BGE 146 IV 226
 
23. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_1188/2018 vom 26. September 2019
 
Regeste
Art. 141 Abs. 2 StPO; Art. 4 Abs. 4 DSG; Art. 90 Abs. 1 und 2 SVG; Verwertbarkeit von privaten Dashcam-Aufnahmen im Strafprozess.
Die Erstellung von Aufnahmen mittels einer Dashcam ist als heimlich im Sinne von Art. 4 Abs. 4 DSG und damit als rechtswidrig zu qualifizieren (E. 3).
Bei den Tatbeständen von Art. 90 Abs. 1 und 2 SVG handelt es sich um Übertretungen und Vergehen, die nach der Rechtsprechung nicht als schwere Straftaten im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO zu qualifizieren sind. Dieser Massstab gilt auch bei der Verwertung privat erhobener Beweise (E. 4).
 
Sachverhalt


BGE 146 IV 226 (227):

A. Das Bezirksgericht Bülach erklärte A. am 26. April 2018 der mehrfachen, teilweise groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig. Es bestrafte sie mit einer bedingten Geldstrafe von 110 Tagessätzen zu Fr. 150.- sowie einer Busse von Fr. 4'000.-. Dagegen erhob A. Berufung. Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 9. Oktober 2018 das erstinstanzliche Urteil.
B. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, sie sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen.


BGE 146 IV 226 (228):

C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Obergericht verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
2.2 Bei der Interessenabwägung hat das Bundesgericht bereits vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung festgehalten, dass es einer Güterabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung und dem privaten Interesse der angeklagten Person bedarf, dass der fragliche Beweis unterbleibt (BGE 137 I 218 E. 2.3.4 mit Hinweisen). Hinsichtlich staatlich erhobener Beweise nimmt Art. 141 Abs. 2 StPO eine solche Interessenabwägung nunmehr selber vor. Demnach dürfen Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich. Aus der Sicht der beschuldigten Person ist es unerheblich, durch wen die Beweise erhoben worden sind, mit welchen sie in einem gegen sie gerichteten Strafverfahren konfrontiert wird. Es erscheint deshalb angemessen, bei der Interessenabwägung im Sinne der oben erwähnten Rechtsprechung denselben Massstab wie bei staatlich erhobenen Beweisen anzuwenden und Beweise, die von Privaten rechtswidrig erlangt worden sind, nur zuzulassen, wenn dies zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich ist. Dies drängt sich umso mehr auf, als Art. 150 des Vorentwurfes zur Schweizerischen Strafprozessordnung noch vorsah, dass Beweise, die von Privaten auf strafbare

BGE 146 IV 226 (229):

Weise erlangt wurden, nur verwertet werden dürfen, wenn das öffentliche oder private Interesse an der Wahrheitsfindung die durch die verletzten Strafbestimmungen geschützten Interessen überwiegt und diese Bestimmung nach scharfer Kritik im Vernehmlassungsverfahren keinen Eingang in die Botschaft fand. Kritisiert wurde unter anderem, dass die blosse Interessenabwägung bei der rechtswidrigen Beweiserhebung durch Private eine nicht gerechtfertigte Besserstellung gegenüber rechtswidrigen staatlichen Beweiserhebungen darstelle (zum Ganzen: GUNHILD GODENZI, Private Beweisbeschaffung im Strafprozess, 2008, S. 335 f.).
 
Erwägung 3
3.1 Das Erstellen von Aufnahmen im öffentlichen Raum, auf welchen Personen oder Autokennzeichen erkennbar sind, stellt ein Bearbeiten von Personendaten im Sinne von Art. 3 lit. a und e des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (DSG; SR 235.1) dar (BGE 138 II 346 E. 6.5; SOPHIE HAAG, Die private Verwendung von Dashcams und der Persönlichkeitsschutz, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht, 2016, S. 171 ff., 172). Art. 4 Abs. 4 DSG bestimmt, dass die Beschaffung von Personendaten und insbesondere der Zweck ihrer Bearbeitung für die betroffene Person erkennbar sein muss. Die Missachtung dieses Grundsatzes stellt eine Persönlichkeitsverletzung dar (Art. 12 Abs. 2 lit. a DSG).
3.3 Eine Persönlichkeitsverletzung im Sinne von Art. 12 DSG ist gemäss Art. 13 Abs. 1 DSG widerrechtlich, wenn kein Rechtfertigungsgrund - namentlich ein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse - vorliegt. In der Doktrin wird teilweise die Auffassung

BGE 146 IV 226 (230):

vertreten, dass solche materiellrechtlichen Rechtfertigungsgründe die Rechtswidrigkeit einer (privaten) Beweiserhebung im verfahrensrechtlichen Kontext nicht zu heilen vermögen. Massgebend sei einzig, dass im Rahmen der Beschaffungshandlung gegen eine Bestimmung des materiellen, objektiv gesetzten schweizerischen Rechts verstossen worden sei. Die Rechtswidrigkeit folge damit im Verfahrensrecht einer autonomen Definition. Begründet wird dies unter anderem damit, dass den widerstreitenden Interessen an der (verfahrensrechtlichen) Verwertbarkeit oder Unverwertbarkeit eines Beweismittels im Rahmen einer bloss materiellrechtlichen Prüfung eines Rechtfertigungsgrundes nicht angemessen Rechnung getragen werde (CAROLINE GUHL, Trotz rechtswidrig beschaffter Beweise zu einem gerechten Straf- und Zivilurteil, 2018, S. 103 ff., mit Hinweis auf YVES RÜEDI, Materiell rechtswidrig beschaffte Beweismittel im Zivilprozess, 2009, S. 161 ff.). Dieser Auffassung ist beizupflichten. Bei der Frage, ob ein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 13 Abs. 1 DSG vorliegt, ist eine Abwägung zwischen den Interessen des Datenbearbeiters und denjenigen der verletzten Person vorzunehmen (AMÉDÉO WERMELINGER, in: Datenschutzgesetz [DSG], Baeriswyl/Pärli [Hrsg.], 2015, N. 2 zu Art. 13 DSG). Bei der Frage der strafprozessualen Verwertbarkeit eines Beweismittels sind hingegen der Strafanspruch des Staates und der Anspruch der beschuldigten Person auf ein faires Verfahren in erster Linie entscheidend; die Interessen des privaten Datenbearbeiters treten dabei zurück.
4. Die Videoaufzeichnung erfolgte in Missachtung von Art. 4 Abs. 4 DSG und ist damit rechtswidrig. Die Vorinstanz qualifizierte das Verhalten der Beschwerdeführerin teils als einfache, teils als grobe Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 1 und 2 SVG). Dabei handelt es sich um Übertretungen und Vergehen, die nach der Rechtsprechung nicht als schwere Straftaten im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO zu qualifizieren sind (BGE 137 I 218 E. 2.3.5.2). Dieser Massstab ist auch bei der Verwertung privat erhobener Beweise anzuwenden (siehe oben, E. 2.2), was dazu führt, dass die Interessenabwägung zuungunsten der Verwertung ausfällt (im Ergebnis übereinstimmend: NIKLAUS RUCKSTUHL, Die strafprozessuale Verwertung von Dashcam-Aufnahmen, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht, 2018, S. 117 ff.; URSULA UTTINGER, Nutzung von Dashcams als Beweismittel, in: Jusletter 12. Februar 2018). Ob die zur Diskussion stehenden Aufzeichnungen rechtmässig durch die Strafverfolgungsbehörden hätten erlangt werden können, kann dabei offenbleiben.