BGE 99 IV 6
 
2. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. Februar 1973 i.S. Borer gegen Generalprokurator des Kantons Bern.
 
Regeste
Art. 141 StGB. Unterschlagung.
 
Sachverhalt


BGE 99 IV 6 (6):

A.- Im Juni 1970 will Schärer, Inhaber eines Haar-Ateliers in Sumiswald/BE erfahren haben, dass sich die Gebrüder Josef und Reinhard Borer, Coiffeurgeschäft in Laufen/BE, für den Kauf von Perücken und Haarteilen interessieren. Schärer stellte deshalb eine Auswahlsendung Perücken zusammen, die er per Post den Gebrüdern Borer zukommen liess. Irrtümlicherweise wurde das Paket jedoch mit "Gebrüder Rohrer" anstatt "Gebrüder Borer" angeschrieben. Als Schärer nach geraumer Zeit keine Bestätigung des Eingangs dieses Pakets erhielt, sandte er an dieselbe Adresse eine Mahnung. Diese kam jedoch mit dem Vermerk "Adresse unbekannt" zurück. Im August will Frau Schärer sodann telefonisch mit dem Coiffeurgeschäft Borer in Laufen Kontakt aufgenommen haben; dabei soll einer der Herren Borer erklärt haben, ein Paket mit Perücken sei bei ihnen nie eingetroffen. Bei einer von der Polizei im Beisein von Frau Schärer durchgeführten Haussuchung im Geschäft Borer bezeichnete diese aus einer Anzahl von 72 Perücken deren drei als aus ihrem Geschäft stammend. Die Gebrüder Borer bestritten nach wie vor, die fragliche Sendung je erhalten zu haben. Sie verneinten auch, die Firma Schärer in Sumiswald überhaupt zu kennen und dieserje einen Auftrag erteilt zu haben. Hingegen gaben sie zu, von Frau Schärer der fraglichen Sendung wegen einen Telefonanruf erhalten zu haben.
B.- Der Gerichtspräsident von Laufen verurteilte am 8. Juni 1972 Josef Borer wegen Veruntreuung zu einem Monat

BGE 99 IV 6 (7):

Gefängnis, bedingt erlassen auf eine Probezeit von zwei Jahren.
Am 1. September 1972 verurteilte das Obergericht des Kantons Bern Josef Borer wegen Unterschlagung im Sinne von Art. 141 StGB zu 14 Tagen Gefängnis, gewährte den bedingten Strafvollzug und setzte die Probezeit auf zwei Jahre fest.
C.- Borer führt Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht mit dem Antrag auf Freisprechung von Schuld und Strafe.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
2. Die Beschwerde macht hinsichtlich der Unterschlagung einen Unterschied zwischen dem Fall, wo eine fremde, bewegliche Sache dem Täter durch Naturgewalt, Zufall oder Irrtum ohne den Willen des Berechtigten zugekommen ist, und demjenigen, wo dies mit dem Willen des Berechtigten geschehen ist. In diesem Falle wolle der Berechtigte nämlich ausdrücklich, dass die fremde, bewegliche Sache in den Gewahrsam des Empfängers komme. Art. 141 StGB erfasse aber jene Tatbestände nicht, in denen der Wille des Berechtigten darauf gerichtet ist, sich seines Eigentums zu entäussern. Im vorliegenden Falle habe Schärer gewünscht, dass sich der Empfänger die Perücken aneigne und darüber verfüge. Daraus erhelle, dass der objektive Tatbestand von Art. 141 StGB nicht gegeben und der Schuldspruch zu Unrecht erfolgt sei.
In der Tat sind Fälle denkbar, wo eine fremde, bewegliche Sache dem Empfänger mit oder ohne Willen des Berechtigten zugekommen ist. Der Unterschied spielt für die Anwendbarkeit des Art. 141 StGB indes keine Rolle. Denn diese Bestimmung stellt bloss auf den Willen des Empfängers ab, sich die ihm zugekommene fremde, bewegliche Sache in Bereicherungsabsicht anzugeignen oder nicht. Ob sie diesem dabei mit oder ohne den Willen des Berechtigten zugekommen sei, ist bedeutungslos. Einerseits zählt Art. 141 Abs. 2 StGB eine Reihe von Fällen auf, wo die Sache dem Empfänger durch Naturgewalt, Irrtum oder Zufall, also offensichtlich ohne den Willen des Berechtigten, zugekommen ist. Anderseits ergänzt das Gesetz diese Aufzählung mit der weiteren Möglichkeit, dass die Sache dem Empfänger "sonst ohne seinen Willen" zugekommen ist. Das kann nichts anderes heissen, als dass die fremde, bewegliche Sache dem Empfänger auch mit dem Willen des Berechtigten, aber jedenfalls ohne den Willen des Empfängers zugekommen

BGE 99 IV 6 (8):

sein kann. Die Auffassung des Beschwerdeführers, wonach Art. 141 StGB lediglich solche Fälle erfasst, in denen die fremde, bewegliche Sache dem Empfänger ohne den Willen des Berechtigten zugekommen ist, findet demnach im Gesetz keine Stütze.
Die Frage, ob die in Bereicherungsabsicht erfolgte Aneignung einer dem Empfänger zugekommenen fremden, beweglichen Sache unter Art. 141 StGB falle oder nicht, entscheidet sich mithin einzig danach, ob dies mit oder ohne den Willen des Empfängers geschehen sei (SCHWANDER, das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., S. 338 Nr. 548 a Ziff. 3). Dieses Kriterium unterscheidet die Unterschlagung im Sinne von Art. 141 StGB von der Veruntreuung nach Art. 140 StGB, die stets ein Vertrauensverhältnis zwischen Berechtigtem und Empfänger und deshalb voraussetzt, dass die fremde, bewegliche Sache diesem auch mit seinem Willen (zu einem bestimmten Verwendungszweck) anvertraut worden sei (BGE 94 IV 139 lit. b, SCHWANDER, a.a.O., S. 337 Nr. 546 a, Ziff. 1 und 2). In der Lehre wird dementsprechend die in Bereicherungsabsicht erfolgte Aneignung einer fremden, beweglichen Sache, welche dem Empfänger ohne dessen Willen zugekommen ist (beispielsweise Warensendungen, die unerbeten zur Ansicht zugestellt werden) als Unterschlagung im Sinne von Art. 141 StGB betrachtet (HAFTER, bes. Teil Band I S. 234, THORMANN/VON OVERBECK, N. 3 zu Art. 140 StGB, SCHWANDER, a.a.O., S. 338 Nr. 548 a Ziff. 3, LOGOZ, N. 2 A a zu Art. 140 StGB, S. 127).
Sind demnach die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des Art. 141 StGB erfüllt, so ist der Schuldspruch der Vorinstanz zu Recht erfolgt.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.