BGE 94 IV 111
 
30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 22. November 1968 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden gegen X.
 
Regeste
Art. 181 und 285 Ziff. 1 StGB. Nötigung.
2. Der Anwalt handelt rechts- und sittenwidrig, wenn er eine Drittperson, die dazu nicht verpflichtet ist, zu zwingen versucht, ihm aussergerichtlich zu einem Beweis zu verhelfen (Erw. 2 a).
3. Auch kündigt er ihr mit der Drohung, sie im Weigerungsfalle als Ehebrecherin in ein Scheidungsverfahren einzubeziehen, ernstliche Nachteile an, mag die Drohung inhaltlich wahr sein oder nicht (Erw. 2 b).
4. Art. 181 StGB verlangt für den Fall, dass bereits das Mittel missbräuchlich ist, keine weitergehende rechtswidrige Absicht (Erw. 2 c).
5. Der Angeschuldigte, der dem Untersuchungsrichter bloss mit einer Beschwerde droht, falls dieser das Verfahren gegen ihn nicht innert einer bestimmten Frist einstelle, erfüllt den Tatbestand des Art. 285 Ziff. 1 StGB nicht (Erw. 3).
 
Sachverhalt


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A.- Rechtsanwalt Dr. X hatte Frau H, die ihren Mann ehewidriger Beziehungen verdächtigte und sich scheiden lassen

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wollte, 1966 vor Gericht zu vertreten. Um dem Prozessgegner solche Beziehungen nachweisen zu können, liess Dr. X ihn durch seine Sekretärin und deren Mann überwachen. Diese berichteten dem Anwalt, dass H am 1. Oktober 1966 kurz nach 19 Uhr, als er von Zürich nach Chur zurückkehrte, am Bahnhof von Frau Z empfangen worden sei, ihr eine Rose überreicht und sich dann mit ihr in ihre Wohnung begeben habe. Dort seien beide bald in der Küche, bald im Wohn- oder Badezimmer gesehen worden, die Frau in einem hellen Morgenrock, der Mann ohne Kittel. H habe die Wohnung auch um Mitternacht, als das Licht gelöscht worden sei, nicht verlassen.
Gestützt auf diesen Bericht liess Dr. X am 11. Oktober 1966 Frau Z auf sein Büro kommen. Er wusste, dass sie sich als Fürsorgerin des städtischen Sozialamtes mit den Eheleuten H zu befassen hatte, und fragte sie einleitend unter anderem, was sie von deren Ehe halte, ob sie H beeinflussen könne und ob dieser mit einer andern Frau gehe. Dann sagte er ihr plötzlich auf den Kopf zu, mit H Ehebruch begangen zu haben. Frau Z bestritt dies energisch und hielt dem Anwalt insbesondere entgegen, dass H ihre Wohnung am 1. Oktober spätestens um 23.30 Uhr verlassen habe. Dr. X schenkte ihr jedoch keinen Glauben, sondern forderte sie auf, bei H dahin zu wirken, dass er den Ehebruch mit einer Frau, deren Namen er nicht zu nennen brauche, bis zum 20. Oktober zugebe; auf diese Weise könne sie als Ehefrau und Amtsperson geschont und aus dem Verfahren herausgehalten werden. Andernfalls werde er dem Gericht die erforderlichen Beweisanträge stellen, damit sie als Ehebrecherin ins Scheidungsverfahren einbezogen werde.
Frau Z kam der Aufforderung nicht nach, sondern meldete den Vorfall der Staatsanwaltschaft, die den Anwalt wegen Nötigung in Untersuchung ziehen liess. Am 8. Mai 1967 schrieb Dr. X dem Untersuchungsrichter:
"In der gegen mich mutwillig geführten Untersuchungssache betr. Nötigungsversuch fordere ich Sie hiermit auf, bis spätestens Ende laufenden Monats eine Einstellungsverfügung zu erlassen. Ich verbinde mit dieser Aufforderung die Androhung der Erhebung einer Beschwerde."
Der Untersuchungsrichter stellte das Verfahren nicht ein, worauf der Angeschuldigte gegen ihn Beschwerde erhob, die von den Aufsichtsbehörden abgewiesen wurde.


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B.- Dr. X wurde wegen seines Verhaltens Frau Z und dem Untersuchungsrichter gegenüber des wiederholten vollendeten Nötigungsversuches angeklagt und dem Strafrichter zur Aburteilung überwiesen.
Der Kreisgerichtsausschuss Chur und auf Berufung hin am 8. Juli 1968 auch der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden sprachen ihn frei.
Im Verhalten des Angeklagten gegenüber Frau Z ist nach der Auffassung des Kantonsgerichtsausschusses vor allem deshalb kein Nötigungsversuch zu erblicken, weil Dr. X zur Zeit der Drohung von der Richtigkeit des "Detektivberichtes" überzeugt gewesen sei; er habe daher nicht annehmen können, mit dem Begehren an Frau Z mehr zu erreichen als mit den angedrohten Beweisanträgen. Wenn er sich aber als Folge der Drohung keinen rechtswidrigen Vorteil habe versprechen können, so fehle es insoweit am Vorsatz. Das Vorgehen des Angeklagten könne zudem weder als missbräuchlich noch als sittenwidrig bezeichnet werden.
C.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des Angeschuldigten im Sinne der Anklage an die Vorinstanz zurückzuweisen.
D.- Der Angeklagte hält die Beschwerde für unbegründet.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Wie der Kassationshof bereits in BGE 69 IV 172 entschieden hat, ist Nötigung als Vergehen gegen die Willensfreiheit nur strafbar, wenn sie rechtswidrig ist oder gegen die guten Sitten verstösst. Wer einen erlaubten Zweck mit an sich erlaubten Mitteln verfolgt und dabei auf die Willensbildung des andern nicht weiter einwirkt, als zur Erreichung des Zweckes erforderlich ist, macht sich daher selbst dann nicht strafbar, wenn er ihn mit den in der Strafbestimmung erwähnten Zwangsmitteln veranlasst, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden. Wegen Nötigung bestraft wird hingegen, wer mit rechts- oder sittenwidrigen Mitteln oder zu einem unerlaubten Zweck auf das

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freie Selbstbestimmungsrecht eines andern einwirkt. Das gilt grundsätzlich auch für die Nötigung zu einer Amtshandlung im Sinne von Art. 285 StGB.
a) Dieses Vorgehen gegen Frau Z war rechts- und sittenwidrig. Gewiss ist in der Regel nichts dagegen einzuwenden, dass ein Anwalt sich mit Personen unterhält, die er dem Scheidungsrichter als Zeugen nennen will, sofern er sie nicht dahin zu beeinflussen sucht, falsche oder unvollständige Angaben zu machen. Wenn er nicht weiss, ob oder worüber sie Auskunft geben können, ist er je nach den Umständen sogar verpflichtet, sich vorgängig danach zu erkundigen, da er sonst Gefahr liefe, Personen als Zeugen anzurufen, die zur Sache überhaupt nichts aussagen können. Es versteht sich ferner von selbst, dass der Anwalt in einem Scheidungsverfahren eine Drittperson als Zeuge anführen darf, wenn er ernsthafte Anhaltspunkte dafür hat (vgl. BGE 86 IV 176), sie habe mit der Gegenpartei ehewidrige Beziehungen unterhalten oder gar Ehebruch begangen. Auch hat der als Zeuge Aufgerufene nicht nur vor dem Richter zu erscheinen, sondern muss aussagen, sofern er sich nicht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen kann. Nach der Zivilprozessordnung des Kantons Graubünden verhält es sich nicht anders (vgl. insbes. Art. 96, 196 und 201).
Dem Angeklagten ging es am 11. Oktober 1966 jedoch nicht um solche Erkundigungen, noch wählte er den gesetzlichen und angemessenen Weg. Er versuchte Frau Z vielmehr aussergerichtlich zu einer Beweissicherung zugunsten seiner Klientin zu verhalten, wozu sie aber nicht verpflichtet war, folglich auch nicht gezwungen werden durfte. Es war daher rechtswidrig und missbräuchlich, sie mit der Drohung zu bedrängen, im Scheidungsverfahren der Eheleute H eine Blossstellung wegen Ehebruchs zu gewärtigen, wenn sie H bis zum 20. Oktober nicht zu

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einem Zugeständnis veranlasse. Das gilt umsomehr, als sie energisch bestritt, mit H irgendwelche unerlaubten Beziehungen unterhalten zu haben, und er deshalb keineswegs mit Sicherheit einen für seine Klientin günstigen Ausgang des Beweisverfahrens erwarten konnte; die schweren Verdächtigungen, die er gegen Frau Z erhob, erwiesen sich denn auch als unbegründet.
Ob Frau Z mit H tatsächlich oder zumindest nach dem, was der Angeklagte sich gestützt auf den "Detektivbericht" vorgestellt hat, unerlaubte Beziehungen unterhalten habe, ist für die Anwendung des Art. 181 StGB, wie die Staatsanwaltschaft mit Recht einwendet, unerheblich. Rechtswidrig und strafbar war das Verlangen des Angeklagten schon, weil es im Sinne der Rechtsprechung (BGE 69 IV 172) den guten Sitten widersprach, Frau Z mit dem vom Angeklagten angewandten Mittel unter Druck zu setzen, damit sie ihm aussergerichtlich zu einem wichtigen Beweis verhelfe. Auch dass sie im Scheidungsverfahren als Zeugin angerufen werden durfte, auf Vorladung hin als solche vor Gericht erscheinen und, unter Vorbehalt eines allfälligen Zeugnisverweigerungsrechtes, auch aussagen musste, machte die Drohung nicht zur erlaubten. Das berechtigte den Angeklagten nicht, ihr ausserhalb des Verfahrens Hilfe abzunötigen, zumal es dabei nach seinen eigenen Vorstellungen um Beziehungen ging, über die sie als Zeuge nicht Auskunft zu geben brauchte (Art. 196 Ziff. 2 ZPO). Ob es zulässig war, von H mit Hilfe der Genötigten ein Zugeständnis zu erwirken, das Vorgehen des Angeklagten also auch dem Zwecke nach gegen die Rechtsordnung oder die guten Sitten verstiess, kann bei diesem Ergebnis dahingestellt bleiben.
b) In der Ankündigung des Angeklagten, Frau Z als Ehebrecherin ins Scheidungsverfahren einzubeziehen, falls sie es nicht vorziehe, sich aussergerichtlich für ihn zu verwenden, lag eine Androhung ernstlicher Nachteile. Dass er weder wörtlich noch sinngemäss beigefügt haben will, die ganze Schmutzsache komme dann ans Tageslicht, hilft darüber nicht hinweg. Was er ihr androhte, konnte Frau Z auch sonst als äusserst nachteilig empfinden. Ebensowenig ändert an der Ernstlichkeit der angedrohten Nachteile, dass sie nicht nur in ihrer Auseinandersetzung mit dem Angeklagten, sondern auch später, namentlich als Zeuge, ehewidrige Beziehungen mit H energisch in Abrede gestellt hat. Selbst wenn der Angeklagte sie zu Unrecht solcher Beziehungen bezichtigte, Frau Z einem bleibenden Verdacht aber begegnen wollte, so musste sie im Falle der Verwirklichung

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der Drohung dem Richter Red und Antwort stehen, sich insbesondere gegen die schwerwiegende Anschuldigung des Ehebruchs zur Wehr setzen. Ihr Ruf und Fortkommen als Ehefrau und Fürsorgerin musste darunter zumindest vorübergehend, bis zum Abschluss des Beweisverfahrens, wenn nicht sogar darüber hinaus erheblich leiden. Diese Nachteile waren unbekümmert um den negativen Ausgang, den das Beweisverfahren im Scheidungsprozess der Eheleute H genommen hat, bedeutend genug, um als ernstlich im Sinne des Art. 181 StGB zu gelten.
c) Der Angeklagte wandte damit, dass er Frau Z unter Drohung aufforderte, sich aussergerichtlich für ihn zu verwenden, mit Wissen und Willen ein Druckmittel an, um sie zum begehrten Verhalten zu veranlassen. Er hat daher vorsätzlich gehandelt. Eine weitergehende rechtswidrige Absicht verlangt Art. 181 StGB für den Fall, dass bereits das Mittel oder Vorgehen missbräuchlich ist, nicht. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kommt diesfalls nichts darauf an, ob der Angeklagte mit dem Begehren an Frau Z mehr habe erreichen wollen, als mit den angedrohten Beweisanträgen. Das stand schon der Bejahung des objektiven Tatbestandes nicht im Wege, ist folglich auch subjektiv nicht von Bedeutung (vgl. BGE 94 IV 39 Erw. a). Der Angeklagte brauchte keinen unrechtmässigen Vorteil bezweckt zu haben; es genügt, dass er Frau Z auf missbräuchlichem Wege Hilfe abnötigen wollte, obschon er sich nicht nur dessen, sondern auch der Eignung des angewandten Druckmittels bewusst sein musste. Dass das aber der Fall war, kann angesichts der Bildung und des Berufes des Angeklagten nicht zweifelhaft sein.
Fragen kann sich nur, ob dem Angeklagten Rechtsirrtum zugute komme, weil er, wie der Kantonsgerichtsausschuss feststellt, von der Richtigkeit des "Detektivberichtes" und dessen Beweiskraft für das Scheidungsverfahren überzeugt war. Falls die Vorinstanz mit ihren Ausführungen zum Vorsatz die Frage bejahen wollte, so könnte ihr darin ebenfalls nicht beigepflichtet werden. Als Anwalt musste der Angeklagte wissen, dass Frau Z nicht verpflichtet war, ihm ausserhalb des Verfahrens zu Beweisen zu verhelfen. Er hätte sich folglich auch sagen sollen, dass es rechtswidrig und missbräuchlich war, sie mit Drohungen zu bedrängen, um ihr gleichwohl Hilfe abzunötigen. Unter diesen Umständen kann von zureichenden Gründen im Sinne des Art. 20 StGB nicht die Rede sein.
d) Das angefochtene Urteil, das auf der Annahme beruht,

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Dr. X habe sich durch sein Vorgehen gegen Frau Z keines Nötigungsversuches schuldig gemacht, ist daher aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des Angeklagten an die Vorinstanz zurückzuweisen.
3. Dagegen hat der Kantonsgerichtsausschuss im Schreiben des Angeklagten vom 8. Mai 1967 an den Untersuchungsrichter zu Recht keinen solchen Versuch erblickt. In diesem Falle erschöpfte sich die Androhung des Angeklagten darin, sich über den Untersuchungsrichter zu beschweren, wenn dieser das angeblich mutwillige Strafverfahren nicht bis spätestens Ende Monat einstelle. Eine solche Ankündigung mag wegen der ultimativen Forderung, die der Angeklagte damit verband, aussergewöhnlich sein, erscheint für sich allein aber weder dem Mittel noch dem Zwecke nach als unerlaubt. Da der Angeschuldigte sich zu Unrecht verfolgt glaubte und gemäss Art. 137 StPO gegen willkürliche oder unangemessene Amtshandlungen von Untersuchungsorganen Beschwerde führen durfte, handelte er auch nicht missbräuchlich, wenn er dem Untersuchungsrichter eine Beschwerde in Aussicht stellte. Gegen missbräuchliche Beschwerden ist übrigens schon mit Ordnungsstrafen aufzukommen; Sanktionen des gemeinen Strafrechts rechtfertigen sich deswegen nicht. Würde anders entschieden, so wären die Rechte eines Angeschuldigten, wie die Vorinstanz zutreffend bemerkt, in einer Weise beschnitten, die sich mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vertrüge.
Anders verhielte es sich, wenn der Angeklagte dem Untersuchungsrichter z.B. mit Angriffen in der Presse, mit Vorstössen bei einflussreichen Personen oder unzuständigen Stellen gedroht hätte, um sich für angeblich erlittenes Unrecht zu rächen, den Bedrohten als Beamten untragbar zu machen oder als Privatmann zu verunglimpfen. Dass es dem Angeklagten um solche Mittel oder Zwecke gegangen wäre, ist den Akten jedoch nicht zu entnehmen und wird auch von keiner Seite behauptet. Sein Schreiben vom 8. Mai kam einem blossen Aufbegehren näher als einer ernstzunehmenden Drohung im Sinne von Art. 285 StGB, taugte seiner Natur nach folglich auch nicht dazu, einen Untersuchungsrichter zu beeindrucken und in seiner Handlungsfreiheit ernstlich zu beeinträchtigen. Der Freispruch von der Anklage, Dr. X habe sich dem Untersuchungsrichter gegenüber des vollendeten Nötigungsversuches schuldig gemacht, ist daher nicht zu beanstanden.


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Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen, das angefochtene Urteil mit Bezug auf den Freispruch von der Anklage versuchter Nötigung gegenüber Frau Z aufgehoben und die Sache zur Bestrafung des Angeklagten an die Vorinstanz zurückgewiesen.