Urteilskopf
98 IV 153
29. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. Juni 1972 i.S. Staatsanwaltschaft für das Oberwallis gegen Scheuber.
Regeste
Art. 11 StGB.
1. Prüfungsbefugnis des Kassationshofes (Erw. 3).
2. Wann beeinträchtigt Psychopathie die geistige Gesundheit? (Erw. 3 a).
3. Bedeutung des Affektes (Erw. 3 b).
Aus den Erwägungen:
3. Der Staatsanwalt ficht das Urteil des Kantonsgerichts auch insoweit an, als es dem Beschwerdegegner bezüglich des Mordes eine leichte Verminderung der Zurechnungsfähigkeit gemäss Art. 11 StGB zubilligt.
Im Rahmen des Art. 11 hat der Kassationshof auf Nichtigkeitsbeschwerde hin nicht zu prüfen, ob der vom kantonalen Richter ermittelte Sachverhalt in den Akten eine genügende Grundlage hat, sondern er hat lediglich zu entscheiden, ob die festgestellten Tatsachen rechtlich richtig gewürdigt wurden, im vorliegenden Fall also, ob der biologisch-psychologische Zustand, in dem der Beschwerdegegner nach der Meinung des Kantonsgerichts den Mord begangen hat, die rechtlichen Merkmale der verminderten Zurechnungsfähigkeit aufweist (BGE 81 IV 8).
a) Zunächst bestreitet der Beschwerdeführer, dass die bei Scheuber festgestellte Psychopathie eine Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit bewirkt habe, wie das die Vorinstanz aufgrund
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des Gutachtens des Dr. Zolliker von der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen angenommen hat. Er wendet ein, Psychopathien bestünden in abnormen Veranlagungen der Triebstruktur, des Temperamentes oder des Charakters und seien deshalb in erster Linie als charakterliche oder moralische Defekte zu behandeln. Für seinen schlechten Charakter habe der Täter einzustehen. Die meisten Schwerverbrecher seien Psychopathen, viele von ihnen aber gleichwohl voll zurechnungsfähig. Das gelte insbesondere von den willensschwachen, geltungssüchtigen und hysterischen Psychopathen. Anders verhalte es sich in der Regel mit den Pseudologen, zu denen der Beschwerdegegner offensichtlich gehöre. Indessen habe sich seine pseudologische Veranlagung beim Mord nicht ausgewirkt.Soweit der Beschwerdeführer den pseudologischen Persönlichkeitszug des Beschwerdegegners in den Vordergrund rückt und dessen Psychopathie einzig in dieser Form berücksichtigt, geht er unzulässigerweise über die auf das erwähnte Gutachten gestützte Feststellung der Vorinstanz hinweg, wonach Scheuber ein schwerer schizoid-hysterischer Psychopath ist. Dabei handelt es sich nicht um eine rechtliche Würdigung, sondern um die Feststellung eines inneren Sachverhalts, also um eine Tatfrage. Zu prüfen bleibt deshalb bloss, ob die Vorinstanz in dieser Psychopathie mit Recht eine Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit Scheubers im Sinne des Art. 11 StGB erblickt hat. Auszugehen ist davon, dass Psychopathie in der Sprache der Psychiater nichts anderes bedeutet als vom Durchschnitt abweichende Persönlichkeitsveranlagung und dass deshalb nicht jede derartige Anlage das auch im rechtlichen Sinne Abnorme erreicht (DUKOR, Die Zurechnungsfähigkeit der Psychopathen, ZStR 1951, S. 423/424; Derselbe, Die kriminellen Psychopathen. Referat Kriminalistisches Institut des Kantons Zürich, Wintersemester 1966/67, S. 9 und 30 ff.). Entsprechend hat der Kassationshof entschieden, dass Schlechtigkeit und Gewissenlosigkeit einen Menschen in den Augen des Psychiaters als Psychopathen, als willensschwache, gemütsarme (moralisch defekte) Person erscheinen lassen mögen, dass sie aber nicht eine Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit im Sinne des Art. 11 StGB darstellen (BGE 77 IV 215 /216). Neben den banalen Typen krimineller Psychopathen, aus denen sich die Mehrheit der Rechtsbrecher zusammensetzt und die regelmässig voll zurechnungsfähig sind, gibt es indessen Psychopathen,
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deren Geistesverfassung nach Art und Grad so stark vom Durchschnitt nicht nur der Rechts-, sondern auch der Verbrechensgenossen abweicht, dass ihre Träger als nicht verantwortlich erscheinen (DUKOR, ZStR 1951, S. 428 unten und Referat S. 31/32).Nach dem Expertenbericht Dr. Zollikers durfte die Vorinstanz annehmen, dass die Persönlichkeitsveranlagung des Beschwerdegegners in so erheblichem Masse von der Norm abweicht, dass von einer Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit gesprochen werden kann. Der Gutachter hat bei Scheuber nicht bloss eine hysterische Psychopathie banalen Charakters festgestellt, sondern ihn als schweren schizoid-hysterischen Psychopathen bezeichnet und damit zum Ausdruck gebracht, dass der Angeklagte bei psychobiologischer Betrachtungsweise in hohem Grade in den Bereich des Abnormen fällt. Geht man von dieser Würdigung aus, die vom Kantonsgericht übernommen wurde und deshalb den Kassationshof bindet, dann kann jener hohe Grad der Abnormität als erreicht gelten, der nach Art. 11 StGB zur Annahme einer Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit erforderlich st.
b) Der Staatsanwalt macht weiter geltend, der Experte habe seinen Befund, wonach Scheuber wegen der Psychopathie in seiner geistigen Gesundheit beeinträchtigt gewesen sei, unter den Vorbehalt gestellt, dass es sich bei dem Mord um ein Affektverbrechen gehandelt habe. Ein solches liege jedoch nicht vor.
Soweit der Staatsanwalt damit bestreitet, dass Scheuber den Mord im Affekt begangen habe, ist er nicht zu hören. Die gegenteilige Feststellung des Kantonsgerichtes, wonach es sich beim Mord an Julia Imboden um ein Affektverbrechen handelte, ist tatsächlicher und nicht rechtlicher Natur. Denn anders als z.B. bei den Art. 33 Abs. 2, 64 Abs. 4 oder 113 StGB bildet hier die intensive und heftige Gefühlsregung, als die man den Affekt zu umschreiben pflegt (WALDER, Der Affekt und seine Behandlung im schweiz. Strafrecht, ZStR 1965, S. 28), nicht Teil des gesetzlichen Tatbestandes, sondern des der rechtlichen Würdigung unterliegenden inneren Sachverhalts.
Dagegen wird in der Beschwerde mit Recht darauf hingewiesen, dass der Sachverständige in der Begründung seines Gutachtens die Beeinträchtigung Scheubers in seiner geistigen Gesundheit unter dem Vorbehalt angenommen hat, dass es sich
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beim Mord um eine Affekttat handelte. Das Kantonsgericht hat jedoch in seinem Entscheid - und einzig auf die darin enthaltenen Feststellungen kommt es an - diesen Vorbehalt nicht übernommen. Vielmehr hat die Vorinstanz auf die Zusammenfassung des Untersuchungsergebnisses abgestellt, in der Dr. Zolliker erklärte: "Dagegen halten wir dafür, dass Scheuber als ein schwerer schizoid-hysterischer Psychopath zu gelten hat, der im Sinne des Gesetzes in seiner geistigen Gesundheit beeinträchtigt ist und deshalb für ein Affektverbrechen als leicht vermindert zurechnungsfähig gelten muss." Nach dieser für den Kassationshof allein massgebenden Feststellung ist der Affekt nicht eine Voraussetzung der Beeinträchtigung Scheubers in der geistigen Gesundheit, sondern ein zusätzlicher Faktor, sodass das vorinstanzliche Urteil vor Art. 11 StGB Bestand hat.