106 IV 101
Urteilskopf
106 IV 101
34. Urteil des Kassationshofes vom 6. Juni 1980 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Die Beendigung einer ungeeigneten Massnahme durch die Vollzugsbehörde hat nicht zur Folge, dass der Richter bei der Bestimmung des weitern Schicksals des Betroffenen infolge einer formellen Bindung an den Entscheid der Vollzugsbehörde eine gleichartige Massnahme nicht mehr in Erwägung ziehen dürfte.
A.- a) Das Bezirksgericht Zürich verurteilte S. am 31. August 1977 wegen versuchter und vollendeter Nötigung zu einer unzüchtigen Handlung, fortgesetzter Unzucht mit Kindern, wiederholter Freiheitsberaubung sowie fortgesetzten versuchten und vollendeten Diebstahls zu zwei Jahren Zuchthaus. Gleichzeitig wurde ambulante Behandlung im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB angeordnet und der Vollzug der Freiheitsstrafe gemäss Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB aufgeschoben.
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Dem Verurteilten wurde die Weisung erteilt, sich jeden Monat mindestens einmal bei Dr. med. H., einzufinden, sich an dessen Anweisungen zu halten und sich nach dessen Anordnungen behandeln zu lassen.b) Durch Verfügung vom 5. Oktober 1978 stellte die Justizdirektion fest, dass, gestützt auf den Bericht des behandelnden Arztes, die ambulante Behandlung als gescheitert zu betrachten sei, hob daher die vom Bezirksgericht angeordnete Massnahme auf und lud das Gericht ein, im Sinne von Art. 43 Ziff. 5 StGB über den Vollzug der aufgeschobenen Strafe zu entscheiden oder zu prüfen, ob eine andere sichernde Massnahme anzuordnen sei (Art. 43 Ziff. 3 StGB).
c) Ein gegen den Abbruch der ambulanten Behandlung eingereichter Rekurs wurde vom Regierungsrat des Kantons Zürich am 16. Mai 1979 abgewiesen. Von der Möglichkeit der Einreichung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde machte S. keinen Gebrauch.
d) Das Bezirksgericht Zürich prüfte in der Folge gemäss Art. 43 Ziff. 3 Abs. 3 StGB, ob eine andere ambulante Behandlung oder die stationäre Behandlung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder schliesslich die Verwahrung (Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) anzuordnen sei. Es kam zum Schluss, für keine dieser Massnahmen seien die Voraussetzungen erfüllt; es bestehe auch kein Grund, gemäss Art. 43 Ziff. 5 StGB vom Vollzug der aufgeschobenen Freiheitsstrafe ganz oder teilweise abzusehen. Das Gericht erkannte daher am 20. Dezember 1979, dass die mit Urteil vom 31. August 1977 ausgefällte Zuchthausstrafe jetzt zu vollziehen sei.
e) Einen hiegegen eingereichten Rekurs hat das Obergericht am 26. März 1980 abgewiesen.
Im Gegensatz zum Bezirksgericht ging das Obergericht davon aus, dass die neuerliche Anordnung einer ambulanten Behandlung im vorliegenden Fall schon aus rechtlichen Gründen ausser Betracht falle, nachdem die Justizdirektion sie in verbindlicher Weise als unzweckmässig bezeichnet habe. Eine andere sichernde Massnahme hielt das Obergericht nicht für angezeigt und verneinte auch das Vorliegen irgendeines Grundes für den Verzicht auf den Vollzug der Strafe.
B.- S. führt gegen diesen Entscheid Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei unter Aufschub der Freiheitsstrafe von 2 Jahren
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Zuchthaus eine neue ambulante Behandlung anzuordnen bzw. es sei die Angelegenheit zur materiellen Prüfung und Gutheissung dieses Antrages an das Obergericht zurückzuweisen. Obergericht und Staatsanwaltschaft haben auf Vernehmlassung verzichtet.Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Zur Begründung der Nichtigkeitsbeschwerde wird geltend gemacht, das Obergericht habe unter Verletzung von Bundesrecht angenommen, nach dem Scheitern der ambulanten Behandlung durch Dr. H. könne das Gericht nicht eine neue ambulante Behandlung in Erwägung ziehen, sondern die von der Vollzugsbehörde verfügte Aufhebung der seinerzeit angeordneten Behandlung schliesse eine neue gleichartige Massnahme aus, gemäss Art. 43 Ziff. 3 Abs. 3 könne nur eine andere Massnahme in Betracht fallen.
Streitig ist somit ausschliesslich, ob das Obergericht erneut eine ambulante Behandlung anordnen könne und daher diesen Antrag materiell prüfen müsse oder ob diese Möglichkeit infolge der vorangehenden Entscheide der Vollzugsinstanzen (Justizdirektion und Regierungsrat) von vornherein rechtlich ausgeschlossen sei.
2. a) Art. 43 StGB unterscheidet zwischen Anordnungen, die stets vom Richter zu treffen sind, und andern Entscheidungen, welche vom Kanton auch einer Verwaltungsbehörde ("zuständigen Behörde") übertragen werden dürfen. Die Kompetenz zur Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt, aber auch zur Anordnung einer ambulanten Behandlung steht ausschliesslich dem Richter zu. Der Entscheid über den Aufschub des Vollzugs einer Freiheitsstrafe und über den nachträglichen Vollzug aufgeschobener Strafen ist ebenfalls Sache des Richters. Hingegen kann die zuständige Behörde über die Aufhebung der Massnahme beschliessen, wenn ihr Grund weggefallen ist, und gegebenenfalls auch eine probeweise Entlassung aus der Anstalt oder Behandlung anordnen (Art. 43 Ziff. 4 StGB). Geht es um die definitive oder probeweise Aufhebung einer Massnahme wegen Wegfalls des Grundes, so kann also das kantonale Recht den Entlassungsbeschluss der administrativen Vollzugsinstanz übertragen (z.B. dem kant. Justizdepartement), über den nachträglichen Vollzug einer aufgeschobenen
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Freiheitsstrafe hat aber kraft Bundesrechts stets der Richter zu befinden.b) Das Obergericht geht davon aus, dass bei Erfolglosigkeit oder Unzweckmässigkeit einer Massnahme gemäss Art. 43 Ziff. 3 StGB - analog wie bei der Aufhebung gemäss Ziff. 4 - der Abbruch der Sanktion von der administrativen Vollzugsbehörde definitiv verfügt werde und dass der Richter nur über den nachträglichen Vollzug der aufgeschobenen Strafe und allenfalls über die Anordnung einer andern Massnahme zu entscheiden habe, wobei die erneute Verhängung der gleichen, von der Vollzugsbehörde als ungeeignet erklärten Massnahme rechtlich ausgeschlossen sei.
c) Ziff. 3 von Art. 43 StGB enthält - im Gegensatz zu Ziff. 4 - keine ausdrückliche Bestimmung darüber, welche Behörde die gerichtlich angeordnete Massnahme wegen Erfolglosigkeit oder Unzweckmässigkeit einstellt. In der Praxis wird es regelmässig die Vollzugsbehörde sein, welche von den Tatsachen Kenntnis erhält, die den Abbruch oder die Änderung der Sanktion nahe legen. Die Vollzugsbehörde wird in einem solchen Fall das notwendige Entscheidungsverfahren in Gang bringen. Denkbar ist eine förmliche Verfügung, welche die im Gang befindliche Massnahme bereits aufhebt und die Sache zur weitern Verfügung (andere Massnahme oder Strafvollzug) dem Richter "überweist", wie dies im vorliegenden Fall geschehen ist. Möglich wäre aber auch ein begründeter Antrag an den zuständigen Richter ohne formelle Verfügung über die Beendigung der Sanktion. Aus dem Wortlaut des Gesetzes lässt sich auf jeden Fall nicht ableiten, dass die Vollzugsbehörde über die Aufhebung der Massnahme zu befinden habe, und dass deren förmliche Aufhebung durch die Vollzugsbehörde einer erneuten richterlichen Anordnung der gleichen Massnahme entgegenstehe. Anderseits schliesst der Gesetzestext eine solche strenge Aufspaltung der Kompetenzen auch nicht zwingend aus. Es besteht hier in der gesetzlichen Regelung eine Lücke, die unter Berücksichtigung der praktischen Erfordernisse zweckmässig zu füllen ist. Da es ausschliesslich um die Regelung der Zuständigkeit geht und nicht um Fragen des materiellen Strafrechts, sind die für die Abgrenzung der Strafbarkeit und die Zulässigkeit von Sanktionen massgebenden spezifischen Schranken der Rechtsfindung hier ohne Belang.
d) Bei abstrakter Prüfung scheint es zunächst, die von der Art. 43 und 44 StGB , Zürcher Diss. 1978, insbes. S. 224).
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Vorinstanz vertretene Auffassung dränge sich auf; wenn eine bestimmte Massnahme erfolglos gewesen sei, dann könne der Richter nicht dieselbe Massnahme nochmals anordnen; eine Bindung des Richters an den negativen Befund der Vollzugsbehörde sei in diesem Sinne folgerichtig. Diese Überlegung wäre zutreffend, wenn die Erfolglosigkeit der im konkreten Fall durchgeführten Behandlung (stationär oder ambulant) stets den Nachweis erbrächte, dass jede gleichartige Behandlung ungeeignet sei. Da jedoch die Wirkungslosigkeit der angeordneten Behandlung keineswegs immer den Schluss zulässt, diese Behandlungsart sei für den betreffenden Täter ungeeignet, könnte es zu stossenden Ergebnissen führen, wenn die Feststellung der Vollzugsbehörde über die Erfolglosigkeit des zuerst eingeschlagenen Weges der Behandlung jede gleichartige Massnahme zwingend ausschlösse. Eine solche Folgerung liesse sich nur vertreten, wenn die Vollzugsbehörde zuständig und verpflichtet wäre, bei Erfolglosigkeit der angeordneten Massnahme (z.B. ambulante Behandlung durch den Arzt B) umfassend zu prüfen, ob eventuell eine andere gleichartige Massnahme (z.B. ambulante Behandlung durch den Arzt X) in Frage käme, und nur an den Richter gelangen dürfte aufgrund der abschliessenden Feststellung, dass eine gleichartige Ersatzmassnahme ausser Betracht falle. Heute ist jedoch die Aufgabenteilung zwischen Richter und Vollzugsinstanz in manchen Kantonen nicht so geregelt, dass die Verwaltungsbehörde bei Versagen der ersten Massnahme von sich aus die Möglichkeit einer andern gleichartigen Lösung (Wechsel des Therapeuten bzw. der Klinik) selbständig prüft, sondern das Gericht legt vielfach die Massnahme ganz konkret fest (etwa unter Bezeichnung des behandelnden Arztes), und wenn diese konkreten Anordnungen sich als ungeeignet erweisen, wird dies dem Gericht als Unzweckmässigkeit bzw. Erfolglosigkeit der verhängten Sanktion gemeldet, damit der Richter neue Anordnungen treffe. Diese - z.T. nicht formell klar geregelte - Zuständigkeitsordnung, welche tendenziell dem Richter alle einschneidenden, wesentlichen Entscheidungen überlässt, spricht gegen eine Lösung, die einer Verwaltungsbehörde die Befugnis gibt, mit der Feststellung, dass der eingeschlagene konkrete Weg ungeeignet sei, auch jede gleichartige Massnahme definitiv auszuschliessen. Zwar wird häufig der Misserfolg eines ersten Versuchs ambulanter Behandlung gegen die Eignung dieser BGE 106 IV 101 S. 106
Behandlungsform sprechen. Anderseits besteht kein Grund, dem Richter, der die eigentliche Verantwortung für die Wahl der Sanktion und den Gang des Vollzuges hat, formell einen zweiten Versuch mit einer gleichartigen Massnahme zu untersagen. Dass der Gesetzgeber in Art. 43 Ziff. 3 Abs. 3 StGB mit der Wendung "andere sichernde Massnahme" die Möglichkeit eines zweiten Versuchs mit einer gleichartigen Massnahme ausschliessen wollte, lässt sich aus dem Sinn und Zweck der ganzen Regelung, die flexibel sein soll nicht ableiten. Ein Wechsel der Anstalt oder des Therapeuten wird durch Art. 43 Ziff. 3 StGB nicht untersagt. Ob schon die Vollzugsbehörde die Frage eines solchen Wechsels prüft oder erst der Richter, hängt vom kantonalen Verfahrensrecht ab. Auf jeden Fall hat die Beendigung einer ungeeigneten Massnahme durch die Vollzugsbehörde nicht zur Folge, dass der Richter bei der Bestimmung des weitern Schicksals des Betroffenen aus rechtlichen Gründen (infolge einer formellen Bindung an den Entscheid der Vollzugsinstanz) eine gleichartige Massnahme nicht mehr in Erwägung ziehen dürfte (vgl. U. FRAUENFELDER, Die ambulante Behandlung geistig Abnormer und Süchtiger als strafrechtliche Massnahme nach e) Der angefochtene Entscheid verletzt daher insofern Bundesrecht, als das Obergericht annimmt, die neuerliche Anordnung einer ambulanten Behandlung falle schon aus rechtlichen Gründen ausser Betracht, nachdem die Justizdirektion sie in verbindlicher Weise als unzweckmässig bezeichnet und ihren Vollzug eingestellt habe. Ein solcher Ausschluss jeder gleichartigen Massnahme lässt sich aus Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3 StGB nicht ableiten. Das Obergericht muss daher materiell darüber entscheiden, ob eine neue ambulante Behandlung anzuordnen sei. Dabei sind neben den bisherigen (negativen) Erfahrungen mit dieser Behandlungsform auch die in einem neuen Strafverfahren (im Kanton Bern) erhobenen psychiatrischen Befunde gebührend zu berücksichtigen. Zur Frage der Zweckmässigkeit einer erneuten ambulanten Behandlung hat der Kassationshof hier nicht Stellung zu nehmen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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