BGE 117 IV 9
 
4. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. Februar 1991 i.S. X. und Y. gegen Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 91 Ziff. 1 StGB; Erziehungsmassnahmen.
2. Die Anordnung einer Erziehungsmassnahme gemäss Art. 91 StGB setzt kein Delikt von qualifizierter Schwere voraus (E. 3).
 
Sachverhalt


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A.- Mit Entscheid des Jugendanwalts von Basel-Stadt vom 5. August 1988 wurde Y. (geb. 8.3.1973) der wiederholten und fortgesetzten Beschimpfung sowie des wiederholten und fortgesetzten Missbrauchs des Telefons schuldig erklärt; der Entscheid, ob eine Strafe oder Massnahme auszusprechen sei, wurde gemäss Art. 97 Abs. 1 StGB für 1 1/2 Jahre aufgeschoben und während dieser Probezeit die Überwachung ihrer weiteren Entwicklung durch das Jugendamt angeordnet. Nach Eröffnung einer neuen Strafuntersuchung wurde Y. mit Überweisungsbeschluss der Jugendanwaltschaft vom 6. Februar 1990 wegen Nichtbewährung gemäss Art. 97 Abs. 2 StGB in Verbindung mit § 36 lit. h des Gesetzes über die Jugendstrafrechtspflege (JuStG) der Jugendstrafkammer zur Beurteilung überwiesen.
B.- Mit Entscheid vom 14. März 1990 stellte die Jugendstrafkammer gemäss Art. 97 Abs. 2 StGB die Nichtbewährung von Y. fest und beschloss ihre Unterbringung in einer geeigneten Fremdfamilie nach Art. 91 Ziff. 1 StGB unter Anrechnung der Zeit seit

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dem 3. November 1989 an die Massnahmedauer und unter gleichzeitiger Anordnung einer besonderen Behandlung (Psychotherapie) gemäss Art. 92 StGB.
C.- Gegen den Entscheid der Jugendstrafkammer erhoben Y. und ihre Mutter X. Beschwerde beim Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, welches die Beschwerde am 25. April 1990 abwies.
D.- Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde wenden sich X. und Y. gegen den Entscheid des Appellationsgerichts.
 
Aus den Erwägungen:
Die Vorinstanz ging mit der Jugendstrafkammer davon aus, es liege ein Fall der Nichtbewährung vor und bestätigte die von der Jugendstrafkammer angeordnete Unterbringung in einer geeigneten Fremdfamilie nach Art. 91 Ziff. 1 StGB.
b) Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, von einer Nichtbewährung im Sinne von Art. 97 Abs. 2 StGB könne nur unter den gleichen Voraussetzungen gesprochen werden wie in den Fällen von Art. 95 Ziff. 5 und Art. 96 Ziff. 3 StGB, welche eine förmliche Mahnung oder eine qualifizierte Täuschung des Vertrauens erforderten; hier seien der Beschwerdeführerin 2 vom Jugendanwalt am 5. August 1988 folgende Weisungen erteilt worden:
"1. Sofortiges Einstellen der Telefonanrufe bei der Firma Z., Herrn S.
etc.
2. Striktes Befolgen der Weisungen des Jugendamtes."
Die Beschwerdeführerin 2 habe diese Weisungen nie missachtet, zumal das Jugendamt keine konkreten Weisungen gemäss Ziffer 2 erlassen habe. Selbst wenn man annehmen wollte, die von der Beschwerdeführerin während der Probezeit vorgenommenen Telefonanrufe bei der Privatadresse von Herrn S. würden einen

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Verstoss gegen die Weisungen darstellen, so mangle es an einer förmlichen Mahnung. Entgegen dem Appellationsgericht genüge nicht jedes Nichtwohlverhalten.
Die Beschwerdeführerinnen stützen sich auf zwei Literaturstellen (MARIE BOEHLEN, Kommentar zum Schweizerischen Jugendstrafrecht, Art. 97 N 5; JÖRG REHBERG, Strafrecht II, S. 152). Während REHBERG seine Auffassung nicht begründet, geht BOEHLEN davon aus, Art. 97 Abs. 2 StGB umschreibe nicht näher, was unter Nichtbewährung zu verstehen sei; es erscheine deshalb zweckmässig, auf die Umschreibungen in Art. 94 Ziff. 2 Abs. 1 sowie die beiden bereits zitierten Bestimmungen zurückzugreifen (ebenso TRECHSEL, Art. 97 N 5 und ROBERT HAENNI, Der Aufschub des Entscheides nach Art. 97 des Schweizerischen Strafgesetzbuches als Unterbruch im Strafverfahren, Diss. Basel, 1953, S. 25 f.).
Dem ist zuzustimmen. Da im vorliegenden Fall eine förmliche Mahnung nicht behauptet wird, stellt sich die Frage, ob auch ohne eine solche eine Nichtbewährung angenommen werden kann. Die Frage kann im vorliegenden Fall offengelassen werden, enthält die in Frage stehende Weisung doch nur das ohnehin geltende Verbot des Missbrauchs des Telefons; im Verstoss gegen die Weisung liegt daher zugleich auch ein Verstoss gegen die entsprechende Strafrechtsnorm, welche einzuhalten auch ohne förmliche Mahnung geboten ist. Die Weisung ist daher vielmehr eine bloss Aufforderung, nicht rückfällig zu werden.
Die Beschwerdeführerin handelte somit nicht einer Weisung zuwider, sondern täuschte das in sie gesetzte Vertrauen, indem sie nicht nur erneut missbräuchliche Telefonate führte, sondern auch falsche Bestellungen von Waren und Dienstleistungen auf den Namen ihrer Opfer aufgab. Wenn deshalb die Vorinstanz annahm, die Beschwerdeführerin 2 habe damit gezeigt, dass sie trotz Aufschubs des Entscheids über die Sanktion nicht gewillt oder in der Lage sei, ihr Fehlverhalten einzustellen, und daraus den Schluss auf eine Täuschung des Vertrauens während der Probezeit zog, so hat sie kein Bundesrecht verletzt.
3. Weiter wird geltend gemacht, die Anordnung einer Erziehungsmassnahme gemäss Art. 91 StGB setze eine Tat von einer qualifizierten Schwere voraus, woran es hier fehle. In Anlehnung an Art. 43 StGB, wonach eine Massnahme lediglich bei Verbrechen und Vergehen möglich sei, müsse auch im Jugendstrafrecht die Tat eine qualifizierte Schwere aufweisen. Sonst komme es zu

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einer Vermischung mit dem Zivilrecht, wo gemäss Art. 307 ff. ZGB bei entsprechenden weiteren Voraussetzungen eine Massnahmebedürftigkeit genüge. Die Auffassung der Vorinstanz, allein die Massnahmebedürftigkeit und nicht die Schwere des vorgeworfenen Fehlverhaltens sei entscheidend, sei unrichtig.
a) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen setzt die Anordnung einer Erziehungsmassnahme gemäss Art. 91 StGB kein Delikt von qualifizierter Schwere voraus. Sie ist vielmehr nach dem klaren Wortlaut von Art. 89 StGB bei jeder Straftat eines Jugendlichen zulässig, also auch bei einer Übertretung. Eine Einschränkung auf Verbrechen oder Vergehen, wie sie das Erwachsenenstrafrecht kennt (vgl. Art. 42 Ziff. 1 Abs. 1, Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 2 StGB), besteht nicht. Diese Regelung entspricht der Konzeption des Jugendstrafrechts, welches vom Gedanken der staatlichen Fürsorge getragen ist: Die vom jungen Menschen begangene Straftat wird verstanden nicht in erster Linie als Verletzung des Rechtsfriedens, die nach einer ausgleichenden oder vergeltenden Sanktion ruft, sondern als mögliches Indiz für eine Fehlentwicklung, die es aufzufangen gilt (vgl. SCHULTZ, Allg. Teil II, S. 222). Zeigt es sich, dass die Entwicklung des Jugendlichen gestört ist, so sind die erforderlichen Erziehungsmassnahmen anzuordnen, unabhängig davon, ob die Anlasstat schwer wiegt oder nicht (BOEHLEN, a.a.O., S. 19 ff., mit Hinweisen auf die hievon zum Teil abweichenden Auffassungen in der Literatur).
Im übrigen schreibt Art. 91 Ziff. 2 StGB bei einem Verbrechen oder schweren Vergehen, das einen hohen Grad der Gefährlichkeit oder Schwererziehbarkeit bekundet, eine sogenannte qualifizierte Heimeinweisung vor, die anders als die einfache Heimeinweisung nach Art. 91 Ziff. 1 Abs. 1 StGB nicht nur mindestens ein Jahr (vgl. Art. 94 Ziff. 1 StGB), sondern mindestens zwei Jahre dauert. Die Erziehungsmassnahmen gemäss Art. 91 Ziff. 1 StGB sollen demnach gerade in Fällen Platz greifen, in denen weniger gewichtige Straftaten vorliegen.
b) Auch der Einwand, eine "Vermischung" der jugendstrafrechtlichen Sanktionen mit den Kindesschutzmassnahmen des ZGB sei zu vermeiden, erweist sich als unbegründet. Die zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen nach Art. 307 ff. ZGB und die Erziehungsmassnahmen des Jugendstrafrechts stimmen sowohl hinsichtlich ihrer Voraussetzungen als auch in ihrer Ausgestaltung in wesentlichen Punkten überein (vgl. BOEHLEN, a.a.O., S. 22,

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24/5; ADRIENNE HILTY-WARTENWEILER, Das Verhältnis der zivilrechtlichen zu den jugendstrafrechtlichen Erziehungs- und Fürsorgemassnahmen, Diss. Zürich 1970, S. 29, 24; SCHULTZ, a.a.O., S. 223). Ihre Anordnung fällt im Kanton Basel-Stadt denn auch in die Kompetenz derselben Behörde (vgl. BOEHLEN, a.a.O., S. 25/26), was an sich auch für andere Kantone wünschbar wäre (vgl. CYRIL HEGNAUER, Revision des Jugendstrafrechts und zivilrechtlicher Kindesschutz, ZVW 1989 S. 16 ff., 18). Der von den Beschwerdeführerinnen angestrebte Vorrang des zivilrechtlichen Kindesschutzes erscheint überdies in denjenigen Kantonen nicht unproblematisch, wo aus organisatorischen Gründen dieser Schutz oft nicht rechtzeitig und sachgerecht zum Zuge kommen kann (vgl. HEGNAUER, a.a.O., S. 22).