BGE 95 IV 37
 
10. Entscheid der Anklagekammer vom 22. April 1969 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen Staatsanwaltschaften der Kantone Zürich und Solothurn.
 
Regeste
1. Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Wegen einer Tat verfolgt ist der Beschuldigte nur bis zur Beurteilung (Erw. 1).
 
Sachverhalt


BGE 95 IV 37 (38):

A.- Rolf Holzer, geb. 1948, wurde 1967 im Kanton Solothurn wegen Raubversuches in Untersuchung gezogen. Das Schwurgericht des Kantons Solothurn verurteilte ihn am 4. März 1969 zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von sieben Monaten.
Holzer soll zudem am 25. Mai 1968 in Zufikon (Kanton Aargau) einen Lastwagen zum Gebrauche entwendet und ihn in dieser Ortschaft ohne Führerausweis auf öffentlicher Strasse geführt haben. Die diesbezügliche Strafuntersuchung wurde vom Bezirksamt Bremgarten am 2. September 1968 abgeschlossen, worauf die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau die Akten am 6. Januar 1969 dem Bezirksgericht Bremgarten überwies mit dem Antrag, Holzer gemäss Art. 10 Abs. 2, 94 Ziff. 1 und 95 Ziff. 2 SVG in Verbindung mit Art. 100 und 65 StGB mit 10 Tagen Haft und Fr. 60.- Busse zu bestrafen.
Holzer wurde ferner zusammen mit Roman Bänziger am 27. Dezember 1968 von der aargauischen Kantonspolizei wegen einfacher Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 1 StGB), Sachbeschädigung (Art. 145 StGB), Drohung (Art. 180 StGB), Hausfriedensbruchs (Art. 186 StGB) und fahrlässiger Störung des Eisenbahnverkehrs (Art. 238 Abs. 2 StGB) angezeigt. Er soll diese Vergehen gemeinsam mit Bänziger am 25./26. Dezember 1968 auf der SBB-Station Muri (Kanton Aargau) begangen haben.
Gegen Bänziger war bei der Bezirksanwaltschaft Hinwil (Kanton Zürich) bereits ein Strafverfahren wegen Betruges hängig.
B.- Mit Rücksicht auf das letzterwähnte Strafverfahren erklärte sich die Bezirksanwaltschaft Hinwil am 24. Januar 1969 gegenüber dem Bezirksamt Muri bereit, Bänziger auch wegen der in Muri begangenen Vergehen zu verfolgen. Dagegen lehnte sie es mit Brief vom 20. März 1969 an die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau ab, auch das Verfahren gegen Holzer zu übernehmen. Sie vertrat die Auffassung, Art. 349 Abs. 2 StGB gelte nur, wenn die Mittäter an verschiedenen Orten gehandelt haben, was im vorliegenden Falle nicht zutreffe. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich schloss sich mit Schreiben vom

BGE 95 IV 37 (39):

3. April 1969 an die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau der Auffassung der Bezirksanwaltschaft Hinwil an.
Anderseits lehnte mit Schreiben vom 29. Januar 1969 an das Bezirksamt Muri auch die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn es ab, Holzer wegen der in Muri verübten Vergehen verfolgen und beurteilen zu lassen. Sie machte geltend, das solothurnische Verfahren gegen Holzer wegen Raubversuches sei schon beim Obergericht hängig und die Hauptverhandlung, die immer wieder habe ausgesetzt werden müssen, vertrage keine weitere Verschiebung.
C.- Mit Gesuch vom 15./16. April 1969 beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau der Anklagekammer des Bundesgerichtes, den Gerichtsstand für die Verfolgung Holzers zu bestimmen. Sie macht geltend, an sich wäre das Verfahren gegen Holzer von den solothurnischen Behörden zu übernehmen, doch stelle sich ernstlich die Frage, ob Holzer und Bänziger für die in Muri gemeinsam begangenen Taten nicht an ein und demselben Orte, nämlich im Kanton Zürich, verfolgt werden sollten. Art. 349 Abs. 2 StGB wolle zweifellos nicht sagen, Mittäter seien nur dann gemeinsam zu beurteilen, wenn sie an verschiedenen Orten gehandelt haben. Für die gemeinsame Beurteilung im Kanton Zürich spreche auch der Umstand, dass sich die wesentlichen Akten in Hinwil befänden, so dass Holzer ausserhalb des Kantons Zürich zur Zeit gar nicht vernünftig beurteilt werden könnte. Die Akten wegen der in Zufikon verübten SVG-Vergehen sodann seien mit den Akten wegen der Vergehen von Muri vereinigt worden, bevor das Bezirksgericht Bremgarten den Fall an die Hand genommen habe. Es sei wohl zweckmässig, diese beiden Verfahren zu vereinigen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich hält den Gerichtsstand Zürich nicht für gegeben. Sie beantragt, die Behörden des Kantons Solothurn oder jene des Kantons Aargau zur Verfolgung Holzers zu verpflichten.
 
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
Diese Bestimmung hätte allenfalls verlangt, dass Holzer für

BGE 95 IV 37 (40):

die im Kanton Aargau verübten strafbaren Handlungen im Kanton Solothurn verfolgt werde, da ihm dort eine mit schwererer Strafe bedrohte Tat, ein Raubversuch, vorgeworfen wurde. Heute stellt sich indessen die Frage, ob die Behörden des Kantons Solothurn zuständig gewesen wären, nicht mehr, da Holzer in diesem Kanton bereits beurteilt worden ist, also dort nicht mehr verfolgt wird (vgl.BGE 70 IV 93).
2. Wenn an einer Tat mehrere als Mittäter beteiligt sind, müssen sie gemäss Art. 349 Abs. 2 StGB durch die Behörden des Ortes verfolgt werden, wo die Untersuchung zuerst angehoben wurde. Diese Bestimmung wurde für Mittäter erlassen, die nicht alle am gleichen Orte handelten (BGE 70 IV 88f.,BGE 72 IV 194). Ihr Grundgedanke geht aber dahin, dass Mittäter grundsätzlich nicht an verschiedenen Orten verfolgt und beurteilt werden sollen. Wenn sie die Tat am gleichen Orte ausgeführt haben, ergibt sich die Einheit des Gerichtsstandes in der Regel schon aus Art. 346 Abs. 1 StGB. Ist einer der Mittäter ausserhalb des Ausführungsortes zu verfolgen, weil er anderwärts strafbare Handlungen begangen hat, die mit schwererer Strafe bedroht sind als die in Mittäterschaft verübten, so ist die Einheit des Gerichtsstandes für die Mittäter womöglich ebenfalls zu wahren (BGE 72 IV 194), d.h. alle sind grundsätzlich ausserhalb des Ausführungsortes zu verfolgen, nämlich dort, wo der eine von ihnen die mit schwererer Strafe bedrohte Handlung begangen hat. Abweichungen sind im einzelnen Falle aus Gründen der Zweckmässigkeit zulässig, sei es, dass gemäss Art. 262 BStP die Einheit des Gerichtsstandes für die Mittäter geopfert wird, sei es, dass die Behörden sie wahren, aber in Anwendung des Art. 263 BStP die Zuständigkeit anders bestimmen, als Art. 350 Ziff. 1 StGB es verlangen würde.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich macht keine

BGE 95 IV 37 (41):

Gründe geltend, die es ausnahmsweise rechtfertigen würden, den Gerichtsstand für die beiden Mittäter zu trennen. Sie geht - zu Unrecht - lediglich davon aus, die Trennung bilde die Regel, weil Art. 349 Abs. 2 StGB die Einheit des Gerichtsstandes nur bei Verschiedenheit der Ausführungsorte verlange. Es ist denn auch nicht zu ersehen, welche besonderen Umstände nahe legen würden, Holzer der aargauischen Gerichtsbarkeit zu unterstellen, während Bänziger im Kanton Zürich beurteilt wird. Dadurch würde die Abstimmung des einen Urteils auf das andere erschwert. Auch müssten die Behörden des Kantons Aargau mit der Beurteilung zuwarten, bis die Behörden des Kantons Zürich gegen Bänziger geurteilt hätten und ihnen die Akten zur Verfügung stellen würden.
Fragen kann sich höchstens, ob der aargauische Gerichtsstand wenigstens für die von Holzer begangene Entwendung eines Motorfahrzeuges zum Gebrauch und für das Führen ohne Führerausweis beizubehalten sei. Das sind jedoch verhältnismässig unbedeutende Vergehen, deren Mitverfolgung und Mitbeurteilung den Behörden des Kantons Zürich ohne weiteres zugemutet werden kann. Es wäre nicht zu verstehen, wenn sich Holzer, nachdem bereits im Kanton Solothurn ein Urteil gegen ihn gefällt wurde, sich für die noch nicht beurteilten Vergehen in zwei weiteren Kantonen verantworten müsste. Das widerspräche dem Grundgedanken des Art. 350 Ziff. 1 StGB. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich bringt denn auch keinerlei Gründe vor, die eine Abtrennung des Verfahrens wegen der beiden Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz zu rechtfertigen vermöchten.
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Die Behörden des Kantons Zürich werden zuständig erklärt, Rolf Holzer für die im Kanton Aargau ausgeführten strabfaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.