BGE 138 IV 258 |
38. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y. und Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_432/2011 vom 20. September 2012 |
Regeste |
Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG, Art. 115 ff. StPO, Art. 90 Ziff. 1 SVG; Begriff des Geschädigten bei Verkehrsunfällen ohne Körperschaden. |
Geschädigtenstellung nach Art. 115 Abs. 1 StPO als Voraussetzung für die Berechtigung zur Beschwerde in Strafsachen als Privatkläger (E. 2.1). Als geschädigte Person gilt, wer Träger des Rechtsguts ist, das durch die fragliche Strafbestimmung vor Verletzung oder Gefährdung unmittelbar geschützt werden soll (E. 2.2-2.4). |
Übersicht über die unterschiedlichen Lehrmeinungen zum Rechtsgut, das mit Art. 90 Abs. 1 SVG geschützt wird (E. 3). Unmittelbar geschützt ist der reibungslose Ablauf der Fortbewegung auf öffentlichen Strassen. Individualinteressen wie Leib und Leben oder das Eigentum bzw. Vermögen werden nur mittelbar geschützt (E. 3.1, 3.2 und 4.1). |
Hat eine Person bei einem Verkehrsunfall ausschliesslich einen materiellen Schaden erlitten, so ist sie im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO nicht in ihren Rechten unmittelbar verletzt. Sie ist somit gestützt auf Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG nicht zur Beschwerde in Strafsachen legitimiert (E. 4). |
Sachverhalt |
A. Am 27. Oktober 2009 wollte X. am Steuer seines Personenwagens auf der Äusseren Luzernerstrasse in Oftringen zunächst nach links abbiegen, entschied sich aber wegen des entgegenkommenden Verkehrs für das Abbiegen nach rechts und kollidierte bei diesem Manöver mit dem rechts vorfahrenden Motorradfahrer Y. Dieser kam zu Fall und wurde verletzt. An beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden. |
Der Präsident II des Bezirksgerichts Zofingen verurteilte X. am 15. Juni 2010 wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln durch ungenügende Aufmerksamkeit zu einer Busse von Fr. 200.- und zur Bezahlung eines Schadenersatzbetrags von Fr. 861.75 an den Privatkläger Y. Die Berufung von X. gegen dieses Urteil blieb ebenso erfolglos wie die anschliessend beim Bundesgericht eingereichte Beschwerde in Strafsachen. Diese wurde vom Bundesgericht mit Urteil vom 31. August 2011 abgewiesen, soweit darauf einzutreten war (Verfahren 6B_256/2011).
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Ein erstes Revisionsgesuch von X. gegen dieses Urteil wies das Bundesgericht mit Urteil vom 24. November 2011 ab (Verfahren 6F_14/2011). Ein zweites Revisionsgesuch wurde am 1. März 2012 abgewiesen, soweit darauf einzutreten war (Verfahren 6F_20/2011).
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B. Am 12. Juli 2010 hatte X. eine Strafanzeige gegen Y. wegen Widerhandlungen gegen das SVG eingereicht und als Privatkläger eine Schadenersatzforderung von Fr. 3'030.95 erhoben. Mit Verfügung vom 11. Januar 2011 sistierte die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm die Strafuntersuchung gegen Y. bis zum Abschluss des Strafverfahrens gegen X.
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Am 23. Juli 2011 reichte X. gegen die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm eine Rechtsverweigerungsbeschwerde ein. Er beantragte, es sei zu prüfen, ob ein Beleg über einen bei Y. vorgenommenen Alkohol-Atemlufttest vorhanden sei bzw. ob ein solcher Test durchgeführt worden sei, und die Fahrfähigkeit von Y. im Unfallzeitpunkt sei zu klären, insbesondere unter Beizug der Unterlagen des Spitals Zofingen.
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C. Mit Entscheid vom 11. August 2011 wies die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau die Beschwerde ab, soweit sie darauf eintrat. Sie liess die Frage der Beschwerdeberechtigung von X. offen und erwog in der Sache, das Verfahren gegen Y. sei zurzeit sistiert und es bestehe keine Dringlichkeit zur Vornahme der beantragten Untersuchungshandlungen. Falls ein Alkohol-Atemlufttest durchgeführt worden sei, werde sich der entsprechende Beleg in den Akten finden. Andernfalls könne der Frage der Fahrfähigkeit von Y. dereinst durch Befragung der beteiligten Personen nachgegangen werden.
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D. Mit Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht vom 20. September 2011 beantragt X., den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Behörden des Kantons Aargau anzuweisen, die verlangten Untersuchungshandlungen vorzunehmen. (...) Er macht insbesondere geltend, die Personenbefragung sei dringend, da das Erinnerungsvermögen der Beteiligten mit zunehmendem zeitlichem Abstand von den Ereignissen nachlasse. (...) |
F. Am 4. September 2012 haben die I. öffentlich-rechtliche Abteilung und die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts zu einer Rechtsfrage, die für die Beurteilung der vorliegenden Angelegenheit entscheidend ist, ein Verfahren nach Art. 23 Abs. 2 BGG durchgeführt (s. E. 4.1 hiernach).
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Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 1 |
1.3 Die Staatsanwaltschaft verneint in ihrer Vernehmlassung die Beschwerdeberechtigung des Beschwerdeführers gestützt auf Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG. Wohl habe dieser erklärt, sich als Privatkläger am Strafverfahren gegen Y. beteiligen zu wollen und seine Zivilansprüche beziffert, doch seien die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verfahrensbeteiligung nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer habe keine Geschädigtenstellung im Sinne von Art. 115 StPO, weil die Verkehrsregeln den einzelnen Verkehrsteilnehmer nur mittelbar schützten. |
Der Beschwerdeführer macht dagegen geltend, er sei durch die Kollision mit dem Motorradfahrer, der sich verkehrsregelwidrig verhalten habe, zu Schaden gekommen (Sachschaden am Personenwagen) und deshalb befugt, im Strafverfahren gegen Y. als Privatkläger Parteirechte auszuüben.
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Erwägung 2 |
2.2 Der Begriff des Geschädigten war bis zum Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung in den Kantonen uneinheitlich geregelt. Immerhin galten bereits im Zusammenhang mit kantonalen Umschreibungen und der Legitimation zur früheren eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde bestimmte Grundsätze (vgl. Art. 270 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 15. Juni 1934 über die Bundesstrafrechtspflege [BStP] in der durch das Opferhilfegesetz vom 4. Oktober 1991 eingeführten Fassung [AS 1992 2465, 2473]). Daran hat der Gesetzgeber in Art. 115 StPO angeknüpft (Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 ff., 1169 f. Ziff. 2.3.3.1 auch zum Folgenden; MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 18 zu Art. 115 StPO; CAMILLE PERRIER, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 5 f. zu Art. 115 StPO, je mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung). Insbesondere geht die Umschreibung der unmittelbaren Verletzung in eigenen Rechten vom Begriff des Rechtsgutes aus: Danach ist unmittelbar verletzt und geschädigt im Sinne von Art. 115 StPO, wer Träger des durch die verletzte Strafnorm geschützten oder zumindest mitgeschützten Rechtsgutes ist (vgl. die umfangreichen Hinweise auf die herrschende Lehre und publizierte Praxis bei MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, a.a.O., N. 21 [Fn. 32] zu Art. 115 StPO; PERRIER, a.a.O., N. 6 [Fn. 12] und 8 ff. zu Art. 115 StPO). Dieser Sichtweise folgte das Bundesgericht in konstanter Rechtsprechung (auch im Zusammenhang mit dem Opferhilfegesetz vom 4. Oktober 1991 [aOHG]; statt vieler BGE 129 IV 95 E. 3.1 S. 98; BGE 128 I 218 E. 1.5; BGE 120 Ia 220 E. 3b S. 223; je mit Hinweisen). |
2.4 Der Gesetzgeber verzichtete beim Erlass der Schweizerischen Strafprozessordnung darauf, Zweifelsfragen in Bezug auf den Begriff der geschädigten Person zu entscheiden (vgl. Botschaft des Bundesrates zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1170). Am Beispiel der Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB) wird in der bundesrätlichen Botschaft (a.a.O.) darauf hingewiesen, dass die Geschädigtenstellung und damit die Möglichkeit, im Prozess als Privatklägerin oder Privatkläger mitzuwirken, davon abhänge, ob mit dem Tatbestand individuelle Rechtsgüter unmittelbar oder lediglich mittelbar geschützt werden. Zum Tatbestand der Leugnung von Völkermord oder anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 zweiter Teilsatz StGB führte der Bundesrat aus, dieser werde nach der bundesgerichtlichen Praxis ausschliesslich als Delikt gegen den öffentlichen Frieden verstanden. Individuelle Rechtsgüter würden dadurch nur mittelbar, nicht aber, wie für den Begriff der geschädigten Person notwendig, unmittelbar geschützt (BGE 129 IV 95 E. 3.5 S. 105). Anders wäre nach den Ausführungen in der Botschaft zu entscheiden, wenn mit einem Teil der Lehre nicht der öffentliche Frieden, sondern die Menschenwürde als unmittelbar geschütztes Rechtsgut betrachtet würde. |
3.1 Zahlreiche Autoren stützen sich darauf, dass die Verkehrsordnung den reibungslosen Ablauf der Fortbewegung auf öffentlichen Strassen schützt, mithin allgemeine Interessen. Individualrechtsgüter wie Leib und Leben oder das Eigentum bzw. Vermögen werden nach dieser Auffassung durch die Verkehrsregeln nur mittelbar geschützt (grundlegend HANS SCHULTZ, Die Strafbestimmungen des SVG, 1964, S. 152 f., mit Hinweis auf die Botschaft zum SVG; MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, a.a.O., N. 88 zu Art. 115 StPO, mit weiteren Verweisungen; PERRIER, a.a.O., N. 16 zu Art. 115 StPO). Diese Lehrmeinung liegt auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts zugrunde. So führte das Bundesgericht im Urteil 6S.679/1996 vom 14. Januar 1997 E. 1a zum damals in Kraft stehenden Art. 270 Abs. 1 BStP aus, bei Verkehrsregelverletzungen sei der allenfalls eingetretene Schaden nicht die unmittelbare, sondern bloss eine mittelbare Folge der tatbestandsmässigen Handlung. Durch Verkehrsregelverletzungen würden Individualrechtsgüter nicht gleichsam notwendigerweise faktisch (mit)beeinträchtigt. So wie der bei einem Verkehrsunfall Verletzte allein in Bezug auf die vom anderen Verkehrsteilnehmer allenfalls verübte Straftat der fahrlässigen Körperverletzung und nicht auch hinsichtlich der vom anderen allenfalls begangenen Straftaten der Verletzung von Verkehrsregeln oder des Fahrens in angetrunkenem Zustand Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes sei (vgl. BGE 122 IV 71 E. 3a S. 76 f.; BGE 129 IV 95 E. 3.1 S. 99; Urteil 1C_208/2011 vom 1. Februar 2012 E. 3.5.2), sei derjenige, der bei einem Verkehrsunfall einen Sachschaden erleide, in Bezug auf die dem anderen zur Last gelegte Verkehrsregelverletzung nicht Geschädigter im Sinne des Strafprozessrechts (vgl. NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2004, N. 509). |
3.1.3 Bei schwerer Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Ziff. 2 SVG) kann sich fragen, ob eine unfallbedingte fahrlässige Tötung oder Körperverletzung nicht nur eine Geschädigtenstellung gestützt auf Art. 117 bzw. 125 StGB begründet, sondern zugleich auch eine solche nach Art. 90 Ziff. 2 SVG, weil diese Vorschrift nach verbreiteter Lehrmeinung nebst dem Schutz des allgemeinen Interesses der Verkehrssicherheit auch dem Schutz der körperlichen Integrität der Verkehrsteilnehmer dient (MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, a.a.O., N. 88 zu Art. 115 StPO; PERRIER, a.a.O., N. 17 zu Art. 115 StPO; SCHULTZ, a.a.O., S. 174; YVAN JEANNERET, La poursuite des infractions routières et le CPP: quid novi? [nachfolgend: Poursuite], Strassenverkehr/Circulation routière 2/2011 S. 30). Das Bundesgericht hat ein solch weiter gefasstes Verständnis der Geschädigtenstellung bisher freilich nicht übernommen. Es erachtet in seiner bisherigen Rechtsprechung bei Verkehrsunfällen mit Tötung oder Körperverletzung den durch einen anderen Verkehrsteilnehmer verwirklichten Tatbestand des Strafgesetzbuches als massgebend für die Geschädigtenstellung, nicht aber (auch) die vom anderen Verkehrsteilnehmer begangenen Straftaten der schweren Verkehrsregelverletzung und allenfalls des Fahrens in angetrunkenem Zustand (BGE 129 IV 95 E. 3.1 S. 99; Urteile 1C_208/2011 vom 1. Februar 2012 E. 3.5.2; 6B_548/2009 vom 3. Dezember 2009 E. 3.3). Die Geschädigtenstellung bei Widerhandlungen nach Art. 90 Ziff. 2 SVG ist in der vorliegenden Angelegenheit nicht weiter zu prüfen. |
3.3 Eine andere Lehrmeinung geht davon aus, dass Art. 90 SVG nicht nur die Einhaltung der Verkehrsregeln, sondern auch Leib und Leben sowie das Eigentum schützt. Nach dieser Auffassung dienen Verkehrsregeln mehrheitlich dazu, dass der Verkehr geregelt abläuft und nicht durch Unfälle beeinträchtigt wird. Bei Unfällen bestehe ein grosses Risiko, dass Menschen verletzt würden und deren Eigentum beeinträchtigt wird. Diese Gefahr werde durch Verkehrsregeln gemindert. Allerdings wird eingeräumt, dass nicht jede Verkehrsregel in gleicher Weise der Verkehrssicherheit dient, weshalb das Schutzobjekt in Bezug auf die einzelnen durch Art. 90 SVG abgesicherten Verkehrsregeln zu bestimmen sei. Die Grundregel des Verbots der Verkehrsgefährdung beziehe sich auf die Gefährdung anderer bei der ordnungsgemässen Benützung der Strasse (Art. 26 Abs. 1 SVG). Damit seien Gefährdungen gemeint, die sich gegen Individualrechtsgüter dieser anderen Personen richteten. Im Vordergrund stehe das Individualrechtsgut des Lebens und der körperlichen Integrität, da die im Strassenverkehr wirkenden physikalischen Kräfte für Leib und Leben der Menschen besonders gefährlich werden könnten. Aber auch Sachwerte wie die Fahrzeuge der Verkehrsteilnehmer könnten bei einer Gefährdung im Sinne von Art. 26 Abs. 1 SVG durch andere Verkehrsteilnehmer beeinträchtigt werden. Auch hier sei bereits die Gefährdung erfasst, weiter aber auch die fahrlässige Verletzung (Art. 100 SVG). Der Schutzbereich soll damit auch körperliche Teile des Vermögens, genauer die Dispositionsmacht über in das Verkehrsgeschehen eingebrachte Sachwerte umfassen (zum Ganzen GERHARD FIOLKA, Das Rechtsgut, Bd. II, 2006, S. 646 ff., 655 ff., 682 ff.; YVAN JEANNERET, Les dispositions pénales de la loi sur la circulation routière, 2007, N. 5 zu Art. 90 SVG; derselbe, Poursuite, a.a.O., S. 30; s. auch RENÉ SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. III, 1995, S. 164). |
3.3.2 Für die Bejahung des Schutzes individueller Rechtsgüter bei der Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG kann auch sprechen, dass das Strassenverkehrsrecht in den letzten Jahrzehnten parallel zur enormen Zunahme des Verkehrs zahlreichen Revisionen unterzogen wurde, die zu einem wesentlichen Teil auf eine bessere Vermeidung von Unfällen abzielten. Die ergriffenen Massnahmen erstrecken sich von zusätzlichen Schutzvorschriften wie Sicherheitsgurten- und Helmtragpflichten, Ausrüstungsvorschriften für Fahrzeuge und Geschwindigkeitsbeschränkungen über neue Regeln zur Fahrfähigkeit und zur Führerausbildung bis hin zu neuen Vortrittsregeln für Fussgänger und Verschärfungen der Führerausweisentzugs-Bestimmungen (vgl. die Übersicht über das Inkrafttreten der wichtigsten verkehrssicherheitsrelevanten Vorschriften des Strassenverkehrsrechts in der Schweiz im Anhang zur Botschaft des Bundesrats vom 20. Oktober 2010 zu Via sicura, Handlungsprogramm des Bundes für mehr Sicherheit im Strassenverkehr, BBl 2010 8447 ff., 8527 ff.). Zudem leistete die gestützt auf die Verordnung vom 28. September 2001 über die Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen (SR 741.213.3) an vielen Orten erfolgte Verkehrsberuhigung einen wichtigen Beitrag zur Verminderung von Unfällen. Mit all diesen Massnahmen konnte die Zahl der im Schweizer Strassenverkehr getöteten Menschen von 1773 im Jahre 1971 auf 349 im Jahr 2009 gesenkt werden (vgl. Botschaft Via sicura, BBl 2010 8455). Am 15. Juni 2012 beschlossen die Eidgenössischen Räte im Rahmen des genannten Handlungsprogramms Via sicura eine weitere Revision des SVG, die auf eine Verbesserung der Sicherheit im Strassenverkehr ausgerichtet ist. Aus der Botschaft zu diesem Handlungsprogramm ergibt sich, dass die grossen Anstrengungen des Gesetzgebers und die den Verkehrsteilnehmenden dadurch auferlegten Pflichten die primäre Zielsetzung verfolgen, die Zahl der Verkehrsopfer (Getötete und Schwerverletzte) noch weiter zu senken (BBl 2010 8461 f.). Damit steht nach der genannten neuen Lehrmeinung der Schutz der individuellen Rechtsgüter Leib und Leben im Vordergrund. Untrennbar damit verbunden sei der Schutz des Eigentums (vgl. FIOLKA, a.a.O., S. 653 f., 655 f., 682 ff.). Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Gesetzgebung im Bereich des Strassenverkehrs erscheint als fraglich, ob die Auffassung, die Verkehrsordnung schütze generell bloss den reibungslosen Ablauf der Fortbewegung auf öffentlichen Strassen, mithin allgemeine Interessen, und Individualrechtsgüter wie Leib und Leben oder das Eigentum bzw. Vermögen würden durch die Verkehrsregeln nur mittelbar geschützt, in dieser Allgemeinheit noch zutrifft. |
Erwägung 4 |
"Ist eine Person, die im Rahmen eines Verkehrsunfalls ausschliesslich einen materiellen Schaden erlitten hat, gestützt auf Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG berechtigt, Beschwerde in Strafsachen zu führen gegen ein letztinstanzliches Strafurteil, das sich auf Art. 90 Ziff. 1 SVG stützt?"
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Die Vereinigung der Abteilungen beschloss in einem Mehrheitsentscheid, die Rechtsfrage zu verneinen. Damit wird die Praxis zum Begriff der geschädigten Person bei Verkehrsunfällen im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO auf der Grundlage der in den E. 3.1 und 3.2 hiervor genannten Grundsätze begründet. Eine Ausdehnung der Geschädigtenstellung auf Personen, die lediglich einen Sachschaden erlitten haben, erscheint nicht angezeigt, da der Gesetzgeber mit der geltenden Regelung an die Begriffsverwendung nach der bisherigen Praxis anknüpfte (vgl. E. 2.2 hiervor) und keine Hinweise bestehen, dass er eine Änderung am Verständnis der unmittelbaren Rechtsverletzung bei SVG-Widerhandlungen beabsichtigt hätte. Hinzu kommt, dass die fahrlässige Sachbeschädigung nach Art. 144 StGB nicht strafbar ist (BGE 116 IV 143 E. 2b S. 145; vgl. E. 4.3 hiernach). Die für eine Abweichung von diesem Grundsatz im Bereich der Strassenverkehrsdelikte nach Art. 1 StGB notwendige ausdrückliche gesetzliche Grundlage liegt nicht vor. Schliesslich besteht für Schäden, die von Motorfahrzeughaltern verursacht werden, eine umfassende Versicherungspflicht (Art. 58 ff. SVG). Diese dient dazu, auch die Sachschäden infolge einer Verkehrsregelverletzung auszugleichen. Es ist davon auszugehen, dass eine zusätzliche Beteiligung des Geschädigten im Sinne von Art. 58 Abs. 1 i.V.m. Art. 65 SVG am Strafverfahren wegen der Verkehrsregelverletzung in der Regel nicht notwendig ist, um dessen Zivilansprüche zu erfüllen.
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4.2 Auch die (Wieder-)Einführung der Beschwerdemöglichkeit des Geschädigten an das Bundesgericht durch die Revision von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG gemäss Anhang Ziff. II 5 des Strafbehördenorganisationsgesetzes vom 19. März 2010 (StBOG; SR 173.71) mit Wirkung auf den 1. Januar 2011 (Inkrafttreten der StPO) legt kein weiteres Verständnis des Begriffs der geschädigten Person im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO nahe. Die Neufassung der Legitimationsvorschrift knüpft an den Begriff der Privatklägerschaft gemäss Art. 118 StPO an. Privatkläger ist neben der Person, die einen Strafantrag gestellt hat (Art. 118 Abs. 2 StPO), die geschädigte Person im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO. Als solche gilt, wer durch die Straftat in eigenen Rechten unmittelbar verletzt worden ist. Der Gesetzgeber knüpfte auch mit dieser Regelung an die Begriffsverwendung in der bisherigen Praxis an (vgl. E. 2.2 hiervor). In den eidgenössischen Räten gingen die Meinungen über das Prinzip und die Tragweite der Beschwerdemöglichkeit des Privatklägers an das Bundesgericht weit auseinander. Erst in der Differenzbereinigung zum Strafbehördenorganisationsgesetz setzte sich die geltende Fassung im Sinne einer "Zwischenlösung" (Bundesrätin Widmer-Schlumpf) bzw. "Mittellösung" (Nationalrat Vischer) zwischen der in der Strafprozessordnung ursprünglich vorgesehenen umfassenden Beschwerdemöglichkeit einerseits und dem mit Einführung des BGG zur Entlastung des Bundesgerichts beschlossenen Ausschluss der Geschädigtenbeschwerde andererseits durch (vgl. dazu detailliert und mit Hinweisen auf die Materialien MARC THOMMEN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 47-55 und 24-29 zu Art. 81 BGG). Aus der Entstehungsgeschichte von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG (in der heutigen Fassung) ergeben sich für die Auslegung des Geschädigtenbegriffs nach Art. 115 StPO keine neuen Erkenntnisse. |
4.3 Der Hinweis des Beschwerdeführers auf Art. 91 SVG (Fahren in angetrunkenem Zustand) ändert am vorstehend Ausgeführten ebenfalls nichts (vgl. auch MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, a.a.O., N. 88 [am Ende] zu Art. 115 StPO). Nach SCHULTZ (a.a.O., S. 183) handelt es sich dabei ohnehin um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das (bloss) die Sicherheit des öffentlichen Verkehrs auf der Strasse schützt (vgl. E. 3.1.2 hiervor). Ebenso wenig kann dem Beschwerdeführer der Umstand helfen, dass Art. 144 StGB die Beschädigung einer fremden Sache unter Strafe stellt und dass diese Strafnorm klarerweise Individualinteressen (Vermögensinteressen) des Betroffenen schützen will. Denn nach dieser Vorschrift strafbar ist nur die bei Verkehrsunfällen regelmässig nicht gegebene vorsätzliche Sachbeschädigung (BGE 116 IV 143 E. 2b S. 145; BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. I, 3. Aufl. 2010, N. 23 zu Art. 144 StGB; PHILIPPE WEISSENBERGER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 27 zu Art. 144 StGB; PERRIER, a.a.O., N. 16 zu Art. 115 StPO). Eine solche steht vorliegend nicht infrage. Damit ist zugleich gesagt, dass die Beschwerdebefugnis gestützt auf Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 6 BGG (Beschwerdeberechtigung des Strafantragsberechtigten) als Legitimationsnorm ausscheidet. |