestehen als zwischen Gemüse- und alkoholfreien Fruchtsäften, gemäss Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV aber dennoch Flaschen für Bier sogut wie Flaschen für Milch und alkoholfreien Traubensaft ohne amtliche Eichzeichen in den Verkehr gebracht werden dürfen.Auch daraus, dass Gemüsesäfte wesentlich teurer sind als die meisten der in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV angeführten Getränke, kann nicht abgeleitet werden, es widerspräche dem Zweck der Mass- und Gewichtsordnung, wenn ausser diesen auch Gemüsesäfte in ungeeichten Flaschen von 30-40 bzw. 60-80 cl in den Verkehr gebracht würden. Indem der Gesetzgeber in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV keinen Unterschied machte, ob Flaschen für Bier, Most oder alkoholfreien Traubensaft verwendet werden, obwohl jene beiden Getränke erheblich billiger sind als alkoholfreier Traubensaft, und indem nach jener Bestimmung alle alkoholfreien Obstsäfte in ungeeichten Flaschen von 30-40 bzw. 60-80 cl in den Verkehr gebracht werden dürfen, obwohl die Preise für die verschiedenen Arten von Obstsäften weit auseinander liegen, wird zum Ausdruck gebracht, dass die in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV umschriebenen Ausnahmen von der Eichpflicht nicht mit Rücksicht auf den Preis, sondern, wie sich aus der Aufzählung in dieser Bestimmung ohne weiteres ergibt, vor allem im Hinblick auf die landwirtschaftliche Herkunft der Getränke eingeräumt wurden. Diese Überlegung trifft auf Gemüsesäfte aber ebensogut zu wie beispielsweise auf Most und alkoholfreie Obstsäfte.
Besteht demnach kein sachlicher Grund, Gemüsesäfte unter dem Gesichtspunkte der Eichpflicht anders zu behandeln als die in Art. 11 Ziff. 2 lit. b MGV angeführten Getränke, so drängt sich die analoge Anwendung dieser Bestimmung auf jene Getränke geradezu auf.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.