BGE 90 IV 214 |
44. Urteil des Kassationshofes vom 30. Oktober 1964 i.S. Roth gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. |
Regeste |
Art. 33 Abs. 2 und 49 Abs. 2 SVG, Art. 6 Abs. 1 und 47 Abs. 3 VRV. |
2. Betritt der Fussgänger den Streifen rechtzeitig, so hat der Fahrzeugführer sich darauf einzustellen, dass jener sein Vortrittsrecht ausübt, und darf auf Verzicht nur schliessen, wenn der Fussgänger sich in eindeutiger Weise seines Rechtes begibt (Erw. 1). |
3. Ob ein solcher Verzicht vorliege, hängt davon ab, wie der Führührer die Lage nach dem Verhalten des Fussgängers beurteilen musste (Erw. 2). |
Sachverhalt |
A.- Roth fuhr am 19. September 1963 mit seinem Personenwagen auf der Hauptstrasse von Luzern Richtung Gerliswil. Um 9.30 Uhr näherte er sich mit etwa 40 km/Std. dem Seetalplatz in Emmenbrücke, wo die 67-jährige Frau Buri sich soeben anschickte, die 9 m breite Strasse auf einem Fussgängerstreifen von rechts nach links zu überschreiten. Sie tat von einer Verkehrsinsel aus einen oder zwei Schritte über die Strasse, kehrte dann aber a ngesichts des von links nahenden Wagens au die Insel zurück. Roth, der wegen der Fussgängerin gebremst hatte, um ihr den Vortritt gewähren zu können, beschleunigte daraufhin die Fahrt wieder. Als er nur noch einige Meter vom Streifen entfernt war, betrat Frau Buri die Strasse von neuem und begann sie raschen Schrittes zu üb erqueren. Obschon Roth sogleich kräftig bremste und nach links auszuweichen versuchte, konnte er den Zusammenstoss nicht mehr vermeiden. Frau Buri wurde mitten auf dem Fussgängerstreifen vom Wagen frontal erfasst und auf die Strasse geschleudert. Sie erlitt schwere Verletzungen, die zu ihrem Tode führten. |
B.- Das Amtsgericht Hochdorf verurteilte Roth wegen Übertretung von Art. 26 Abs. 2 und 33 SVG und Art. 6 VRV sowie wegen fahrlässiger Tötung zu Fr. 300.-- Busse.
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Das Obergericht des Kantons Luzern bestätigte am 9. Juli 1964 dieses Urteil im Schuldspruch, verurteilte Roth jedoch nicht nur zu Fr. 300.-- Busse, sondern auch zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat, deren Vollzug es bedingt aufschob.
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C.- Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung.
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D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: |
1. Nach Art. 33 Abs. 2 SVG hat der Fahrzeugführer vor Fussgängerstreifen besonders vorsichtig zu fahren und nötigenfalls anzuhalten, um Fussgängern, die sich schon auf dem Streifen befinden oder im Begriffe sind, ihn zu betreten, den Vortritt zu lassen. Diese Regel war teils wörtlich, teils dem Sinne nach bereits in Art. 45 Abs. 3 MFV enthalten. Sie verpflichtet den Fahrer, der sich einem Fussgängerstreifen ohne Verkehrsregelung nähert, zu besonderer Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme, und zwar nicht nur im Verhältnis zu Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten, sondern allen Fussgängern gegenüber. Bestehen Anzeichen dafür, dass Fussgänger die Strasse noch vor seiner Durchfahrt überqueren, ihm gegenüber also vom Vortrittsrecht Gebrauch machen könnten, so hat er sich rechtzeitig durch Mässigung der Geschwindigkeit darauf einzustellen (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 VRV). |
Der Fussgänger seinerseits ist gemäss Art. 49 Abs. 2 SVG verpflichtet, den Streifen nicht überraschend zu betreten. Das heisst, dass er nicht nach Belieben, sondern nur dann Anspruch darauf hat, die Strasse vor einem nahenden Fahrzeug zu überqueren, wenn es dessen Führer noch möglich ist, ihm den Vortritt zu lassen, ohne jemanden zu gefährden. Andernfalls hat er vor dem Streifen zu warten und das Fahrzeug durchzulassen. Daran ändert auch Art. 6 Abs. 1 Satz 2 VRV nichts. Diese Bestimmung kann nicht gestatten, was Art. 49 Abs. 2 SVG und Art. 47 Abs. 3 Satz 2 VRV ausdrücklich verbieten, den Fussgänger folglich nicht berechtigen, sich noch rasch auf die Strasse zu begeben und den Vortritt zu erwirken, wenn ein Fahrzeug sich bereits unmittelbar vor dem Streifen befindet, jedoch so schnell fährt, dass es nicht mehr davor anhalten kann. Hat er die Strasse aber auf angemessene Entfernung vor dem nahenden Fahrzeug betreten, so soll der Fussgänger sein Vorhaben ungehindert und in der Erwartung ausführen können, der Fahrer werde sich pflichtgemäss verhalten. Er braucht alsdann auch nicht besonders kundzutun, dass er das Vortrittsrecht ausüben wolle; der Fahrzeugführer hat sich vielmehr zu sagen, dass dies der Fall sei, und darf auf Verzicht nur schliessen, wenn der Fussgänger sich in eindeutiger Weise seines Rechtes begibt (BGE 86 IV 37 f., BGE 89 II 53 f., BGE 89 IV 211).
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2. Das Obergericht wirft dem Beschwerdeführer vor, er habe darin, dass Frau Buri auf die Verkehrsinsel zurücktrat, noch keinen eindeutigen Verzicht auf ihr Vortrittsrecht erblicken dürfen. Er habe leicht erkennen können, dass es sich um eine ältere Frau handelte, die bei seinem Herannahen unsicher geworden sei. Er hätte sich sagen müssen, dass sie die Geschwindigkeit seines Fahrzeuges nicht richtig einschätzen könne, und daher nicht damit rechnen dürfen, dass sie sich einwandfrei verhalten und die Vorbeifahrt des Wagens abwarten werde. Statt den Lauf weiter zu mässigen, habe er sich darauf verlassen, dass Frau Buri auf der Verkehrsinsel bleiben werde. Dadurch habe er den Art. 26 Abs. 2 und 33 SVG sowie Art. 6 VRV zuwidergehandelt, den Tod der Verunfallten also fahrlässig verursacht. |
Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Es gibt zweifellos immer noch zahlreiche Fahrzeugführer, namentlich Autofahrer, welche die Furcht vieler Fussgänger vor herannahenden Fahrzeugen leichtsinnig oder gar bewusst ausnützen und sich so gebärden, als ob das Vortrittsrecht ihnen zustände. Solchem Gebaren ist auch dann, wenn es nicht zu Unfällen führt, mit aller Strenge entgegenzutreten. Dass es häufig vorkommt, darf die Strafverfolgungsbehörden nicht davon abhalten, Fehlbare zur Verantwortung zu ziehen, soll das Vortrittsrecht des Fussgängers nicht weitgehend illusorisch bleiben.
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Das heisst nicht, dass die Anforderungen an den Fahrzeugführer, der sich rechtzeitig vorsieht und einem zaghaften oder ängstlichen Fussgänger den Vortritt lassen will, überspannt werden dürfen. Der Beschwerdeführer hat sich mit höchstens 40 km/Std. dem Fussgängerstreifen genähert, eine Geschwindigkeit, die angesichts der 9 m breiten, übersichtlichen und trockenen Strasse auch nach der Auffassung des Obergerichts nicht übersetzt war. Als Frau Buri den Streifen das erste Mal betrat, hat er sogleich gebremst, um ihr den Vortritt zu lassen. Obschon sie in diesem Augenblick die Strasse ohne Gefahr hätte überqueren können, sah sie davon ab und kehrte auf die Schutzinsel zurück. Ein solches Verhalten kam aber einem klaren Verzicht auf das Vortrittsrecht gleich, musste den Beschwerdeführer folglich nicht daran hindern, die Fahrt wieder zu beschleunigen. Dadurch unterscheidet sich der vorliegende Fall denn auch deutlich von dem in BGE 89 II 50 veröffentlichten, wo der Fussgänger nach mehreren Schritten auf dem Streifen stehenblieb, dann aber, ohne zurückzuweichen, den Weg fortsetzte. Ob Frau Buri auf ihr Vortrittsrecht verzichten wollte oder nicht, kann dahingestellt bleiben, weil darauf nichts ankommt; massgebend ist allein, wie der Autofahrer die Lage nach ihrem Verhalten beurteilen musste. Gewiss ist dem Beschwerdeführer nicht entgangen, eine ältere Frau vor sich zu haben. Nichts in den Akten deutet jedoch darauf hin, dass Frau Buri, abgesehen von ihrer Unsicherheit, irgendwelche Unbeholfenheit an den Tag gelegt hätte. Unsicher oder ängstlich war sie nur, weil sie ein Auto nahen sah. Nachdem sie auf die Schutzinsel zurückgetreten war, sich also in Sicherheit befand, hatte sie hiezu keinen ersichtlichen Anlass mehr. Es war deshalb nicht zu erwarten, dass sie die Strasse unversehens wieder betreten könnte. Der Beschwerdeführer musste damit umsoweniger rechnen, als er nun dem Streifen viel näher, und die Gefahr, um derentwillen sie die Strasse verlassen hatte, viel grösser war. |
Dass Anhaltspunkte für eine Unsicherheit selbst dann noch bestanden hätten, als Frau Buri sich in Sicherheit befand, stellt das Obergericht nicht fest. Auch die Zeugen sagten dies nicht. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichtes, auf dessen Urteil die Vorinstanz verweist, waren diese vielmehr einhellig der Auffassung, dass die Fussgängerin die Strasse auch für sie völlig unerwartet wieder betreten habe. Der Zeuge Müller, der auf einem Motorroller hinter dem Beschwerdeführer herfuhr, sich also in einer durchaus ähnlichen Lage befand wie dieser, hatte angesichts des Verhaltens der Fussgängerin sogar den bestimmten Eindruck bekommen, Frau Buri werde auf der Insel warten und nicht nur den Autofahrer, sondern auch ihn durchlassen. Es liegt auch nichts dafür vor, dass der Beschwerdeführer die Fussgängerin durch seine Fahrweise hätte täuschen können. Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz hat er nicht gebremst, als Frau Buri von der Strasse zurücktrat, sondern als sie die Strasse betrat.
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Nach dem, was in tatsächlicher Hinsicht feststeht, kann dem Beschwerdeführer somit keine Pflichtwidrigkeit zur Last gelegt werden; er ist freizusprechen. Ob ein Fahrer, der Verkehrsregeln verletzt und dadurch fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, nicht nur nach Art. 117 StGB, sondern auch nach Art. 90 SVG zu bestrafen ist, wie das Obergericht annimmt, braucht bei diesem Ergebnis nicht entschieden zu werden. |
Demnach erkennt der Kassationshof:
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