BGE 106 IV 385
 
94. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 5. Dezember 1980 i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 90 Ziff. 2 SVG.
 
Sachverhalt


BGE 106 IV 385 (386):

A.- A. fuhr mit seinem Personenwagen am 23. Dezember 1978 um 20.50 Uhr bei einer Temperatur um den Gefrierpunkt und feuchtem Strassenbelag vom Pilatusplatz in Luzern auf der Pilatusstrasse in Richtung Seebrücke. Als der vor ihm fahrende Trolleybus nach rechts zur Haltestelle abbog, beschleunigte er. Eingangs der Brücke geriet sein Fahrzeug ins Schleudern, überquerte die in der Mitte mit einer doppelten Sicherheitslinie markierte Brücke und kam nach einem Schleuderweg von 32 m am linken Trottoirrand zum Stehen. Ein entgegenkommender Automobilist musste sein Fahrzeug anhalten, um einen Zusammenstoss zu vermeiden.
B.- Das Amtsgericht Luzern-Stadt verurteilte A. wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG) sowie wegen Übertretung von Art. 10 Abs. 4 SVG in Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 und 99 Ziff. 3 SVG zu einer Busse von Fr. 400.--. Das Obergericht des Kantons Luzern bestätigte am 8. Juli 1980 den erstinstanzlichen Entscheid im Schuld- wie im Strafpunkt.
C.- A. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes sei bezüglich der Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern hat sich nicht vernehmen lassen.
 
Aus den Erwägungen:
1. Die Vorinstanz stellt fest, das Schleudern des Autos, das auf Fahren mit übersetzter Geschwindigkeit zurückzuführen sei, habe eine konkrete und ernsthafte Gefahr für die Insassen des entgegenkommenden Wagens geschaffen. Da entgegen

BGE 106 IV 385 (387):

dem Bundesgericht (BGE 92 IV 143) und mit SCHULTZ (Strafbestimmungen des SVG 1964, S. 162 ff.; Die strafrechtliche Rechtsprechung zum neuen Strassenverkehrsrecht 1968 S. 222), STRATENWERTH (Grundfragen des Verkehrsstrafrechtes, BJM 1966 S. 70 f.) und SUTER (Fahrlässige Verletzung und Gefährdung im Verkehrsstrafrecht, Diss. Zürich 1976 in Zürcher Beiträge zur Rechtswissenschaft Nr. 500 S. 119 ff.) die "Grobheit der Regelverletzung" allein in ihrer objektiven Schwere liegen könne, richte sich die Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG nach der äusseren Erscheinungsweise und Wirkung des täterischen Verhaltens, nicht nach inneren, subjektiven Momenten. Das äussere Erscheinungsbild der vom Angeklagten begangenen Regelverstösse ziehe zwingend die Anwendung des qualifizierten Tatbestandes nach sich; wer sich der Luzerner Seebrücke, einer der meistbefahrenen Strassen der Schweiz, von der Pilatusstrasse her nachts, bei einer Temperatur um den Gefrierpunkt und bei feuchtem Strassenbelag mit übersetzter Geschwindigkeit nähere, sein Fahrzeug nicht mehr beherrsche und schleudernd auf die mit einer doppelten Sicherheitslinie abgegrenzte Gegenfahrbahn gerate, begehe eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln, eine Verletzung, die nach aller Erfahrung zu schweren Unfällen führe und auch im vorliegenden Fall ohne weiteres zu einer Kollision mit schlimmen Folgen hätte führen können.
2. Der Beschwerdeführer stellt dem entgegen, das Obergericht verkenne den Sinn des Art. 90 Ziff. 2 SVG. Ein grober Verstoss gegen Verkehrsregeln setze ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten, also ein schweres Verschulden, zumindest grobe Fahrlässigkeit voraus. Eine solche falle ihm nicht zur Last. Aber selbst nach objektiven Kriterien dürfe er nicht gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG bestraft werden. Es sei nicht bewiesen, dass er zu schnell gefahren sei. Dass er die Brückenfuge, wahrscheinliche Ursache des Unfalls, nicht gekannt und bei ihrem Passieren eventuell falsch oder zu stark reagiert habe, könne ihm nicht angelastet werden. Es sei auch falsch, wenn die Vorinstanz aus dem spektakulär anmutenden Erfolg des Selbstunfalls ableite, er müsse grob gegen Verkehrsregeln verstossen haben. Eine solche, letztlich auf Vermutungen beruhende Verschuldenswertung sei unzulässig. Die Vorinstanz nehme übrigens selber nicht als erwiesen an, dass die Geschwindigkeit Ursache des Schleuderns war.


BGE 106 IV 385 (388):

4. Nach Art. 90 Ziff. 2 SVG, der dem früheren Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 entspricht, wird mit Gefängnis oder Busse bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.
Die Frage, wann eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln vorliegt, mag in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet erscheinen. In BGE 92 IV 145 hat das Bundesgericht gestützt auf die Entstehungsgeschichte entschieden, eine Verletzung von Verkehrsregeln sei grob, wenn ihr ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten zugrundeliege, was ein schweres Verschulden voraussetze. Es lehnte es ab, auf die Natur der verletzten Verkehrsregel abzustellen und eine grobe Verletzung etwa dann anzunehmen, wenn es sich bei der missachteten Norm um eine grundlegende Vorschrift über das Verhalten im Strassenverkehr handle; Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 aSVG könne durch die Verletzung irgendeiner Verkehrsregel erfüllt werden; der Verstoss müsse aber im konkreten Fall besonders schwer gewesen sein. Daraus schloss der Kassationshof, mit dem Ausdruck grobe Verletzung verlange das Gesetz eine grobe Verletzung der Sorgfaltspflicht.
In BGE 95 IV 3 hat das Bundesgericht in objektiver wie subjektiver Hinsicht geprüft, ob die Verletzung grob war, und entschieden, dass Linksfahren an unübersichtlicher Stelle gegen eine der grundlegenden Regeln der Verkehrssicherheit verstosse und sehr oft Ursache schwerster Unfälle sei. Das darin liegende zumindest grobfahrlässige Verhalten wiege umso schwerer, als die Verfehlung, im Zusammenhang mit dem vorausgehenden Unfall gesehen, auf Rücksichtslosigkeit und mangelnde Selbstbeherrschung schliessen lasse. SCHULTZ erblickte hierin ein deutliches Abrücken von BGE 92 IV 145 und eine Zuwendung des Bundesgerichts zu der Ansicht, es sei auf bestimmte objektive Kriterien zur Kennzeichnung der groben Verletzung einer Verkehrsregel abzustellen (Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichtes im Jahre 1969, ZBJV 1970 S. 366/367). Diese Auffassung liess indes ausser acht, dass BGE 95 IV 3 neben objektiven auch subjektive Elemente heranzog.
Ebenso wurde in BGE 95 IV 91 im Verstoss gegen eine wichtige Verkehrsregel und in dem im rücksichtslosen Vorwärtsdrängen liegenden Verschulden die grobe Verletzung gesehen.


BGE 106 IV 385 (389):

Der Entscheid BGE 99 IV 280 griff auf BGE 92 IV 145 zurück, wobei er die grobe Verletzung der Sorgfaltspflicht hervorhob, weil dem Täter die jedem Automobilisten geläufige Regel bekannt gewesen sei.
Im Urteil BGE 102 IV 44 hat das Bundesgericht es abgelehnt, schematisch in jedem Fahren mit einer Geschwindigkeit, die das Anhalten innerhalb der Reichweite der Scheinwerfer ausschliesst, eine grobe Verkehrsregelverletzung zu sehen. Es erkannte aber im konkreten Fall auf eine "faute grave", weil eine andere Lichtquelle als die eigenen Scheinwerfer fehlte und der Täter auf einer Autobahn fuhr, wo der hohen Geschwindigkeit wegen Unfälle oft schwere Folgen hätten.
In BGE 105 IV 136 beschränkte sich das Bundesgericht in Anlehnung an BGE 95 IV 91 auf eine objektive Betrachtungsweise, indem es eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln schon im Schlängelvorfahren an auf der Überholspur fahrenden Autos vorbei mit vorübergehendem Einbiegen in eine auf der Normalspur fahrende Kolonne erblickte.
Schliesslich wurde in BGE 106 IV 49 die Frage, ob eine grobe Regelverletzung vorliege, objektiv nach der äusseren Schwere der Regelwidrigkeit, die oft zu Unfällen führe, und subjektiv nach der Schwere des Verschuldens beantwortet.
5. Das Bundesgericht hat sich in BGE 92 IV 145 für seine subjektive Betrachtungsweise auf die Entstehungsgeschichte berufen, insbesondere darauf, dass der Gesetzgeber das qualifizierende Motiv in der Rücksichtslosigkeit des Täters erblickt hatte. Gewiss würde sich Rücksichtslosigkeit schon in der äusseren Erscheinungsform, in der verletzten Verkehrsregel erfassen lassen. Indessen wurde sie in der parlamentarischen Beratung nicht ausschliesslich in objektivem Sinne verstanden. Nachdem ein Antrag Kistler die Rücksichtslosigkeit der Verletzung bzw. der Gefährdung anderer in den Vordergrund gestellt hatte, wurde beschlossen, diesen Gedanken zu übernehmen, aber anders zu formulieren (Sten.Bull. N 1957 S. 267 Votum Guinand; S. 269 Votum Eggenberger). Dabei wurde hervorgehoben, dass am Verschuldensstrafrecht festzuhalten und das Erfolgsprinzip auch im Strassenverkehrsrecht auszumerzen sei; mit der neuen Bestimmung solle der Richter in die Lage versetzt werden, "ganz schwere und unverbesserliche Verkehrssünder zu einer schweren Freiheitsstrafe zu verurteilen" und "vor allem, ohne auf Erfolg oder Nichterfolg einer Verletzung

BGE 106 IV 385 (390):

von Verkehrsvorschriften abzustellen, das Verschulden des Täters gerecht zu würdigen" (Sten.Bull. N 1957 S. 269 Votum Eggenberger). Ähnlich stellte der französische Berichterstatter Guinand fest, "il faut donc une violation évidente et sans excuse valable" (Sten.Bull. N 1957 S. 268). Es entspricht somit dem Willen des Gesetzgebers, die Qualifikation "grob" auch auf den subjektiven Tatbestand zu beziehen und ein Verhalten nur dann Art. 90 Ziff. 2 SVG zu unterstellen, wenn auch das Verschulden schwer ist.
6. Anderseits würde Art. 90 Ziff. 2 SVG Gewalt angetan, wollte man den Begriff der groben Verletzung einzig subjektiv auffassen. Die Berücksichtigung auch des äusseren Erscheinungsbildes der Verkehrsregelverletzung, ihres Ausmasses und ihrer Tragweite für die Verkehrssicherheit, übrigens nicht selten Indizien für die Schwere des Verschuldens, entspricht der Tendenz der strafrechtlichen Praxis, die Annahme eines qualifizierenden Merkmals, wie "grob", "schwer", "leicht", "gering", von der Gesamtheit der objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalles abhängig zu machen (s. BGE 106 IV 78, BGE 98 IV 26 /7, 251). Freilich schränkt die Verbindung objektiver und subjektiver Kriterien den verstärkten strafrechtlichen Schutz ein, den Art. 90 Ziff. 2 SVG gewährt, weil nicht jede objektiv schwere Verkehrsregelverletzung unter die erhöhte Strafdrohung fällt. Das ist jedoch Folge des Schuldprinzips, das der Gesetzgeber nicht preisgeben wollte.
8. Der Beschwerdeführer bringt noch vor, die Vorinstanz sage zwar, dass sich der gute automobilistische Leumund zu seinen Gunsten auswirken müsse, sie habe aber diesen Milderungsgrund nicht einmal innerhalb des ordentlichen Strafrahmens berücksichtigt und damit ihr Ermessen überschritten. Die

BGE 106 IV 385 (391):

Rüge geht fehl. Einmal handelt es sich nicht um einen Milderungs-, sondern um einen Minderungsgrund. Und zum andern hat die Vorinstanz diesem in dem weiten Strafrahmen, der für Bussen bis zu Fr. 40'000.-- reicht (Art. 48 StGB in Verbindung mit Art. 102 Ziff. 1 SVG), unter Berücksichtigung der finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers ausdrücklich Rechnung getragen. Wenn sie den Beschwerdeführer zu einer Busse von Fr. 400.-- verurteilte, so lag das durchaus im Rahmen ihres Ermessens.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, teilweise gutgeheissen, das Urteil der II. Kammer des Obergerichts des Kantons Luzern vom 8. Juli 1980 bezüglich der Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.