Urteilskopf
120 IV 176
29. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. Mai 1994 i.S. R. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB. Vollzug aufgeschobener Strafen; Anrechnung der ambulanten Behandlung.
Beim nachträglichen Vollzug einer ursprünglich aufgeschobenen Freiheitsstrafe ist die ambulante Behandlung, soweit sich der Betroffene ihr bereits unterzogen hat, in dem Ausmass anzurechnen, als der Betroffene in seiner persönlichen Freiheit tatsächlich eingeschränkt war.
A.- Mit Entscheid vom 22. November 1993 hob das Obergericht des Kantons Luzern die in seinem Urteil vom 28. Februar 1986 und im Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 29. August 1990 gegenüber R. angeordneten ambulanten Massnahmen im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB auf. Es ordnete den Vollzug der
BGE 120 IV 176 S. 177
aufgeschobenen Gefängnisstrafen von drei Jahren, abzüglich 483 Tage Untersuchungshaft, und von sechs Monaten an.
B.- R. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache insofern zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen, als dieses die ambulante Behandlung ermessensweise auf die aufgeschobene Strafe anzurechnen habe. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen, und dem Beschwerdeführer sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
C.- Obergericht und Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragen, die Beschwerde abzuweisen.
Aus den Erwägungen:
1. Die von den Obergerichten der Kantone Luzern und Solothurn unter Aufschub der Strafe angeordneten ambulanten Massnahmen haben sich, wie nicht in Frage gestellt wird, als unzweckmässig erwiesen. Nicht angefochten ist auch, dass sowohl die Fortführung der gescheiterten ambulanten Behandlung als auch die Anordnung einer stationären Massnahme ohne relevanten Erfolg bleiben müsste. Zur Diskussion steht indessen, ob und wieweit gemäss
Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB die Dauer der ambulanten Behandlung auf die Vollstreckung der aufgeschobenen Strafe anzurechnen sei.
2. a) Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung zu
Art. 44 Ziff. 3 und Art. 69 StGB ist die Dauer freiheitsentziehender Massnahmen grundsätzlich auf die aufgeschobene Freiheitsstrafe anzurechnen (
BGE 117 IV 404 E. 2; vgl. auch
BGE 113 IV 118 E. 2,
BGE 109 IV 78 E. 3g). Dabei braucht die anrechenbare Dauer nicht mit der Massnahmedauer übereinzustimmen: Ist der Vollzug der Massnahme unter dem Gesichtspunkt der tatsächlichen Beschränkung der persönlichen Freiheit dem Strafvollzug ungefähr gleichzusetzen, so ist grundsätzlich die ganze Dauer der Massnahme anrechenbar; wird indessen die persönliche Freiheit durch die Massnahme weniger beschränkt, so kann nur eine entsprechend gekürzte Dauer zur Anrechnung gelangen (
BGE 117 IV 225 E. 2c); dies gilt auch für die Anrechnung einer freiheitsentziehenden Ersatzmassnahme, die anstelle der Untersuchungshaft angeordnet wurde (
BGE 117 IV 225 E. 2a;
BGE 113 IV 118 E. 2c mit Hinweisen). Zu berücksichtigen ist dabei, wie weit durch die Massnahme die persönliche Freiheit des Betroffenen bzw. sein Recht, sich frei zu bewegen, sich aufzuhalten und zu
BGE 120 IV 176 S. 178
wohnen, wo er will, beeinträchtigt wird (vgl.
BGE 113 IV 118 E. 2d).
b) Wie bei der Anrechnung des Massnahmevollzuges ist aufgrund der analogen Anwendbarkeit von Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 im Rahmen von
Art. 44 Ziff. 3 Abs. 1 StGB (vgl.
BGE 117 IV 398 E. 2) auch bei der ambulanten Behandlung zu prüfen, inwiefern der Verurteilte durch diese in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt wurde. Diese Auffassung wird auch in der kantonalen Rechtsprechung und in der Literatur, soweit letztere dazu überhaupt Stellung nimmt, vertreten. Danach soll bei der Frage, in welchem Mass die gescheiterte ambulante Behandlung auf die aufgeschobene Strafe anzurechnen sei, vor allem in Rechnung gezogen werden, mit welchem Zeit- und Kostenaufwand sie für den Betroffenen verbunden war (Urteile des Obergerichts des Kantons Bern vom 25. Mai und 4. November 1975, ZBJV 113 [1977] 278; HAUSER/REHBERG, Textausgabe StGB, 12. Aufl., 1992, S. 76; TRECHSEL, Kurzkommentar StGB, Art. 43 N. 21; anders wohl noch REHBERG, Strafrecht II, 1989, S. 96, der offensichtlich eine Anrechnung der Massnahmedauer nur bei erheblichen Freiheitsbeschränkungen - wie Unterbringung in einer therapeutischen Gemeinschaft - zulassen wollte). Nach STRATENWERTH (Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, § 11 N. 118, S. 409/410) und SCHULTZ (Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, 2. Band, 4. Aufl., S. 39) ist auch eine abgebrochene ambulante Behandlung auf die Strafe anzurechnen. Einzig URSULA FRAUENFELDER sieht bei einem Abbruch der ambulanten Behandlung grundsätzlich den Vollzug der Strafe vor (Die ambulante Behandlung geistig Abnormer und Süchtiger aus strafrechtlicher Massnahme nach
Art. 43 und 44 StGB, Zürcher Diss. 1978, S. 173).
3. Dem angefochtenen Urteil lässt sich nicht entnehmen, ob die Vorinstanz bei der Anordnung des (vollumfänglichen) Vollzuges der beiden aufgeschobenen Strafen die oben erwähnten Grundsätze beachtet hat. Unerheblich ist, ob der Beschwerdeführer diese Anrechnung je verlangt hat, da der Richter diese Frage von Amtes wegen zu prüfen hat. Die Beschwerde ist deshalb gemäss
Art. 277 BStP gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.