Urteilskopf
133 IV 201
30. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Polizei- und Militärdirektion sowie Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Beschwerde in Strafsachen)
6B_122/2007 vom 21. Juni 2007
Regeste
Art. 86, 388 Abs. 3 StGB, Ziff. 1 Abs. 3 Schlussbestimmungen der Änderung vom 13. Dezember 2002; Übergangsrecht; bedingte Entlassung; günstige Prognose.
Art. 86 StGB ist auch auf Täter anwendbar, die nach bisherigem Recht verurteilt wurden (E. 2.1). Stärker noch als bisher bildet die bedingte Entlassung die Regel, deren Verweigerung die Ausnahme (E. 2.2). Die bisherige Rechtsprechung zu Art. 38 Ziff. 1 aStGB bleibt massgebend (E. 2.3). In concreto erweist sich die Verweigerung der bedingten Entlassung eines Drogenhändlers gestützt auf dessen Bedenken weckendes Vorleben allein als unzulässig (E. 3).
X. wurde vom Obergericht des Kantons Bern am 24. Oktober 2002 wegen schwerer Drogendelikte zu 9 1/2 Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Landesverweisung unbedingt verurteilt, unter Anrechnung der erstandenen Untersuchungshaft von 453 Tagen. Am 29. Juli 2006 hatte X. 2/3 der Strafe verbüsst; reguläres Strafende ist der 29. September 2009. Das Amt für Freiheitsentzug und Betreuung des Kantons Bern wies die Gesuche von X. um bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug am 26. Juli 2006 ab. Die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern wies die Beschwerde von X. gegen die Verweigerung der bedingten Entlassung am 22. September 2006 ab. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde von X. gegen diesen Entscheid der Polizei- und Militärdirektion am 27. März 2007 ab.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X., dieses verwaltungsgerichtliche Urteil aufzuheben und ihn unter Auferlegung einer angemessenen Probezeit bedingt aus dem Strafvollzug zu entlassen. Zudem beantragt er, es sei festzustellen, dass im bisherigen Verfahren das Beschleunigungsgebot von Art. 29 Abs. 1 BV verletzt worden sei. X. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung und eine prioritäre Behandlung seiner Beschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.1 Der Beschwerdeführer wurde vor dem Inkrafttreten des neuen Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches am 1. Januar 2007 verurteilt, der angefochtene Entscheid erging nachher.
Gemäss
Art. 388 Abs. 3 StGB sind die Bestimmungen des neuen Rechts - hier
Art. 86 StGB - über das Vollzugsregime auch auf Täter anwendbar, die nach bisherigem Recht verurteilt wurden. In Ziff. 1 Abs. 3 der Schlussbestimmungen der Änderung vom 13. Dezember 2002 (BBl 1999 S. 1979; AS 2006 S. 3459), wo für den Bereich des Strafvollzugs die neurechtlichen Bestimmungen aufgeführt werden, welche auch auf Täter anwendbar sind, die nach altem Recht verurteilt wurden, fehlt zwar
Art. 86 StGB. Nach der
BGE 133 IV 201 S. 203
Botschaft des Bundesrates zu dieser Gesetzesänderung fallen die Bestimmungen über die bedingte Entlassung indessen ausdrücklich unter den Begriff des Vollzugsregimes (BBl 1999 S. 2183), weshalb anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber
Art. 86 StGB in Ziff. 1 Abs. 3 der Schlussbestimmungen versehentlich nicht aufführte. Die Frage der bedingten Entlassung des Beschwerdeführers ist daher - was ohnehin sachgerecht ist - nach neuem Recht zu beurteilen.
2.2 Nach
Art. 86 Abs. 1 StGB ist der Gefangene nach Verbüssung von zwei Dritteln, mindestens aber drei Monaten seiner Strafe bedingt zu entlassen, wenn es sein Verhalten im Strafvollzug rechtfertigt und nicht anzunehmen ist, er werde in Freiheit weitere Verbrechen oder Vergehen begehen. Die zuständige Behörde hat von Amtes wegen zu prüfen, ob der Gefangene bedingt entlassen werden kann; dabei hat sie diesen anzuhören und einen Bericht der Anstaltsleitung einzuholen (
Art. 86 Abs. 2 StGB). Liegen ausserordentliche Gründe in der Person des Gefangenen vor, kann die bedingte Entlassung ausnahmsweise bereits nach der Verbüssung der Hälfte der Strafe, frühestens jedoch nach drei Monaten, erfolgen (
Art. 86 Abs. 4 StGB).
Die Bestimmung über die reguläre bedingte Entlassung wurde somit in Bezug auf die Legalprognose neu gefasst, indem nicht wie bisher positiv verlangt wird, es müsse erwartet werden können, der Täter werde sich in Freiheit bewähren, sondern negativ, dass zu erwarten ist, er werde in Freiheit keine Verbrechen oder Vergehen mehr begehen. Jedenfalls tendenziell wurden mit dieser neuen Formulierung die Anforderungen an die Legalprognose gesenkt; stärker noch als bisher wird man daher davon auszugehen haben, dass die bedingte Entlassung die Regel und deren Verweigerung die Ausnahme darstellt. Abgesehen davon entspricht die neurechtliche Regelung im Wesentlichen der altrechtlichen von Art. 38 Ziff. 1 StGB, weshalb die diesbezügliche Rechtsprechung massgebend bleibt.
2.3 Die bedingte Entlassung stellt somit nach wie vor die vierte und letzte Stufe des Strafvollzuges dar und bildet die Regel, von der nur aus guten Gründen abgewichen werden darf (
BGE 119 IV 5 E. 2). In dieser Stufe soll der Entlassene den Umgang mit der Freiheit erlernen, was nur in Freiheit möglich ist. Diesem rein spezialpräventiven Zweck stehen die Schutzbedürfnisse der Allgemeinheit gegenüber, welchen umso höheres Gewicht beizumessen ist, je hochwertiger die gefährdeten Rechtsgüter sind (
BGE 125 IV 113
BGE 133 IV 201 S. 204
E. 2a S. 116 f.;
BGE 124 IV 193 E. 3, 4d/aa). Die Prognose über das künftige Wohlverhalten ist in einer Gesamtwürdigung zu erstellen, welche nebst dem Vorleben, der Persönlichkeit und dem Verhalten des Täters während des Strafvollzugs vor allem dessen neuere Einstellung zu seinen Taten, seine allfällige Besserung und die nach der Entlassung zu erwartenden Lebensverhältnisse berücksichtigt (
BGE 124 IV 193 E. 3;
BGE 119 IV 5 E. 1a/bb). Dabei steht der zuständigen Behörde ein Ermessensspielraum zu. Das Bundesgericht greift in die Beurteilung der Bewährungsaussicht nur ein, wenn sie ihr Ermessen über- oder unterschritten oder missbraucht und damit Bundesrecht verletzt hat. Eine Ermessensüberschreitung kann etwa darin liegen, auf eine Gesamtwürdigung aller für die Prognose relevanten Umstände zu verzichten und auf die Vorstrafen allein abzustellen (Urteile 6A.86/2002 vom 20. Januar 2003 und 6A.41/2002 vom 25. Juni 2002, E. 3).
3.1 Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Entscheid erwogen, der Beschwerdeführer habe am 29. Juli 2006 zwei Drittel seiner Strafe verbüsst, womit die zeitliche Voraussetzung von
Art. 86 Abs. 1 StGB für eine bedingte Entlassung erfüllt sei. Ebenfalls unstrittig sei, dass sich der Beschwerdeführer im Vollzug tadellos verhalte. Hingegen könne ihm aus folgenden Gründen keine günstige Prognose gestellt werden:
Der im Kosovo aufgewachsene Beschwerdeführer sei 1982 erstmals in die Schweiz eingereist und verfüge seit 1983 über eine Aufenthaltsbewilligung B. Während seines mehrjährigen Aufenthaltes in der Schweiz in den achtziger Jahren sei es zu Verurteilungen wegen Veruntreuung, Urkundenfälschung und ausländerrechtlichen Delikten gekommen. 1989 sei er aus der Schweiz ausgeschafft worden. 1994 sei er in Deutschland wegen Betäubungsmittelhandels zu 2 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, 1996 wegen gleichartiger Delikte zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren, wobei die beiden Strafen zu einer Gesamtstrafe vereinigt worden seien. Nach seiner Entlassung aus dem Vollzug sei er 1999 mit gefälschten Papieren in die Schweiz eingereist und habe in der Folge in Bern gelebt. Am 30. März 2000 sei er verhaftet und am 6. März 2002 vorab wegen Betäubungsmitteldelikten zu 9 1/2 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Der Beschwerdeführer habe somit bereits während seines ersten Aufenthaltes in der Schweiz delinquiert. Er sei anschliessend in
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Deutschland wiederholt wegen Drogendelikten verurteilt worden, wobei sich die Straftaten nah aneinandergereiht hätten; so sei er nach seiner Entlassung im Jahre 1999 bereits am 30. März 2000 wieder verhaftet worden. Die wiederholten Verurteilungen und die ausgesprochenen Strafen zeigten, dass er seine deliktische Tätigkeit laufend fortgeführt und gesteigert habe, was sich für die Prognose ungünstig auswirke. Aufgrund der Akten sei beim Beschwerdeführer von einer unauffälligen Persönlichkeitsentwicklung auszugehen; im Rahmen des letzten Strafverfahrens seien zudem Geständnisbereitschaft, Reue und Einsicht festgestellt worden. Diese Umstände seien in Bezug auf die Legalprognose positiv zu werten. Anderseits habe der selber nicht süchtige Beschwerdeführer durch seine Straftaten aus finanziellen Motiven die Gesundheit anderer Menschen gefährdet; die sich in diesem Verhalten ausdrückende Rücksichts- und Gewissenlosigkeit sprächen gegen eine günstige Prognose. In Bezug auf die zu erwartenden Lebensverhältnisse wolle der Beschwerdeführer in den Kosovo in das Haus seiner verstorbenen Eltern ziehen und sich dort eine neue Existenz aufbauen. Das erscheine nicht unrealistisch und wäre positiv zu werten, könne indessen nicht überprüft werden, da der Beschwerdeführer keine entsprechenden Beweismittel eingereicht habe. Nicht auszuschliessen sei zudem eine illegale Rückkehr in die Schweiz; dies würde sich negativ auf die Legalprognose auswirken.
Bei der Gesamtbeurteilung wiege das kriminelle Vorleben des Beschwerdeführers schwer, er habe in zeitlich kurzer Abfolge delinquiert, die ausgesprochenen Strafen seien von 2 auf 9 1/2 Jahre gestiegen; die Verurteilungen und der Strafvollzug hätten ihn von weiterer Delinquenz nicht abhalten können. Hinzu komme, dass er ein grosses Gefährdungspotential für viele Menschen geschaffen habe; mögliche Rückfalltaten wögen daher schwer, sodass auch ein geringes Rückfallrisiko nicht in Kauf genommen werden könne. Die Vorinstanz habe zu Recht eine negative Legalprognose gestellt. Es gebe zwar keine Hinweise dafür, dass nach einer Vollverbüssung der Strafe das Rückfallrisiko geringer sei; anderseits biete die bedingte Entlassung auch keine Vorteile. Eine Überwachung im Kosovo während der Bewährungszeit und eine allfällige Rückversetzung in den Strafvollzug seien Illusion. Damit sei die bedingte Entlassung abzulehnen.
3.2 Der Entscheid über die bedingte Entlassung des Beschwerdeführers hängt einzig davon ab, ob ihm eine günstige Prognose im
BGE 133 IV 201 S. 206
Sinne von
Art. 86 Abs. 1 StGB gestellt werden kann, die anderen Voraussetzungen sind unbestrittenermassen erfüllt. Gegen eine günstige Prognose spricht das Vorleben des Beschwerdeführers, der sich durch verschiedene strafrechtliche Verurteilungen nicht davon abhalten liess, aus rein finanziellen Motiven weitere und zunehmend schwerwiegendere Delikte zu begehen. Die weiteren Beurteilungsfaktoren sind demgegenüber, wovon auch das Verwaltungsgericht ausgeht, positiv oder neutral. So wurden dem Beschwerdeführer im letzten Strafverfahren Geständnisbereitschaft, Reue und Einsicht zugutegehalten, und sein Benehmen im Strafvollzug gab zu keinerlei Klagen Anlass. Seine Aussichten, im Kosovo eine Existenz aufbauen zu können, erscheinen zudem realistisch, auch wenn dies nicht überprüfbar ist. Insgesamt spricht somit einzig das Vorleben des Beschwerdeführers gegen eine günstige Legalprognose, während sein Verhalten im letzten Strafverfahren und im Strafvollzug Anhaltspunkte dafür sind, dass er eine positive Persönlichkeitsentwicklung durchgemacht haben könnte und nunmehr willens ist, sich von seiner kriminellen Vergangenheit zu verabschieden und sich in seiner Heimat eine legale Existenz aufzubauen. Es ist damit zwar keineswegs gewiss, dass sich der Beschwerdeführer gebessert hat. Soll aber die bedingte Entlassung nach dem klaren Willen des Gesetzgebers die Regel bilden, geht es nicht an, die günstige Legalprognose gestützt allein auf das (Bedenken weckende) Vorleben zu verneinen. Der Beschwerdeführer wurde zudem insbesondere wegen Drogenhandels verurteilt, Delikten somit, die in abstrakter Weise die öffentliche Gesundheit gefährden (
BGE 124 IV 97 E. 2c). Auch wenn die Auswirkungen von schweren Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz in keiner Weise zu bagatellisieren sind, so bewirken sie in aller Regel doch keine unmittelbare, konkrete Gefahr für hochwertige Rechtsgüter wie Leib und Leben oder die sexuelle Integrität. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, bei derartigen Delikten sei das Schutzbedürfnis der Bevölkerung so hoch, dass kaum ein Rückfallrisiko in Kauf genommen werden dürfe, trifft nicht zu. Gesamthaft ist damit festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht im Ergebnis allein auf das Vorleben des Beschwerdeführers abstellte und das Schutzbedürfnis der Bevölkerung verabsolutierte; mit dieser Argumentation wäre die bedingte Entlassung für jeden einschlägig vorbestraften Drogenhändler von vornherein ausgeschlossen. Das widerspricht Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung, das Verwaltungsgericht hat seinen Ermessensspielraum überschritten und damit
Art. 86 Abs. 1 StGB verletzt.