BGE 106 IV 211
 
58. Urteil der Anklagekammer vom 26. August 1980 i.S. Schweizerische Eidgenossenschaft gegen Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirksgerichts Zürich und Obergericht des Kantons Zürich (Beschwerde)
 
Regeste
Rechtshilfe im Verwaltungsstrafverfahren (Art. 30 VStrR).
 
Sachverhalt


BGE 106 IV 211 (211):

A.- Die Generaldirektion PTT verfällt B. mit Strafbescheid vom 8. Mai 1979 in eine Busse von Fr. 190.--, weil er in seinem Fahrzeug ein nicht typengenehmigtes Sprechfunkgerät erstellt und betrieben hatte. B. unterzeichnete eine Erklärung, in welcher er
- bestätigte, das Original des Strafbescheids erhalten zu haben und auf die einschlägigen Gesetzesbestimmungen hingewiesen worden zu sein,
- ausdrücklich auf die Ergreifung eines Rechtsmittels verzichtete und


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- anerkannte, dass der Strafbescheid im Sinne von Art. 65 VStrR einem rechtskräftigen Urteil gleichkommt.
B. bezahlte die Busse innert der ihm eingräumten Frist von 30 Tagen nicht. Er wurde deshalb von der zuständigen Kreistelefondirektion Bellinzona zunächst erfolglos gemahnt und anschliessend betrieben. Gegen den ihm am 9. Juli 1979 zugestellten Zahlungsbefehl erhob sein Vormund am 12. Juli 1979 vorläufig Rechtsvorschlag "bis zur Überprüfung der entsprechenden Unterlagen". Die Verwaltung erhielt damit Kenntnis von der Bevormundung des B. Sie sandte die Akten dem Vormund zur Kenntnisnahme, erhielt von diesem aber keine Antwort.
B.- Am 7. Dezember 1979 verlangte die Generaldirektion PTT namens der Eidgenossenschaft beim Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirksgerichts Zürich definitive Rechtsöffnung für Fr. 199.50 nebst 5% Zins seit 8. Juni 1979 und Fr. 14.-- Betreibungskosten in der gegen B. gerichteten Betreibung. Der Einzelrichter wies das Rechtsöffnungsbegehren am 11. Januar 1980 ab, im wesentlichen mit der Begründung, der im Sinne von Art. 369 ZGB entmündigte B. sei bezüglich des Verzichts auf ein Rechtsmittel nicht urteilsfähig und sein Verzicht auf die Ergreifung eines Rechtsmittels sei deshalb ungültig gewesen; der Strafbescheid der Generaldirektion PTT vom 8. Mai 1979 sei somit nicht rechtskräftig und mithin auch nicht vollstreckbar geworden; es fehle demnach an einem vollstreckbaren Entscheid im Sinne von Art. 80 SchKG.
Die Generaldirektion PTT erhob dagegen Nichtigkeitsbeschwerde, die vom Obergericht des Kantons Zürich am 14. April 1980 abgewiesen wurde. Zur Begründung führte das Gericht unter anderem aus, der Einzelrichter habe die Urteilsfähigkeit des B. in Wirklichkeit nicht abgeklärt, sondern sei unter Hinweis auf den Entmündigungsgrund und die Komplexität der Frage der Ergreifung eines Rechtsmittels einfach von der fehlenden Urteilsfähigkeit ausgegangen, was ihm jedoch nicht als Überschreitung der Kognitionsbefugnis oder Willkür zur Last gelegt werden könne; klares Recht sei nicht verletzt, denn es existiere kein solches darüber, dass Art. 65 VStrR auch gegenüber Entmündigten, die ohne Zustimmung des Vormundes handeln, Anwendung finde und dass im Rechtsöffnungsverfahren unter dem Gesichtspunkt des Art. 80 SchKG die Entmündigung unbeachtet bleiben müsse, bzw. dass ein

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Entmündigter von sich aus gültig auf alle Rechtsmittel verzichten könne; überdies sei die Bestrafung des B. dessen Vormund nicht mitgeteilt worden, so dass es an der rechtsgenügenden Eröffnung des Strafbescheides fehle, was für sich allein schon dessen Vollstreckbarkeit hindere.
C.- Gegen diesen Entscheid erhebt die Generaldirektion PTT namens der Eidgenossenschaft Beschwerde im Sinne von Art. 30 Abs. 5 VStrR an die Anklagekammer des Bundesgerichts mit dem Antrag, der zuständige zürcherische Rechtsöffnungsrichter sei anzuweisen, den PTT-Betrieben in der gegen B. gerichteten Betreibung für Fr. 199.50 und Fr. 14.-- Betreibungskosten definitive Rechtsöffnung zu erteilen.
Das Obergericht des Kantons Zürich hat auf Vernehmlassung verzichtet.
 
Die Anklagekammer zieht in Erwägung:
Während die Kantone in Bundesstrafsachen nach Art. 252 BStP einander im Verfahren und beim Urteilsvollzug Rechtshilfe zu leisten haben, spricht Art. 30 VStrR nur von der Rechtshilfe im Rahmen der Verfolgung und Beurteilung von Verwaltungsstrafsachen. Es stellt sich daher die Frage, ob sich die Rechtshilfepflicht auf diesem Gebiet trotz dieser engen Umschreibung überhaupt auf die Vollstreckung beziehe. Das Bundesgericht hat dazu im Zusammenhang mit dem nach Art. 30 Abs. 3 VStrR auf Fälle der vorliegenden Art analog anwendbaren Art. 352 Abs. 1 StGB, wo allerdings nur ganz allgemein von Rechtshilfe die Rede ist, ausgeführt, die Rechtshilfe

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dauere über die Verurteilung hinaus und beziehe sich in gewissem Sinne auch auf die Vollstreckung; das ergebe sich schon daraus, dass Art. 352 Abs. 2 StGB unter anderem auch von der Zuführung des Verurteilten spreche (BGE 86 IV 228 /229; vgl. auch BGE 102 IV 220 E. 2, BGE 96 IV 183 E. 1, BGE 87 IV 141 E. 3). Für Handlungen, die auf Eintreibung einer Busse gerichtet seien, sei deshalb ebenfalls Rechtshilfe geschuldet. Der Umstand, dass für die Eintreibung der Busse nur der Weg der Schuldbetreibung offenstehe, ändere daran nichts. Die Natur dieses Verfahrens beraube den Vollzug nicht seines Strafcharakters. Die Busse bleibe eine Strafe, und die zu ihrem Vollzug eingeleitete Betreibung diene nicht in erster Linie der Befriedigung des Staates, sondern dazu, den Verurteilten zu zwingen, die Strafe zu erleiden. Wenn ein Kanton es ablehne, zur Durchführung einer derartigen, vom Bund eingeleiteten Betreibung Hand zu bieten, verletze er demnach die ihm obliegende Rechtshilfepflicht gegenüber dem Bund, so dass dieser berechtigt sei, die Anklagekammer des Bundesgerichts anzurufen, übrigens ohne an eine Frist gebunden zu sein (BGE 86 IV 229 /230; vgl. auch BGE 63 I 268 /269).
2. An dieser Rechtsprechung kann indessen unter der Herrschaft des neuen Bundesgesetzes über das Verwaltungsstrafrecht nicht festgehalten werden. Mit der Verweigerung der Rechtsöffnung verstossen die Behörden des Kantons Zürich im vorliegenden Fall nicht gegen die Rechtshilfepflicht im Sinne von Art. 30 VStrR, sondern allenfalls gegen die Pflicht, eine rechtskräftige Bussenverfügung einer Bundesbehörde zu vollstrecken. Wohl umfasst der Begriff der Rechtshilfe in einem weiteren Sinn auch die Vollstreckung von Entscheidungen anderer Behörden (vgl. z.B. den Entwurf zu einem Bundesgesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, BBl 1976 II S. 491 ff., insbesondere Art. 91 ff.). Darum geht es bei Art. 30 VStrR jedoch nicht. Darauf deuten schon die Gründe hin, aus denen nach Art. 30 Abs. 2 VStrR die Rechtshilfe verweigert werden darf, ist doch nicht einzusehen inwiefern der Vollzug einer Busse je die innere oder äussere Sicherheit des Bundes oder der Kantone gefährden, die um Rechtshilfe angegangene Behörde in der Durchführung ihrer Aufgabe wesentlich beeinträchtigen oder die Preisgabe von anvertrauten Geheimnissen bewirken könnte. Das Gleiche ergibt sich aus den Beispielen, mit denen in Art. 30 Abs. 1 VStrR die

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Rechtshilfepflicht erläutert wird; danach haben die Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden einander "insbesondere" Auskünfte zu erteilen und Akteneinsicht zu gewähren. Von der Verpflichtung zur Vollstreckung von Strafverfügungen ist nicht die Rede. Diese Verpflichtung ist nicht in Art. 30 VStrR, sondern in der allgemeinen Bestimmung des Art. 380 StGB niedergelegt, deren Verletzung jedoch nicht bei der Anklagekammer gerügt werden kann. Weigert sich eine kantonale Behörde, die Bussenverfügung einer Bundesverwaltungsbehörde zu vollstrecken, indem sie deren Rechtsöffnungsgesuch abweist, so liegt demzufolge nicht ein Anstand über die Rechtshilfepflicht im Sinne von Art. 30 Abs. 5 VStrR vor, und die Anrufung der Anklagekammer ist ausgeschlossen.
Dieses Ergebnis entspricht auch den praktischen Bedürfnissen besser als die bisherige Rechtsprechung. Nach Art. 49 Ziff. 2 StGB werden Bussen auf dem Weg der Schuldbetreibung vollstreckt. Im Betreibungsverfahren hat die Verwaltung nicht die Stellung einer um Rechtshilfe ersuchenden Behörde, sondern diejenige einer Partei. Als solcher stehen ihr auch alle Rechtsmittel der Partei zur Verfügung. Sie kann daher z.B. im Sinne von Art. 17 SchKG Beschwerde an die Aufsichtsbehörden über Schuldbetreibung und Konkurs führen, wenn sich das Betreibungsamt weigert, den Zahlungsbefehl zuzustellen, die Pfändung vorzunehmen oder die Verwertung durchzuführen. Erhebt der Betriebene Rechtsvorschlag, so hat sie, wiederum in ihrer Eigenschaft als Partei des Betreibungsverfahrens, beim Richter um Erteilung der Rechtsöffnung zu ersuchen, wobei die Bussenverfügung nach Art. 380 StGB einen definitiven Rechtsöffnungstitel im Sinne von Art. 80/81 SchKG darstellt. Gegen die Verweigerung der Rechtsöffnung stehen ihr gegebenenfalls kantonale Rechtsmittel zur Verfügung. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin denn auch gegen den Entscheid des Rechtsöffnungsrichters beim Obergericht Nichtigkeitsbeschwerde geführt. Die Anrufung der Anklagekammer ist in diesem Zusammenhang nirgends vorgesehen. Es wäre auch nicht einzusehen, weshalb sich der Rechtsöffnungsstreit auf einmal in einen Anstand über die Rechtshilfepflicht verwandeln sollte, der von der Anklagekammer zu schlichten wäre. Die Zuständigkeit der Anklagekammer als letzte Instanz des Rechtsöffnungsverfahrens wäre systemwidrig. Das zeigt sich unter anderem darin, dass die Beschwerde wegen Verweigerung

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der Rechtshilfe nach der Rechtsprechung an keine Frist gebunden ist, so dass der Entscheid, mit dem die Rechtsöffnung verweigert wird, gar nie rechtskräftig werden könnte. Ferner könnte immer dann, wenn ein kantonales Gericht aus welchen Gründen auch immer ein von einem andern Kanton oder vom Bund zur Vollstreckung einer Busse gestelltes Rechtsöffnungsbegehren abweist, Beschwerde wegen Verweigerung der Rechtshilfe geführt werden, während dies ausgeschlossen wäre, wenn ein Bussenurteil im eigenen Kanton vollstreckt werden soll. Für diese Ungleichbehandlung besteht kein sachlicher Grund. Ungerechtfertigt ist es auch, dass zwar die Verwaltung den Rechtsöffnungsentscheid an die Anklagekammer soll weiterziehen können, während dem Verurteilten als Gegenpartei, der z.B. geltend macht, seine Verjährungseinrede sei zu Unrecht verworfen und die Rechtsöffnung deshalb zu Unrecht erteilt worden, nur die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV zur Verfügung steht. Dies hätte zudem zur Folge, dass innerhalb des Bundesgerichts die gleiche Frage, je nachdem ob die Rechtsöffnung erteilt worden ist oder nicht, von verschiedenen Gerichtsabteilungen mit verschiedener Kognition beurteilt werden müsste. Dazu kommt, dass jede Handlung der kantonalen Betreibungsbehörden, die nicht dem Antrag der betreibenden Verwaltungsbehörde entspricht, in gleicher Weise wie die Ablehnung des Rechtsöffnungsgesuchs als Verweigerung der Rechtshilfe angesehen werden müsste. Das würde dazu führen, dass die Anklagekammer rein betreibungsrechtliche Fragen, die sonst in den Zuständigkeitsbereich der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer fallen, wie z.B. solche betreffend die Gültigkeit von Pfändungen, die Ermittlung des Notbedarfs des Schuldners oder die Lastenbereinigung bei der Verwertung von Grundstücken, zu beurteilen hätte, während der Gebüsste die gleichen Fragen der Anklagekammer nicht unterbreiten könnte. Das kann nicht der Sinn von Art. 30 VStrR sein. Schliesslich besteht auch kein Grund, den Bussenvollzug gegenüber dem Vollzug anderer Ansprüche, die mitunter ebenso schutzwürdig sind, wie z.B. Steuern, Prämien an die Sozialversicherung usw., im Betreibungsverfahren durch Einräumung eines besonderen Rechtsmittels zu privilegieren, dies umso weniger, als die Verwaltung die Möglichkeit hat, eine Busse, die nicht eingebracht werden kann, durch den Richter in Haft umwandeln zu lassen (Art. 49 Ziff. 3 StGB, Art. 91 VStrR).


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Wird die Rechtsöffnung wie im vorliegenden Fall mit der Begründung abgelehnt, die Bussenverfügung leide an einem Mangel oder sie sei nicht richtig eröffnet worden, kann die Verwaltung überdies, da der Rechtsöffnungsentscheid nur Rechtskraft in der gleichen Betreibung hat, jederzeit eine neue, fehlerfreie Verfügung erlassen und gestützt darauf in einer neuen Betreibung definitive Rechtsöffnung erlangen. Ein zwingendes Bedürfnis, den Streit von der Anklagekammer beurteilen zu lassen, besteht jedenfalls nicht.
Auf die Beschwerde ist daher nicht einzutreten.
Demnach erkennt die Anklagekammer:
Auf die Beschwerde wird nicht eigetreten.