29. Urteil des Kassationshofes vom 11. Februar 1976 i.S. Polizeiamt Winterthur gegen Kaufmann
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Regeste
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Art. 53 Abs. 5 SSV, Art. 36 Abs. 2 SVG.
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Sachverhalt
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BGE 102 IV 116 (116):
A.- Am 8. August 1974, um 14.10 Uhr, fuhr der PTT-Beamte Viktor Kaufmann am Steuer eines Personenwagens in Winterthur aus der Neuwiesenstrasse rechts in die als Hauptstrasse signalisierte Zürcherstrasse ein, um auf dieser seine Fahrt stadtauswärts fortzusetzen. Die Zürcherstrasse beschreibt an der Stelle, wo rechts zunächst in spitzem Winkel die Neuwiesenstrasse und anschliessend in stumpfem Winkel die Anton-Graffstrasse einmünden, eine Linksbiegung und weitet sich platzartig aus. Ihr rechter Rand ist auf dieser Verzweigungsfläche mit einer Begrenzungslinie markiert. Auf der Neuwiesenstrasse ist anderseits vor der trichterförmigen Ausweitung das Signal Nr. 116 (kein Vortritt) aufgestellt, während die Anton-Graffstrasse als Stopstrasse signalisiert und markiert ist.
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Als Kaufmann aus der Neuwiesenstrasse herausfuhr, näherte sich auf der Zürcherstrasse von links Ernst Rösli, der in die Anton-Graffstrasse abbiegen wollte. Kaufmann versperrte ihm dabei, bevor er die Begrenzungslinie erreicht hatte, die Fahrbahn. Um einen Zusammenstoss zu vermeiden, bremste Rösli so stark, dass die auf dem Dach seines Wagens mitgeführte Warenladung auf die Strasse rutschte.
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B.- Mit Strafverfügung vom 18. Juni 1975 büsste das Polizeiamt der Stadt Winterthur Kaufmann wegen Übertretung BGE 102 IV 116 (117):
von Art. 27 Abs. 1 und 36 Abs. 2 SVG sowie Art. 65 Abs. 1 SSV mit Fr. 50.--.
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Kaufmann verlangte gerichtliche Beurteilung.
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Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Winterthur sprach Kaufmann am 24. September 1975 frei. Eine gegen dieses Urteil vom Polizeiamt eingereichte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Obergericht des Kantons Zürich am 25. November 1975 abgewiesen.
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C.- Das Polizeiamt der Stadt Winterthur führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Abweisungsbeschluss des Obergerichtes sei aufzuheben und Kaufmann im Sinne der Strafverfügung vom 18. Juni 1975 zu bestrafen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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2. Nach ständiger Rechtsprechung steht beim Zusammentreffen einer Hauptstrasse mit Nebenstrassen der Vortritt dem Berechtigten auf der ganzen Fläche zu, auf der sich die Strassen überschneiden. Diese Kreuzungs- oder Einmündungsfläche wird normalerweise durch die Randlinie der Fahrbahn des Vortrittsberechtigten begrenzt. Wo sich das Einmündungsgebiet trichterförmig ausweitet, verläuft die Randlinie von dem Punkt, wo sich die vortrittsberechtigte Strasse auszuweiten beginnt, und endet an der Stelle, wo sie mit der Randlinie der einmündenden Nebenstrasse zusammentrifft (BGE 100 IV 97, BGE 98 IV 116, BGE 85 IV 87). Im vorliegenden Fall ist die Randlinie, die das Verzweigungsgebiet zwischen der Zürcherstrasse und der Neuwiesenstrasse abgrenzt, in der unten wiedergegebenen Planskizze eingezeichnet. Da sie mit der am Boden markierten Begrenzungslinie nicht zusammenfällt, stellt sich die Frage nach der rechtlichen Bedeutung dieser besonderen Markierung im Verhältnis zur Randlinie.
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BGE 102 IV 116 (118):
(Skizze nicht wiedergegeben)
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BGE 102 IV 116 (119):
4. Aus der erwähnten Zweckbestimmung der Begrenzungslinie folgt, dass der auf der Zürcherstrasse heranfahrende Rösli jenseits der Begrenzungslinie nicht mehr vortrittsberechtigt war und Kaufmann nach der Regel des Rechtsvortritts aus der Neuwiesenstrasse bis zur Begrenzungslinie der Hauptstrasse vorstossen durfte.
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Demgegenüber halten die Einwände des Polizeiamtes nicht stand. Das vor der Einmündung der Neuwiesenstrasse angebrachte Signal "Kein Vortritt" könnte zwar, wenn es für sich allein stünde, zu Zweifeln Anlass geben. Es wird indessen im Sinne des Art. 65 Abs. 4 SSV ergänzt durch die Tafel "Richtung der Hauptstrasse" (Nr. 381), wodurch darauf hingewiesen wird, dass sich das Signal Nr. 116 (kein Vortritt) ausschliesslich auf die als Hauptstrasse signalisierte Zürcherstrasse bezieht, deren Verlauf durch die Begrenzungslinie markiert wird.
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Auch kann von einem Widerspruch des angefochtenen Urteils mit Art. 15 Abs. 1 VRV nicht die Rede sein. Das Polizeiamt übersieht, dass diese Bestimmung ausdrücklich nur den Fall regelt, wo der Fahrzeugführer auf der Hauptstrasse nach links in eine Nebenstrasse fährt; hier ist jedoch der vortrittsberechtigte Führer von der Hauptstrasse in eine Nebenstrasse nach rechts gefahren.
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Inwiefern aber der Entscheid des Obergerichtes mit dem Vertrauensprinzip unvereinbar sein sollte, ist nicht ersichtlich. Wohl orientiert sich der auf der Hauptstrasse verkehrende Führer nach den Signalen, was aber nicht heisst, dass er die Markierungen ausser acht lassen darf. Er hat diese vielmehr neben den Signaltafeln zu beachten. Wo indessen eine Markierung aus irgendeinem Grund nicht mehr wahrgenommen werden kann - was hier übrigens nicht zutraf -, da darf er auf die sichtbare Verkehrsregelung abstellen, davon ausgehend, dass die anderen Strassenbenützer sich ebenfalls nur nach dieser richten (BGE 100 IV 74).
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Schliesslich lässt sich zugunsten der Beschwerde auch daraus nichts ableiten, dass die Anton-Graffstrasse mit einem Stop versehen wurde, um zu verhindern, dass in Stosszeiten aus dieser Strasse Fahrzeuge bis zur Begrenzungslinie vorstossen und den Verkehr blockieren. Implicite anerkennt damit das Polizeiamt vielmehr selber, dass ohne Signalisation und Markierung des Stops der Verkehr aus der Anton-Graffstrasse BGE 102 IV 116 (120):
bis an die Begrenzungslinie heranfahren dürfte. Dann aber darf dies auch der Verkehr auf der Neuwiesenstrasse tun, die keine Stopstrasse ist.
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Die Rechtslage ist somit eindeutig. Die gewählte Verkehrsordnung und deren Signalisierung sind jedoch so kompliziert, dass insbesondere ein nicht ortskundiger Fahrer bei starkem Verkehr überfordert sein dürfte. Es fragt sich, ob der Verkehrssicherheit mit einer einfacheren und darum sofort erfassbaren Ordnung nicht besser gedient wäre.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
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