97 IV 242
Urteilskopf
97 IV 242
46. Urteil des Kassationshofes vom 23. September 1971 i.S. Gisi gegen Mack und Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
Regeste
1. Allgemeine Vorsichtspflicht von Fahrzeugführern gegenüber Fussgängern; Vertrauensgrundsatz (Erw. 1).
2. Beim Kreuzen mit einem in der Gegenrichtung haltenden Omnibus trifft den Fahrzeugführer eine erhöhte Sorgfaltspflicht; dieser muss sich nach den Umständen auf die Fahrbahn betretende Fussgänger einstellen und seine Geschwindigkeit entsprechend herabsetzen (Erw. 2).
A.- Gisi fuhr am 2. Mai 1969 um 18.35 Uhr mit seinem Personenwagen von Baden herkommend auf der Allmendstrasse gegen die Baldegg. Vor dem Haus Nr. 47 hatte an dem für Gisi linken Fahrbahnrand in entgegengesetzter Fahrtrichtung ein Postautobus gehalten. Als Gisi, der mit einer unverminderten Geschwindigkeit von 50 km/h fuhr, in dessen Nähe gelangt war, rollte der Omnibus wieder an. In diesem Augenblick lief der damals 7 Jahre alte Alain Mack hinter der Rückwand des Postautobusses hervor, um die Fahrbahn Richtung Widenweg zu überqueren. Gisi bremste sofort. Dennoch erfasste er das Kind mit der Vorderseite seines Wagens. Alain Mack wurde beim Zusammenstoss nach vorn geschleudert und erheblich verletzt.
Bei der polizeilichen Tatbestandsaufnahme stellte sich heraus, dass die hintern Reifen von Gisis Personenwagen abgefahren waren.
B.- Mit Urteil vom 29. Oktober 1970 sprach das Bezirksgericht Baden Gisi von der Anklage der fahrlässigen schweren Körperverletzung frei; dagegen verurteilte es ihn wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges in Anwendung von Art. 93 Ziff. 2 SVG zu einer Busse von Fr. 50.-.
C.- Auf Berufung der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau sprach das Obergericht dieses Kantons Gisi am 28. April 1971 der fahrlässigen schweren Körperverletzung gemäss Art. 125 Abs. 2 StGB und des Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 150.--. Die Probezeit setzte es auf ein Jahr fest. In den Urteilserwägungen wurde festgehalten, dass die abgefahrenen Reifen für den Unfall nicht kausal waren.
D.- Gisi führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung von der Anklage der fahrlässigen schweren Körperverletzung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Im angefochtenen Entscheid wird ausgeführt, dass der Fahrzeugführer der allgemein zu beobachtenden Unbesonnenheit von Personen, die aus einem öffentlichen Verkehrsmittel aussteigen, durch seine Fahrweise, vor allem durch entsprechende Herabsetzung seiner Geschwindigkeit, Rechnung zu tragen habe. Er sei regelmässig verpflichtet, seine Fahrweise darauf einzustellen, dass hinter einem haltenden öffentlichen Verkehrsmittel hervor Fussgänger unachtsam die Fahrbahn zu überqueren suchten.
Diese Begründung beruht auf der Erwägung, dass die beschriebene Sorgfaltspflicht des Fahrzeugführers nicht nur beim Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für das Fehlverhalten anderer Strassenbenützer, sondern ganz allgemein zu fordern sei.
Bei der Entscheidung der Frage, welche Sorgfalt der Fahrzeugführer bei der Vorbeifahrt an einem an der gegenüberliegenden Fahrbahnseite in Gegenrichtung haltenden oder eben anfahrenden Omnibus zu beobachten hat, ist davon auszugehen, dass der Verkehr sich nur noch dann abwickeln lässt, wenn ihm ein gewisses Mass an Zügigkeit gestattet ist. Diese
BGE 97 IV 242 S. 244
wäre aber in Frage gestellt, wenn sich der Fahrzeugführer regelmässig auf jede denkbare Gefahr, die das verkehrswidrige Verhalten anderer Strassenbenützer hervorruft, so einzustellen hätte, dass er sie bannen kann. Nach der Grundregel von Art. 26 SVG kann ein Verkehrsteilnehmer, der sich verkehrsgemäss verhält, sofern nicht besondere Umstände dagegen sprechen, damit rechnen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr nicht durch pflichtwidriges Verhalten gefährdet. Grundsätzlich gilt dieses Vertrauensprinzip auch für die Vorsicht, die Fahrzeugführer gegenüber Fussgängern anzuwenden haben. Im allgemeinen und ohne besonderen Anlass braucht ein Fahrzeugführer also, wenn es sich nicht um erkennbar verkehrsungewandte Personen, insbesondere um Kinder oder alte Menschen handelt, mit sinnlosem oder unerwartet verkehrswidrigem Benehmen nicht zu rechnen. Nur dann, wenn konkrete Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein anderer auf der Strasse nicht richtig verhalten wird (Art. 26 Abs. 2 SVG), ist der Führer verpflichtet, sich darauf einzurichten. Solche Anzeichen können sich aus einem sichtbaren Verhalten eines andern Strassenbenützers, aber auch aus der Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage ergeben, die nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rückt (VON WERRA, Du principe de la confiance dans le droit de la circulation routière, Zeitschrift für Walliser Rechtsprechung, 1970, S. 204).
2. Gemäss Art. 33 Abs. 3 SVG hat der Fahrzeugführer auf Personen Rücksicht zu nehmen, die an den Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel ein- und aussteigen. Diese besondere Sorgfaltspflicht erklärt sich nicht schon aus der abstrakten Möglichkeit, dass hinter einem haltenden oder eben anfahrenden öffentlichen Verkehrsmittel, insbesondere einem Linienomnibus, Fussgänger auf die Fahrbahn treten, sondern vielmehr aus der Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins solcher Personen. Damit ist freilich noch nicht gesagt, es sei zu befürchten, dass diese Fussgänger sich verkehrswidrig verhalten würden. Indessen pflegen Fussgänger, insbesondere ausgestiegene Fahrgäste des Omnibusses, sowohl vor als auch hinter diesem häufig eilig auf die Fahrbahn zu treten (BADERTSCHER/SCHLEGEL, SVG S. 92), um nach beiden Richtungen freie Sicht zu gewinnen. Da nach der Lebenserfahrung dieses Hinaustreten oft nicht mit der gebotenen Vorsicht erfolgt, indem Fussgänger
BGE 97 IV 242 S. 245
einige Schritte weiter nach vorne treten, als es zur Erreichung eines freien Überblickes auf die Fahrbahn erforderlich wäre, muss der Fahrzeugführer, der an einem in der Gegenrichtung haltenden Omnibus vorbeifährt, sich darauf einstellen und seine Geschwindigkeit so herabsetzen, dass er notfalls noch rechtzeitig anhalten kann. Anders ist es nur, wenn die Breite der Strasse es ihm erlaubt, in derart weitem Abstand den haltenden Bus zu kreuzen, dass mit einer unmittelbaren Gefahr nicht zu rechnen ist.
3. An Hand dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob die vom Obergericht festgestellte Verkehrslage den Angeklagten zu besonders vorsichtiger Annäherung an den haltenden Postautobus nötigte.
Welchen Abstand Gisi vom eben anrollenden Omnibus einhielt, ist nicht ausdrücklich festgestellt. Aus den von der Kantonspolizei aufgenommenen Photographien sowie aus dem Unfallplan geht jedoch hervor, dass der Beschwerdeführer wegen der geringen Breite der Fahrbahn derart nahe am Postautobus vorbeifahren musste, dass er einen Zusammenstoss mit einem Fussgänger, der hinter dem öffentlichen Verkehrsmittel soweit hervortrat, dass er ausreichende Sicht hatte, nicht hätte vermeiden können. Nach dem in Erwägung 2 Ausgeführten hatte sich Gisi deshalb darauf einzustellen, dass Fussgänger unvorsichtig etwas zu weit hinter dem Postautobus hervor auf die Fahrbahn heraustreten könnten. Es bestand die Gefahr eines Zusammenstosses mit solchen Fussgängern infolge des ungenügenden seitlichen Abstandes zum öffentlichen Verkehrsmittel. Unter diesen Umständen aber war die vom Obergericht verbindlich festgestellte Geschwindigkeit Gisis von 50 km/h übersetzt. Dieser hat daher die in Art. 33 Abs. 3 SVG vorgesehene besondere Vorsichtspflicht verletzt.
4. Das Obergericht stellt verbindlich fest (BGE 95 IV 142 Erw. 2 a), dass die natürliche Ursache der Körperverletzung des Kindes die zu hohe Geschwindigkeit Gisis war.
Zwischen dessen pflichtwidrigem Verhalten und dem eingetretenen Unfall besteht auch ein rechtserheblicher Kausalzusammenhang. Hätte Gisi seine Geschwindigkeit auf Anhaltemöglichkeit herabgesetzt, wäre der Knabe Alain Mack nicht angefahren und verletzt worden. Die Rechtserheblichkeit des Kausalzusammenhanges würde nur fehlen, wenn das Verhalten des Knaben völlig ausserhalb des normalen Geschehens gelegen
BGE 97 IV 242 S. 246
hätte. Davon kann keine Rede sein. Mit der Möglichkeit, dass aus dem nicht einsehbaren Raum hinter dem Postautobus Kinder oder verkehrsungewandte Personen unachtsam auf die Strasse treten könnten, war angesichts des ungenügenden seitlichen Abstandes vom Omnibus zu rechnen. Gisi ist daher zu Recht der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig befunden worden.Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
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