108 IV 88
Urteilskopf
108 IV 88
23. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. September 1982 i.S. Rolf Clemens Wagner gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Mittäterschaft.
Wer an der Beschlussfassung sowie Planung und Vorbereitung von Straftaten (Raubüberfall und Delikte zur Flucht- und Beutesicherung) massgeblich mitwirkte und an deren Ausführung bis zu seiner Festnahme aktiv beteiligt war, ist auch in bezug auf die von seinen Komplizen verübten weiteren Delikte zur Flucht- und Beutesicherung als Mittäter verantwortlich, wenn diese zum allgemeinen Täterplan gehören und zu den vorangegangenen Taten in enger Beziehung stehen (E. I).
A.- Am 19. November 1979 verübte Rolf Clemens Wagner zusammen mit drei Komplizen einen Raubüberfall auf die Schweizerische Volksbank an der Bahnhofstrasse in Zürich, wobei ein Geldbetrag von Fr. 548'068.50 erbeutet wurde. Auf der anschliessenden Flucht mit den von ihnen einige Tage zuvor entwendeten Fahrrädern schossen die Täter unter anderem auf ein sie verfolgendes Auto, in dem Louis Favre und Harry Hohl sassen, sowie in die Richtung des PTT-Beamten Clemens Klingler. Favre, Hohl und Klingler wurden nicht getroffen. In der Folge kam es im Shop-Ville unter dem Bahnhofplatz zu einem Schusswechsel zwischen den Tätern und dem Polizeibeamten Bernhard Pfister, bei dem dieser verletzt und die unbeteiligte Passantin Edith Kletzhändler getötet wurden.
Alsdann trennte sich Wagner von seinen Komplizen. Diese bemächtigten sich an der Nordostseite des Hauptbahnhofes vor der "Küchliwirtschaft" eines eben vom dortigen Parkplatz wegfahrenden Wagens, in dem Verena Schenk als Lenkerin und Margrit Schenk sassen, und ergriffen mit diesem Fahrzeug die Flucht. Im Verlauf dieses Vorfalls wurden Verena Schenk und der herbeigeeilte Polizeibeamte Werner Bodenmann, der auf das Fluchtfahrzeug schoss, von Kugeln getroffen und verletzt. Wagner seinerseits war in der Zwischenzeit auf der Tramhaltestelle Bahnhofquai festgenommen worden und er wurde während der Geschehnisse
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im Bereich der "Küchliwirtschaft" vom Polizeibeamten Remo Galanti mit der Waffe in Schach gehalten.- des Mordes (an Edith Kletzhändler) und des fortgesetzten vollendeten Mordversuchs (an Louis Favre, Harry Hohl, Bernhard Pfister, Verena Schenk und Werner Bodenmann); - des Raubes ( Art. 139 Ziff. 2 Abs. 2 und 4 StGB ); - der Gefährdung des Lebens (von Clemens Klingler);
- der Erpressung (von Verena Schenk) und der fortgesetzten Nötigung (u.a. von Margrit Schenk); - der fortgesetzten Gewalt und Drohung gegen Beamte;
- sowie der Sachentziehung, der Sachbeschädigung, der fortgesetzten Entwendung zum Gebrauch, der fortgesetzten Verletzung von Verkehrsregeln und der Übertretung der §§ 6 und 17 der kantonalen Waffenverordnung und sprach ihn von der Anschuldigung der Gefährdung des Lebens von Anton Wermelinger und einer unbestimmten Anzahl nicht bekannter Personen sowie der Widerhandlung gegen Art. 17 lit. a Abs. 4 des Kriegsmaterialgesetzes frei und verurteilte ihn zu lebenslänglichem Zuchthaus, abzüglich die erstandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft von 312 Tagen, sowie zu 15 Jahren Landesverweisung. Das Gericht auferlegte Wagner die gesamten Verfahrenskosten (exklusive die Übersetzungskosten) und verpflichtete ihn, Leo Kletzhändler eine Genugtuung von Fr. 60'000.-- und Bernhard Pfister eine solche von Fr. 30'000.-- zu bezahlen.
C.- Wagner führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, der Entscheid des Geschworenengerichts sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen in bezug auf die Verurteilung wegen Mordes und fortgesetzten vollendeten Mordversuchs, wegen Erpressung, Nötigung (von Margrit Schenk), wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte (im Fall Werner Bodenmann) sowie in bezug auf die Bernhard Pfister zugesprochene Genugtuung von Fr. 30'000.--. Der Beschwerdeführer ersucht um die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
D.- Eine von Wagner gegen das Urteil des Geschworenengerichts eingereichte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 23. März 1982 ab, soweit es auf sie eintrat.
E.- Die von Wagner gegen das Urteil des Geschworenengerichts und den Beschluss des Kassationsgerichts erhobene staatsrechtliche Beschwerde wies der Kassationshof des Bundesgerichts am 9. September 1982 ab.
Aus den Erwägungen:
I.1. Mordversuch an Werner Bodenmann und an Verena Schenk; Erpressung von Verena Schenk und Nötigung von Margrit Schenk; Gewalt und Drohung gegen Beamte im Fall Werner Bodenmann.
Diesen Schuldsprüchen liegen die Ereignisse im Bereich der "Küchliwirtschaft" zugrunde, an denen Wagner nach den Feststellungen der Vorinstanz nicht mehr als direkt Handelnder beteiligt war; er wurde zur Zeit dieser Geschehnisse auf einer Bank der Tramhaltestelle Bahnhofquai von einem Polizeibeamten mit der Waffe in Schach gehalten.
a) Das Geschworenengericht hat sich mit der Frage der Mittäterschaft Wagners in bezug auf die Vorgänge im Bereich der "Küchliwirtschaft" eingehend auseinandergesetzt und sie unter Berufung auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung bejaht. Zur Begründung weist die Vorinstanz darauf hin, dass Wagner an den den Ereignissen im Bereich der "Küchliwirtschaft" vorangegangenen Aktionen (Raubüberfall auf die Schweizerische Volksbank, Schiessereien zur Sicherung der Beute und zur Vermeidung der Festnahme) sowie an deren Planung und Vorbereitung in massgeblicher Funktion mitwirkte und dass er auch die Vorgänge bei der "Küchliwirtschaft" billigte. Das Vorgehen seiner Komplizen im Bereich der "Küchliwirtschaft" stelle keine der Persönlichkeit Wagners fremde und ausserhalb des gemeinsamen Tatentschlusses und des Täterplans liegende Handlungsweise dar, sondern sei gegenteils "Ausfluss des gemeinsamen Tatplans zur Flucht- und Beutesicherung" gewesen.
b) Der Beschwerdeführer macht demgegenüber geltend, der schuldhafte Wille sei für die Beurteilung einer Mittäterschaft zwar von erheblicher Bedeutung, doch sei er es nicht allein. Neben dem subjektiven Willen sei bei der Mittäterschaft, wie bei jeder Form der Täterschaft, vor allem das Element der Tatherrschaft von Bedeutung. Neben der Beteiligung am gemeinsamen Tatentschluss müsse auch ein objektiver Beitrag zur Tat selbst vorliegen, damit Mittäterschaft bejaht werden dürfe. Der Mittäter müsse den den
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Tatbestand erfüllenden Geschehensablauf (mit) beherrschen, was aber voraussetze, dass er die einzelnen Tathandlungen wesentlich mitbestimme und/oder bei deren Setzung mitbeteiligt sei. Ein verhafteter Tatbeteiligter könne logischerweise keine Tatherrschaft mehr ausüben, weil sein Tun nicht mehr von ihm selber bestimmt werden könne, und er könne damit auch einen von andern gesetzten tatbestandserfüllenden Geschehensablauf nicht mehr mitbeherrschen.
I.2. a) Dem Beschwerdeführer ist zuzustimmen, dass das blosse "Wollen" der Tat, der subjektive Wille allein, zur Begründung von Mittäterschaft nicht genügt. Soweit der Beschwerdeführer mit seiner Argumentation aber davon ausgeht, Mittäter sei nur, wer an der eigentlichen Tatausführung selber beteiligt ist bzw. diese - allenfalls aus Distanz - zu beeinflussen vermag, kann ihm nicht gefolgt werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts ist Mittäter, wer bei der Entschliessung, Planung oder Ausführung eines Delikts vorsätzlich und in massgebender Weise mit andern Tätern zusammenwirkt (BGE 101 IV 49 E. 3, BGE 98 IV 259 E. 5 mit Hinweisen), so dass er als Hauptbeteiligter dasteht (BGE 77 IV 91mit Verweisungen); dabei ist besonders auf das Mass des schuldhaften Willens abzustellen (BGE 91 IV 221, BGE 85 IV 133 /4 mit Verweisungen). Die Begründung für diese Praxis liegt unter anderem darin, dass gerade raffinierte Delinquenten sich bei der Tatausführung häufig im Hintergrund halten und die "Handarbeit" andern überlassen. Solche Delinquenten sind Mittäter, obschon sie sich zur Zeit der Tatausführung allenfalls an einem ganz andern Ort aufhalten und auf den Geschehensablauf und die Details der Tatausführung keinen Einfluss und damit keine "Tatherrschaft" in dem vom Beschwerdeführer verstandenen Sinn mehr haben. Mittäter sind sie gegebenenfalls selbst dann, wenn sie zur eigentlichen Tatausführung bzw. zur Beteiligung daran selber aus irgendwelchen Gründen gar nicht imstande wären. Die Mitwirkung an der eigentlichen Tatausführung bzw. die Möglichkeit, auch während der Ausführung der Tat noch auf diese Einfluss zu nehmen, ist keine notwendige Voraussetzung für die Bejahung von Mittäterschaft (s. BGE 101 IV 311). Der Beschwerdeführer räumt denn auch an anderer Stelle immerhin ein, dass der "objektive Beitrag zur Tat selbst", der neben der Beteiligung am gemeinsamen Tatentschluss vorliegen müsse, "auch in der konkreten Planung und Vorbereitung eines Delikts liegen kann, ohne dass der Mittäter selbst an der Ausführung der Tat beteiligt zu sein
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braucht". Dass die Geschehnisse im Bereich der "Küchliwirtschaft" nicht im einzelnen vorgeplant waren, ist entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers unerheblich. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei solchen Aktionen - Schussabgabe auf eventuelle Verfolger und im Wege stehende Menschen zur Flucht- und Beutesicherung - eine Planung aller Einzelheiten gar nicht möglich ist. Mittäterschaft ist nicht nur dann gegeben, wenn zwei oder mehr Personen eine konkrete Straftat planen, sondern auch bei einer generellen Vereinbarung darüber, dass und wie man sich in gegenseitigem Zusammenwirken zur Wehr setze, wenn die gemeinsame Aktivität durch Intervention Dritter oder von Behörden gefährdet oder gestört werde (s. nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes i.S. K. und M. vom 5. Februar 1979).b) Wagner hat nicht nur an der Beschlussfassung sowie an der Planung und Vorbereitung der gesamten Aktion massgeblich mitgewirkt, sondern sich daran bis zu seiner Festnahme auch aktiv beteiligt. Die vom Beschwerdeführer ausdrücklich gebilligten, im Grundsätzlichen zum gemeinsamen Tatentschluss und zum Täterplan gehörenden Vorkommnisse im Bereich der "Küchliwirtschaft" stehen mit den vorangegangenen Schiessereien, an denen er unmittelbar aktiv mitwirkte, in einer engen zeitlichen, räumlichen und sachlichen - vom Geschworenengericht als Fortsetzungszusammenhang gewerteten - Beziehung, so dass der Beschwerdeführer auch in bezug auf diese Ereignisse offensichtlich als Hauptbeteiligter dasteht und somit Mittäter ist. Der Umstand, dass Wagner im Verlauf der Aktion festgenommen und dadurch ausser Gefecht gesetzt wurde, ändert nichts daran, dass er bis zu diesem Zeitpunkt massgebliche Tatbeiträge geleistet hatte.
Das Geschworenengericht hat die Mittäterschaft Wagners an den Mordversuchen an Werner Bodenmann und Verena Schenk, an der Erpressung von Verena Schenk und der Nötigung von Margrit Schenk sowie an der Gewalt und Drohung gegen Beamte im Fall Werner Bodenmann (Ereignisse im Bereich der "Küchliwirtschaft") zu Recht bejaht.