Urteilskopf
135 IV 6
2. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen (Beschwerde in Strafsachen)
6B_114/2008 vom 4. November 2008
Regeste
Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG; rechtswidriges Verweilen im Lande; Grundsatz "ne bis in idem"; Schuldprinzip.
Das andauernde und ununterbrochene rechtswidrige Verweilen im Lande ist ein Dauerdelikt. Die Verurteilung wegen dieses Delikts bewirkt eine Zäsur. Das Aufrechterhalten des Dauerzustandes nach dem Urteil ist eine selbständige Tat. Der Grundsatz "ne bis in idem" steht einer neuen Verurteilung für die vom ersten Urteil nicht erfassten Tathandlungen nicht entgegen (E. 3).
Fehlt es nach einem ersten Schuldspruch für eine zweite Verurteilung an einem neuen Tatentschluss, ist bei der Strafzumessung darauf zu achten, dass die Summe der wegen des Dauerdelikts ausgesprochenen Strafen dem Gesamtverschulden angemessen ist und die im Gesetz angedrohte Höchststrafe nicht überschreitet (E. 4).
A. Die Einzelrichterin in Strafsachen des Kantonsgerichts Schaffhausen erklärte X. mit Urteil vom 30. Mai 2007 des rechtswidrigen Verweilens im Lande schuldig und bestrafte ihn mit einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 10.-. An diese Strafe rechnete sie 4 Tage Untersuchungshaft an.
Eine vom Beurteilten gegen diesen Entscheid geführte Berufung wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Urteil vom 11. Januar 2008 ab und bestätigte das erstinstanzliche Urteil.
B. X. führt Beschwerde an das Bundesgericht, mit der er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, und er sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Ferner ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
C. Das Obergericht des Kantons Schaffhausen stellt in seiner Vernehmlassung sinngemäss den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Staatsanwaltschaft schliesst unter Verweisung auf das angefochtene Urteil ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde.
BGE 135 IV 6 S. 8
Aus den Erwägungen:
1. Dem angefochtenen Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 8. Februar 1999 in der Schweiz auf. Das Bundesamt für Flüchtlinge wies ein von ihm gestelltes Asylgesuch am 15. Januar 2001 ab und wies ihn gleichzeitig aus der Schweiz weg. Vom 5. Oktober 2001 bis zum 9. Juli 2004 befand sich der Beschwerdeführer aufgrund eines Urteils des Bezirksgerichts Zürich vom 5. Oktober 2001, mit welchem er zu 3 1/2 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Landesverweisung verurteilt worden war, im Strafvollzug. Am 4. Juni 2004 verfügte das Bundesamt für Zuwanderung, Integration und Auswanderung eine unbefristete Einreisesperre, gültig ab 10. Juli 2004. Mit Strafbefehl vom 30. März 2005 verurteilte die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl den Beschwerdeführer wegen Verweisungsbruchs, begangen vom 10. Juli 2004 bis 29. März 2005, zu 3 Monaten Gefängnis, welche Strafe er vom 30. März 2005 an verbüsste. Seit der Entlassung aus dem Strafvollzug hielt sich der Beschwerdeführer weiterhin ohne gültigen Rechtsgrund in der Schweiz auf.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei schon mit Strafbefehl vom 30. März 2005 wegen Verweisungsbruchs verurteilt worden und könne daher nicht ein weiteres Mal wegen desselben Delikts bzw. wegen rechtswidrigen Verweilens im Lande bestraft werden. Sein Aufenthalt in der Schweiz beruhe auf einem einzigen, ein für alle Mal gefassten Willensentschluss. Dementsprechend habe er nach der ersten Verurteilung nicht einen neuen Entschluss gefasst, im Gebiet der Schweiz zu verbleiben. Es liege daher auch nur eine einzige strafbare Handlung vor.
2.2 Die Vorinstanz nimmt an, beim rechtswidrigen Verweilen im Lande handle es sich um ein Dauerdelikt, das solange andauere, als sich die weggewiesene Person auf dem verbotenen Gebiet aufhalte. Der Täter begehe dieses Delikt nach dem Wegweisungsentscheid so lange bis er das verbotene Gebiet verlassen habe. Der Betroffene könne daher für den Zeitraum seit der Entlassung aus dem Strafvollzug im Kanton Zürich im Jahr 2005 bis zum 29. Oktober 2006, für welchen er noch nicht bestraft worden sei, ohne weiteres wegen rechtswidrigen Verweilens im Lande verurteilt werden.
BGE 135 IV 6 S. 9
3.1 Gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 4 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; BS 1 121) wird, wer rechtswidrig das Land betritt oder darin verweilt, mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft (bzw. in der bis zum Inkrafttreten des revidierten Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches am 1. Januar 2007 gültigen Fassung des Gesetzes mit Gefängnis bis zu 6 Monaten). Rechtswidrig ist der Aufenthalt im Lande, wenn der Ausländer weder über eine Aufenthalts- noch eine Niederlassungsbewilligung verfügt, obschon er einer solchen bedurft hätte (
Art. 1 ANAG e contrario).
3.2 Das andauernde und ununterbrochene rechtswidrige Verweilen im Lande gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG (AS 1949 225 und 2006 3536) ist - wie der Tatbestand des Verweisungsbruchs gemäss
Art. 291 StGB - ein Dauerdelikt (
BGE 104 IV 186 E. 1; Urteil des Bundesgerichts 6S.485/2005 vom 8. Februar 2006 E. 1.2.1). Eine Dauerstraftat liegt vor, wenn die Begründung des rechtswidrigen Zustands mit den Handlungen, die zu seiner Aufrechterhaltung vorgenommen werden, bzw. mit der Unterlassung seiner Aufhebung eine Einheit bildet und das auf Fortführung des deliktischen Erfolgs gerichtete Verhalten vom betreffenden Straftatbestand ausdrücklich oder sinngemäss mitumfasst wird (
BGE 132 IV 49 E. 3.1.2.2;
BGE 131 IV 83 E. 2.1.2 und 2.4.5;
BGE 84 IV 17 E. 2). Das Delikt ist mit der Verwirklichung des Tatbestandes somit nicht abgeschlossen, sondern der rechtswidrige Zustand wird durch den fortdauernden Willen des Täters aufrechterhalten und erneuert sich gewissermassen fortlaufend (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Aufl. 2005, § 12 N. 10; CLAUS ROXIN, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2005, § 10 N. 105).
Die Verurteilung wegen eines Dauerdelikts bewirkt nach der Rechtsprechung dessen Zäsur. Da die Verurteilung nur die Herbeiführung und die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustandes bis zum Urteilszeitpunkt erfasst, ist das Aufrechterhalten des Dauerzustands nach dem Urteil als selbständige Tat zu werten. Die Tateinheit wird durch die Verurteilung aufgehoben, und für neue Delikte gilt der Grundsatz "ne bis in idem" nicht (
BGE 104 IV 230 E. 3 [zur aufgegebenen Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts]). In diesen Fällen ist daher eine neue Verurteilung für die vom ersten Urteil nicht erfassten Tathandlungen (vgl.
BGE 118 IV 269 E. 4) möglich (Urteil des Bundesgerichts 6S.485/2005 vom 8. Februar 2006 E. 1.2.1; vgl. auch
BGE 135 IV 6 S. 10
RUTH RISSING-VAN SAAN, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2006, 2. Bd., N. 56 vor § 52 dStGB; STREE/STERNBERG-LIEBEN, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, N. 87 zu Vorbem. §§ 52 ff. dStGB).
3.3 Im Lichte dieser Rechtsprechung verletzt das angefochtene Urteil kein Bundesrecht. Insbesondere ist keine Verletzung des Grundsatzes "ne bis in idem" (vgl. Art. 4 Protokoll Nr. 7 EMRK vom 22. November 1984 [SR 0.101.07];
Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II [SR 0.103.2];
BGE 128 II 355 E. 5;
BGE 120 IV 10 E. 2b) ersichtlich. Die Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" setzt unter anderem voraus, dass dem Richter im ersten Verfahren die Möglichkeit zugestanden haben muss, den Sachverhalt unter allen tatbestandsmässigen Punkten zu würdigen (
BGE 119 Ib 311 E. 3c mit Hinweisen). Dies trifft hier nicht zu, da der Aufenthalt in der Schweiz seit dem ersten Urteil noch nicht Gegenstand des ersten Verfahrens bilden konnte und somit von der Sperrwirkung der ersten Verurteilung nicht erfasst wird. Gegenstand dieses ersten Strafverfahrens bildete denn auch lediglich der Verweisungsbruch in der Zeit vom 10. Juli 2004 bis zum 29. März 2005 und nicht etwa ein irgendwie gearteter definitiver Entschluss, das Gebiet der Schweiz nie mehr zu verlassen (
BGE 118 IV 269 [generelle Verweigerung des Zivilschutzdienstes]; vgl. auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 23 S. 191,
BGE 118 IV 204 ff.).
4.1 Der Beschwerdeführer beruft sich für seinen Standpunkt auf ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), welches in einem Fall der andauernden Weigerung eines in Deutschland lebenden algerischen Vaters, seine Tochter von einem Verwandtenbesuch aus Algerien zu ihrer Mutter zurückkehren zu lassen, zum Schluss gelangt, eine zweite Verurteilung wegen derselben Kindesentziehung, die sich allein auf die dogmatische Figur der Zäsurwirkung stütze, lasse sich mit dem Schuldprinzip nicht vereinbaren (Urteil BVerfG, 2 BvR 1895/05 vom 27. Dezember 2006, in: EuGRZ 2007 S. 64; vgl. auch ANDREAS ZÜND, in: Migrationsrecht, Kommentar, hrsg. von Marc Spescha und anderen, N. 6 zu
Art. 115 AuG S. 250).
4.2 Die Vorbehalte, welche das deutsche Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Schuldprinzips gegen die Zäsurwirkung beim Dauerdelikt vorbringt, erlangen auch im vorliegend zu
BGE 135 IV 6 S. 11
beurteilenden Kontext Bedeutung. Denn die Strafverfolgungsbehörden schaffen durch die Eröffnung eines erneuten Strafverfahrens unter Verweis auf die Zäsurwirkung der vorausgegangenen Verurteilung jeweils selbst die Voraussetzung für die Verurteilung wegen einer vermeintlich neuen Tat. In einem solchen Fall bildet letztlich nicht die individuelle Schuld des Täters Anlass der Bestrafung und Grundlage der Strafzumessung, sondern die von Zufälligkeiten abhängige Geschwindigkeit der Strafverfolgung, die zur Konstruktion von Zäsurwirkungen führt (vgl. Urteil BVerfG, 2 BvR 1895/05 vom 27. Dezember 2006, E. C.II. b/bb, in: EuGRZ 2007 S. 66). Die Problematik manifestiert sich im Besonderen bei der Konstellation, in welcher die infolge der Zäsurwirkung in verschiedenen Strafverfahren ausgesprochenen Strafen die im fraglichen Tatbestand angedrohte Höchststrafe in ihrer Gesamtheit überschreiten. In diesem Fall wird das Schuldprinzip, auf welchem das Strafrecht fusst (
BGE 123 IV 1 E. 2), unterlaufen und kommt der erneuten Bestrafung zunehmend eine Beugewirkung zur Erzwingung der unterlassenen Handlung zu.
Dieser Problematik ist insofern Rechnung zu tragen, als eine neuerliche Verurteilung wegen eines Dauerdelikts und eine Zumessung der Strafe ohne Rücksicht auf die bereits in einem früheren Strafurteil erfasste Dauer der Tatbestandsverwirklichung erfordert, dass der Täter nach dem früheren Schuldspruch einen vom früheren losgelösten, neuen Tatentschluss fasst. Fehlt es an einem solchen, beruht die nach dem vorangegangenen Schuldspruch andauernde Verwirklichung des Dauertatbestandes mithin auf einem fortwirkenden, schon vor der ersten Verurteilung gefassten einheitlichen Tatentschluss, muss der Richter im neuen Urteil bei der Zumessung der Strafe für die noch nicht beurteilte Deliktsdauer mit Blick auf das Schuldprinzip darauf achten, dass die Summe der wegen des Dauerdelikts ausgesprochenen Strafen dem Gesamtverschulden angemessen ist (Art. 47 Abs. 1 StGB) und die im fraglichen Tatbestand angedrohte Höchststrafe nicht überschreitet.
4.3 Im zu beurteilenden Fall verletzt das angefochtene Urteil auch unter diesem Gesichtspunkt Bundesrecht nicht. Der Beschwerdeführer ist in einem ersten Verfahren des Verweisungsbruchs im Sinne von
Art. 291 StGB wegen Missachtung der durch das Bezirksgericht Zürich ausgesprochenen Landesverweisung schuldig erklärt worden. Das Gesetz droht für diesen Tatbestand eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren (nach der bis zum 1.1.2007 geltenden Fassung Gefängnis) oder Geldstrafe an. Im angefochtenen neuen Urteil, in
BGE 135 IV 6 S. 12
welchem keine Verurteilung wegen Verweisungsbruchs erfolgte, weil mit Inkrafttreten des neuen Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches altrechtlich ausgesprochene Landesverweisungen aufgehoben wurden (Art. 1 Abs. 2 Schlussbestimmungen der Änderung vom 13. Dezember 2002), lautet der Schuldspruch auf rechtswidriges Verweilen im Land gemäss Art. 23 Abs. 1 al. 4 ANAG. Dieser Tatbestand droht Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen (bzw. nach der bis zum 1. Januar 2007 geltenden Fassung Gefängnis bis zu sechs Monaten) an. Die in beiden Urteilen ausgesprochenen Strafen von drei Monaten Gefängnis und Geldstrafe von 90 Tagessätzen erweisen sich in ihrer Summe dem Verschulden als angemessen und überschreiten die Höchststrafe nicht. Eine Verletzung des dem Richter bei der Strafzumessung zustehenden Ermessens ist nicht ersichtlich.
Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet.