BGE 92 IV 161
 
41. Urteil des Kassationshofes vom 4. November 1966 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen Nötzli.
 
Regeste
Art. 31 Abs. 1 StGB.
a) Der rechtskräftige Strafbefehl ist ein Urteil erster Instanz (Bestätigung der Rechtsprechung).
b) Vor seiner Rechtskraft ist der Strafbefehl nicht ein Urteil erster Instanz (Änderung der Rechtsprechung).
2. Im Fall der Anfechtung des Strafbefehls kann deshalb der Strafantrag noch bis zur Verkündung des Urteils der ersten Instanz im ordentlichen Verfahren zurückgezogen werden. Bei Nichtanfechtung des Strafbefehls ist hingegen der Rückzug des Strafantrags nur bis zum Eintritt der Rechtskraft des Strafbefehls zulässig.
 
Sachverhalt


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A.- Elvira Nötzli-Thoma entwendete im Mai 1965 ihrem damaligen Hausmeister Rudolf Aeschbach in Staffelbach ungefähr einen halben Ster Brennholz. Auf Strafantrag Aeschbachs und Antrag der Staatsanwaltschaft wurde sie durch Strafbefehl des Bezirksamtes Zofingen vom 5. Oktober 1965 zu einer Busse von Fr. 80.- verurteilt. Sie erhob Einsprache, worauf die Akten dem Bezirksgericht Zofingen überwiesen wurden. In der Hauptverhandlung vom 19. November 1965 zog Aeschbach den Strafantrag zurück. Das Bezirksgericht stellte deshalb das Verfahren ein.
B.- Gegen den Einstellungsbeschluss legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein mit dem Antrag auf Bestrafung der Angeschuldigten.
Mit Urteil vom 19. August 1966 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Berufung ab.
C.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und Rückweisung der Sache zur Bestrafung der Angeschuldigten.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
a) In der bisherigen Rechtsprechung (BGE 78 IV 151, BGE 81 IV 15 und 83) ist entschieden worden, Urteil im Sinne dieser Bestimmung sei jeder Entscheid der zuständigen Behörde, der verbindlich darüber erkennt, ob der Beschuldigte sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat, und der gegebenenfalls die Rechtsfolgen bestimmt, die diese Handlung nach sich zieht. Nicht nötig sei eine vorherige mündliche Verhandlung, an welcher der Berechtigte Gelegenheit haben müsse, den Strafantrag zurückzuziehen. Die Bestimmung wolle das Markten zwischen Täter und Verletztem um den Rückzug des Strafantrags ausschliessen, nachdem der Staat über die Rechtsfolgen der Tat entschieden habe. Sie stelle denn auch auf die Verkündung des Urteils ab, durch welche die Parteien erführen, wie es um die Sache stehe. Auch ein Entscheid, der nur unter der Voraussetzung Recht schaffe, dass er nicht angefochten werde, könne Urteil sein. Indem Art. 31 Abs. 1 StGB von einem Urteil erster Instanz spreche, sei er gerade

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für jene Fälle aufgestellt worden, in denen das Verfahren vor einer oberen Instanz weitergehe. Er verlange deshalb nicht, dass das Urteil in der ersten Instanz der letzte, endgültige Entscheid sei.
b) Soweit sie auf Strafbefehle angewendet wurde, kann diese Rechtsprechung, die im übrigen in dieser Hmsicht von verschiedenen kantonalen Gerichten nicht befolgt wird und in der Literatur auf Kritik gestossen ist, nicht ohne Einschränkung aufrecht erhalten werden.
Die schon in BGE 69 I 73 und BGE 74 IV 15 vertretene Auffassung, dass der unangefochten in Rechtskraft erwachsene Strafbefehl ein Urteil sei, ist zwar nach wie vor begründet; denn in diesem Fall steht der Strafbefehl in jeder Hinsicht einem richterlichen Urteil gleich. Hingegen kann das für den noch nicht rechtskräftigen Strafbefehl nicht gelten. Die bisher befolgte gegenteilige Rechtsprechung verkennt die Natur des Strafbefehlsverfahrens. Dieses ursprünglich von der Praxis für die rationellere Bewältigung der wachsenden Zahl leichterer Delikte entwickelte summarische Verfahren ist, jedenfalls begriffsmässig, ein Verfahren ohne Hauptverhandlung. Die zum Erlass des Strafbefehls zuständige Behörde setzt darin die Strafe auf Grund des im Vorverfahren durch die untersuchende Behörde zusammengetragenen Beweismaterials fest. Diese summarische Beurteilung von Tat und Täter steht unter dem Vorbehalt, dass der Angeschuldigte sich dem Urteilsspruch unterzieht. Will er das nicht, so kann er, nach dem Strafbefehlsverfahren, die Durchführung des ordentlichen Strafverfahrens, beginnend mit der Hauptverhandlung vor der ersten Instanz, verlangen. Das Strafbefehlsverfahren ist also selbst nicht ein Verfahren erster Instanz, sondern ein diesem vorgelagertes besonderes Verfahren zur vereinfachten Erledigung bestimmter Straffälle. Führt es zum Ziel, dann entfällt das erstinstanzliche Verfahren, und der rechtskräftig gewordene Strafbefehl tritt an die Stelle des erstinstanzlichen Urteils; das ganze Verfahren ist beendet und die Sache abgeurteilt, ein Rückzug des Strafantrags ist deshalb nicht mehr zulässig. Wird jedoch der Strafbefehl angefochten, so findet das ordentliche Verfahren vor der ersten Instanz statt, als ob ein Strafbefehlsverfahren gar nicht bestünde.
Vielfach erhält der Geschädigte im Strafbefehlsverfahren weder Gelegenheit mitzuwirken noch Akteneinsicht zu nehmen;

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manchmal wird ihm auch nicht der Strafbefehl eröffnet. Bei auf Antrag verfolgten Delikten ist der Geschädigte normalerweise Antragsteller. Als solcher hat er nach Art. 31 Abs. 1 StGB das Recht, seinen Strafantrag zurückzuziehen. Über den Rückzug kann er aber vernünftigerweise nur entscheiden, wenn er die gesamte Sachlage kennt. Er erhält indessen nicht schon im Strafbefehlsverfahren, sondern erst im ordentlichen Verfahren Kenntnis von den Beweggründen des Täters, seinen persönlichen Verhältnissen, seiner Einstellung zur Tat und zu der Schadenersatzforderung. Im Strafbefehlsverfahren ist er somit noch nicht in der Lage, sich mit dem Täter über eine vergleichsweise Erledigung der Sache zu verständigen und sich über den Rückzug des Strafantrages schlüssig zu machen. Gelegenheit, unter voller Würdigung von Tat und Täter über den Rückzug des Strafantrags zu entscheiden, erhält der Verletzte vielmehr erst im ordentlichen Verfahren vor erster Instanz. Deshalb soll er auch noch in diesem Verfahren seinen Antrag zurückziehen können, solange das Urteil nicht verkündet ist.
c) Die Gesetzesmaterialien zeigen, dass diese Auslegung, die dem Wortlaut des Art. 31 Abs. 1 StGB entspricht, auch mit den Absichten des Gesetzgebers übereinstimmt. Vom Anfang der Vorarbeiten an wurde stets vom ordentlichen Gerichtsverfahren, nicht vom Strafbefehlsverfahren ausgegangen. Das wurde im Vorentwurf 1916 (Art. 32 Abs. 1), der mit dem bundesrätlichen Entwurf 1918 (Art. 30 Abs. 1) wörtlich übereinstimmt, ausdrücklich gesagt, indem der Rückzug des Strafantrags zugelassen wurde, "solange das Urteil des Gerichts erster Instanz noch nicht verkündet ist". Diese Formulierung wurde vorher nie ausdrücklich verwendet oder diskutiert und muss von der Redaktionskommission der Zweiten Expertenkommission, welche das Ergebnis der Kommissionsberatungen nachträglich noch abänderte (Vorbemerkung von Bundesrat Müller zum Vorentwurf 1916 S. IV) eingefügt worden sein. Diese Verdeutlichung wäre wohl nicht vorgenommen worden, wenn nicht zuvor ausschliesslich vom Gerichtsverfahren die Rede gewesen wäre. Der Nationalrat übernahm die Formulierung (StenBull Sonderausgabe NR S. 97 f.). Der Ständerat liess sie jedoch ohne diesbezügliche Diskussion fallen, wahrscheinlich aus stilistischen Gründen; denn er wollte den Rückzug zulassen, "solange das Dispositiv des Urteils erster Instanz

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noch nicht eröffnet ist" (StenBull StR S. 65). Mit der Formulierung "solange das Urteil erster Instanz noch nicht verkündet ist", welcher der Ständerat zustimmte, griff der Nationalrat aber wieder auf die Vorentwürfe 1893 und 1894 (Art. 2 Abs. 4 bzw. Abs. 5: "vor dem Urteil erster Instanz") und den Vorentwurf 1908 (Art. 24 Ziff. 2 Abs. 1: "solange das Urteil der ersten Instanz noch nicht verkündet worden ist") zurück (StenBull NR 619 f., StR S. 308). In beiden Räten war auf jeden Fall ausdrücklich vom Gerichtsverfahren die Rede.
Dass ausschliesslich das ordentliche Gerichtsverfahren in Frage stand, zeigen auch die Abänderungsanträge. Diese bezogen sich alle auf das Problem, bis zu welchem prozessualen Zeitpunkt der Rückzug des Strafantrags zulässig sein sollte, und gingen, entsprechend den sehr unterschiedlichen kantonalen Gesetzgebungen (HAFTER, Lehrbuch des schweiz. Strafrechts 2. Aufl. S. 140 f.) weit auseinander. Der Vorschlag Correvon, der Rückzug müsse nur bis vor Beginn der Hauptverhandlung erfolgen können, wurde auf Antrag Gautiers abgelehnt. Dieser führte aus: "Le projet tient compte, avec raison, du cas où le lésé retirera sa plainte en toute connaissance de cause, éclairé qu'il aura été par les débats" (Prot. 1. ExpK I S. 28 f.). Der Nationalrat wollte den letzten Termin für den Rückzug von der Verkündung auf die Fällung des Urteils vorverlegen, was vom Ständerat abgelehnt wurde, weil ein deutlicher, nach aussen erkennbarer Zeitpunkt erforderlich sei (StenBull a.a.O.). Anscheinend aus ähnlichen Überlegungen wurde die Anregung Bolli, auf den Schluss der Parteiverhandlungen abzustellen, nicht weiter verfolgt (Prot.Komm. StR, 19. Februar 1929, S. 20). Ein Antrag Thormann, umgekehrt den Rückzug noch bis zur Verkündung des Urteils der zweiten Instanz zuzulassen, wurde verworfen, weil ein Spielen des Privaten mit den Gerichtsorganen verhindert werden müsse, zumal die Antragsdelikte vielfach zur Sicherung pekuniärer Vorteile benützt würden (Prot. 2. ExpK I S. 172-179). Die Möglichkeit einer missbräuchlichen Ausbeutung des Antragsrechts wurde jedoch "angesichts der Vorteile der Lösung" des Art. 31 Abs. 1 StGB bewusst in Kauf genommen (StenBull NR S. 98, Berichterstattung Seiler).
d) Als neues, wesentliches Moment kommt nun zudem noch die Revision des Art. 268 Ziff. 1 BStP durch das Bundesgesetz

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vom 25. Juni 1965 (AS 1965 S. 905) hinzu, die am 1. Januar 1966 in Kraft trat. Durch diese Gesetzesänderung will vermieden werden, dass Urteile, in denen untere Gerichte (z.B. Bezirksgerichte, deren Ausschüsse und Einzelrichter) als erste und, zufolge Ausschlusses eines ordentlichen kantonalen Rechtsmittels, zugleich als letzte Instanz entschieden haben, direkt an den Kassationshof des Bundesgerichts weitergezogen werden können (Botschaft, BBl 1964 II S. 891; StenBull 1965, NR S. 284 f.). Durch den neu aufgenommenen Satz 2 wird nunmehr die Nichtigkeitsbeschwerde gegen Urteile unterer Gerichte ausgeschlossen, wenn diese als einzige kantonale Instanz geurteilt haben. Der Nichtigkeitsbeschwerde unterliegen somit Urteile unterer Gerichte nur noch, soweit diese als zweite kantonale Instanz geurteilt haben.
Dieser Zweck der Revision würde weitgehend vereitelt, wenn der nicht rechtskräftige Strafbefehl als Urteil erster Instanz gälte. Das untere Gericht im ordentlichen Verfahren wäre nämlich im Falle einer Einsprache gegen den Strafbefehl bereits zweite Instanz, und seine Urteile könnten deshalb mit der Nichtigkeitsbeschwerde beim eidg. Kassationshof angefochten werden. Auch wegen dieser der ratio von Art. 268 Ziff. 1 BStP zuwiderlaufenden Konsequenzen muss die bisherige Praxis aufgegeben werden.
Zusammenfassend kann also im Fall der Anfechtung des Strafbefehls der Strafantrag noch bis zur Verkündung des Urteils der ersten Instanz im ordentlichen Verfahren zurückgezogen werden. Im Falle der Nichtanfechtung eines Strafbefehls ist hingegen ein Rückzug des Strafantrages nur bis zum Eintritt seiner Rechtskraft zulässig.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.