101 IV 72
Urteilskopf
101 IV 72
19. Urteil des Kassationshofes vom 31. Januar 1975 i.S. Schumacher gegen Generalprokurator des Kantons Bern.
Regeste
1. Begriff des Überholens (Erw. 1a).
2. Der "nötige Raum" (Erw. 1b u. c).
3. Frage der Fahrlässigkeit (Erw. 1d).
4. Pflicht zu besonderer Rücksichtnahme auf die übrigen Strassenbenützer (Erw. 2).
A.- Am 24. Juni 1973, um 10.45 Uhr führte Peter Schumacher seinen Personenwagen auf der 6,70 m breiten Hauptstrasse Biel-Bern von Lyss in Richtung Bundkofen. Auf der dieser Ortschaft vorgelagerten geraden Strecke setzte er zum Überholen des mit 85 km/h in gleicher Richtung fahrenden Guido Walther an. Als sich beide Fahrzeuge ungefähr auf gleicher Höhe befanden, kollidierte Schumacher mit dem von Ernst Nyffenegger von links aus einem Stopsack herausgeführten Wagen. Sein Fahrzeug wurde dadurch nach rechts abgetrieben und stiess gegen den linken hinteren Kotflügel des von Walther gelenkten Autos. Dieser konnte weiter vorne, ohne von Schumacher vollständig überholt worden zu sein, anhalten, während das Fahrzeug des letzteren ungefähr 62 m nach der Unfallstelle ausserhalb der Fahrbahn zum Stillstand kam.
B.- Der Gerichtspräsident von Aarberg sprach am 13. März 1974 Schumacher von der Anklage des Fahrens mit übersetzter Geschwindigkeit und der ungenügenden Rücksichtnahme beim Überholen frei.
Das Obergericht des Kantons Bern fand ihn dagegen am 11. Juni 1974 des unvorsichtigen Überholens ( Art. 35 Abs. 2 und 3 SVG ) schuldig und verurteilte ihn zu einer vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 80.--.
C.- Schumacher führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 35 Abs. 2 SVG ist ein Überholen oder Vorbeifahren an Hindernissen nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird.
a) Im Sinne der Rechtsprechung überholt, wer in der Absicht,
BGE 101 IV 72 S. 74
einem andern vorzufahren, auf die neben diesem verlaufende Fahrbahn ausbiegt und ihn einzuholen beginnt, d.h. sich dem zu Überholenden so weit nähert, dass er, wenn er mit genügendem Abstand hinter diesem wieder nach rechts einbiegen wollte, seine Fahrt verzögern müsste (BGE 89 IV 148 f.). Nach der verbindlichen Feststellung des Obergerichts ist der Beschwerdeführer mit ungefähr 105 km/h bis auf die Höhe des zu überholenden Fahrzeugs vorgestossen. Er hat also im Sinne des Gesetzes überholt. Dass das Manöver in der Folge nicht zu Ende geführt wurde, ist für die hier zu entscheidende Frage, ob Schumacher Art. 35 Abs. 2 SVG beachtet habe oder nicht, ohne Belang.b) Der vom Gesetz als übersichtlich und frei geforderte "nötige Raum" ist unter einem doppelten Gesichtspunkt zu verstehen, nämlich im Sinne einer genügenden Breite wie auch einer genügenden Länge der Überholspur. Die Frage, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, hängt nicht bloss von der tatsächlichen Anlage der Strasse, der Grösse der Fahrzeuge und ihrer Geschwindigkeit ab, sondern kann ebensosehr durch die Signalisation und die Markierung der Fahrbahn bedingt sein (BUSSY/RUSCONI, CS/CR annoté, N. 2.4, 2.8 und 2.9 zu Art. 35). Wo nämlich eine an sich zum Überholen genügend breite Strasse mit einer Sicherheitslinie versehen ist, darf der Führer in ihrem Bereich nur vorfahren, wenn es noch rechts von dieser Linie mit der gebotenen Rücksicht auf den andern möglich ist. Ebenso kann die Länge der Überholstrecke durch eine solche Markierung begrenzt sein, indem ein Überholmanöver vor Beginn dieser Linie abgeschlossen sein muss, wenn der Raum danach zum Überholen in der genannten Weise nicht mehr ausreicht. Nicht anders verhält es sich bei der Signalisation einer Höchstgeschwindigkeit, die wesentlich tiefer liegt als die Geschwindigkeit, mit welcher der Führer zuvor fahren durfte und zur Durchführung eines Überholmanövers auch fahren musste. Da nämlich beim Wiedereinbiegen nicht so stark verlangsamt werden darf, dass dadurch der zu Überholende behindert oder gefährdet wird (BGE 94 IV 64, BGE 99 IV 280 und 100 IV 80), muss das Überholmanöver unter solchen Umständen im wesentlichen vor dem Signal abgeschlossen sein, es sei denn, der Überholte fahre erheblich langsamer, als mit der signalisierten Höchstgeschwindigkeit. Hier wird der "nötige Raum" durch das Verbotssignal mitbestimmt.
BGE 101 IV 72 S. 75
c) Im vorliegenden Fall steht nach dem angefochtenen Urteil fest, dass der Beschwerdeführer zum Überholen des von Walther gelenkten, mit 85 km/h fahrenden Wagens bei einer Eigengeschwindigkeit von 105 km/h einen Überholweg von 515 m benötigte. Im Zeitpunkt der Kollision mit Nyffenegger sei ungefähr die Hälfte der Überholstrecke zurückgelegt gewesen, so dass Schumacher zur Beendigung des Manövers noch 257 m gebraucht hätte. Indessen sei bereits nach ungefähr 165 m die Geschwindigkeit auf 70 km/h beschränkt gewesen. Um diese beachten zu können, hätte er durch brüskes Bremsen die Fahrt verzögern müssen, was zu einer Gefährdung Walthers geführt hätte.
Geht man von diesem verbindlich festgestellten Sachverhalt aus, so steht ausser Frage, dass Schumacher nicht der erforderliche Raum zur Verfügung stand und dass sein Manöver demnach objektiv unzulässig war.
d) Damit ist indessen die Schuldfrage noch nicht entschieden, denn Fahrlässigkeit fällt dem Beschwerdeführer nur zu Last, sofern er bei gebotener Sorgfalt hätte erkennen können, dass die Strecke bis zur Signaltafel Nr. 216 zum gefahrlosen Überholen nicht ausreichen würde. Das ist anzunehmen, wenn er diese Tafel beim Ausbiegen nach links oder zumindest beim Einholen des von Walther gelenkten Fahrzeugs wahrnehmen konnte. Dass diese Voraussetzung zutraf, ergibt sich aus den bei den Akten liegenden Photographien. Aus ihnen wird ersichtlich, dass das Signal schon vor der Stelle, an welcher der Beschwerdeführer mit Nyffenegger kollidierte, gesehen werden konnte. Wenn auch die darauf verzeichneten Zahlen möglicherweise nicht schon aus einer solchen Entfernung klar erkennbar waren, so stellten doch die rote Umrandung der runden Tafel, die auf ein Verbotssignal hinwies (Art. 14 Abs. 1 SSV), und die unmittelbar dahinter im Blickfeld erscheinende Häusergruppe unmissverständliche Anzeichen dafür dar, dass es sich um eine Höchstgeschwindigkeitstafel am Eingang einer Ortschaft handelte (Art. 20 Abs. 2 VRV), vor der er sein bisheriges Tempo von 105 km/h stark hätte drosseln müssen. Ausserdem bleibt zu beachten, dass sich das Überholmanöver bis in den Bereich einer unübersichtlichen Linkskurve (vor dem Restaurant "Brücke") ausgedehnt hätte und deshalb pflichtwidrig war. Diese Umstände hätten Schumacher umso eher bewusst werden sollen, als er nach seinen eigenen Angaben
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vor erster Instanz die betreffende Strecke ungefähr einmal monatlich befährt, ihm diese also nicht völlig fremd war. Da er trotzdem auf der Durchsetzung seines Manövers beharrte, ist er vom Obergericht mit Recht der Übertretung von Art. 35 Abs. 2 SVG schuldig gesprochen worden.
2. Die Vorinstanz hat dem Beschwerdeführer auch eine Missachtung von Art. 35 Abs. 3 SVG vorgeworfen. Nach dieser Bestimmung muss, wer überholt, auf die übrigen Strassenbenützer, namentlich auf jene, die er überholen will, besonders Rücksicht nehmen. Das Obergericht begründet den Schuldspruch in diesem Punkt einzig mit der Erwägung, wer unter derartigen Umständen und bei solchen Witterungsverhältnissen, wie sie damals herrschten, überhole, habe die ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt. Mit dem Hinweis auf die "derartigen Umstände)) kann nach dem Zusammenhang der vorinstanzlichen Ausführungen nur die Tatsache der ungenügend langen Überholstrecke gemeint sein. Da Schumacher jedoch das Überholmanöver nicht beendet hatte, sondern bloss auf die Höhe des Fahrzeuges Walther vorgestossen war, wurde dieser an sich noch nicht behindert oder gefährdet. Der seitliche Zusammenstoss war nicht die adäquate Folge des Überholens, sondern die unmittelbare Wirkung des Zusammenstosses mit Nyffenegger. Dass der Beschwerdeführer seitlich keinen zureichenden Abstand gewahrt habe, nimmt die Vorinstanz selber nicht an. Was aber die Witterungsverhältnisse anbelangt, so steht einzig fest, dass es im Zeitpunkt des Unfalles regnete. Dass die Strasse derart nass gewesen sei, dass durch das Überholen des Beschwerdeführers starke Gischt gegen den Überholten versprüht und dieser dadurch in der Fahrt behindert worden wäre (Art. 34 Abs. 3 VRV; siehe auch BGE 99 IV 226), ist nicht festgestellt. Es liegt deshalb nichts vor, was den Vorwurf eines Verstosses gegen Art. 35 Abs. 3 SVG rechtfertigen könnte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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