BGE 148 IV 1 |
1. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Solothurn gegen A. und vice versa (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_544/2021 / 6B_610/2021 vom 23. August 2021 |
Regeste |
Art. 59 Abs. 1 und 4, Art. 62a Abs. 1 lit. b, Art. 62c Abs. 1 lit. a, Abs. 3 und 4, Art. 63 Abs. 1, Art. 63a Abs. 2 und 3, Art. 63b Abs. 5 und Art. 64 Abs. 1 StGB; Art. 2 Abs. 2, Art. 29 f., Art. 80 Abs. 1, Art. 197 Abs. 1 lit. a, Art. 393 und Art. 398 Abs. 1-3 StPO; Art. 31 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 BV; ambulante und stationäre therapeutische Massnahme; Antrag auf nachträgliche Anordnung der Verwahrung infolge Aussichtslosigkeit der stationären therapeutischen Massnahme und Antrag auf originäre Verwahrung infolge neuer Anlassdelikte; Verfahrensvereinigung; Zuständigkeit; Grundsatz der Formstrenge. |
Tragweite des in Art. 2 Abs. 2 StPO verankerten Grundsatzes der Formstrenge (E. 3.5.1). Der Grundsatz der Formstrenge steht einer Gesetzesauslegung und einer richterlichen Lückenfüllung nicht entgegen (E. 3.5.2). |
Die kantonalen Instanzen sprachen sich zu Recht für eine Vereinigung des Verfahrens auf nachträgliche Verwahrung im Sinne von Art. 62c Abs. 4 StGB mit dem ebenfalls hängigen Verfahren auf originäre Verwahrung infolge neuer Anlassdelikte und für die abschliessende Beurteilung der Frage der Verwahrung im erstinstanzlichen Strafurteil aus. Die Zuständigkeit für die Beurteilung der Verwahrung im Rechtsmittelverfahren liegt damit ausschliesslich bei der Berufungsinstanz (E. 3.6). |
Sachverhalt |
A.a Das Obergericht des Kantons Solothurn erklärte A. am 14. April 2010 zweitinstanzlich der Vergewaltigung und der sexuellen Handlungen mit einem Kind schuldig. Es verurteilte ihn dafür sowie in Berücksichtigung des erstinstanzlich in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruchs wegen mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Es ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 StGB an und schob den Vollzug der Freiheitsstrafe zugunsten der Massnahme auf. Die von A. gegen die Massnahme nach Art. 59 StGB erhobene Beschwerde in Strafsachen wies das Bundesgericht ab (Urteil 6B_710/ 2010 vom 25. November 2010). |
A.b Das Amtsgericht von Olten-Gösgen verlängerte die stationäre Massnahme am 14. Januar 2016 auf Antrag des Departements des Inneren des Kantons Solothurn, Amt für Justizvollzug (nachfolgend: DdI/SO), um fünf Jahre. Die Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Solothurn hob am 16. September 2016 den Entscheid des Amtsgerichts auf und verlängerte die Massnahme nicht. Stattdessen ordnete es eine ambulante Behandlung verbunden mit Bewährungshilfe an, wobei es den stationären Massnahmenvollzug zur Einleitung der ambulanten Behandlung einstweilen aufrechterhielt. Den Antrag von A. auf umgehende Entlassung aus dem Straf- und Massnahmenvollzug wies es in diesem Sinne ab. Die Entschädigungsforderung von A. für unrechtmässige Haft seit dem 23. August 2011 wies es ebenfalls ab. Das Bundesgericht hiess die von A. dagegen erhobene Beschwerde in Strafsachen im Entschädigungspunkt gut (vgl. Urteil 6B_1213/2016 vom 8. März 2017).
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A.c Mit Verfügung vom 13. Oktober 2016 hob das DdI/SO die mit Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 14. April 2010 angeordnete stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB zufolge Aussichtslosigkeit rückwirkend per 14. Dezember 2014 auf und beantragte beim Amtsgericht von Olten-Gösgen die Verwahrung von A. gemäss Art. 64 i.V.m. Art. 62c Abs. 4 StGB.
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B.
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B.a Am 20. November 2018 eröffnete die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn gegen A. eine Untersuchung wegen des Verdachts auf sexuelle Handlungen mit einem Kind. In der Folge dehnte die Staatsanwaltschaft die Untersuchung auf weitere Vorwürfe aus.
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B.b Am 4. Dezember 2018 hob das DdI/SO die von der Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Solothurn am 16. September 2016 angeordnete ambulante Massnahme nach Art. 63 StGB wegen Aussichtslosigkeit mit sofortiger Wirkung auf und beantragte beim Amtsgericht von Olten-Gösgen die Verwahrung von A.
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B.c Am 17. Dezember 2019 erhob die Staatsanwaltschaft Solothurn beim Amtsgericht von Olten-Gösgen Anklage gegen A. wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern, sexueller Nötigung, mehrfacher Schändung, mehrfacher harter Pornografie und mehrfacher sexueller Belästigung. Die Staatsanwaltschaft beantragte in der Anklageschrift, das Hauptverfahren sei mit den hängigen Nachverfahren gegen A. bezüglich Anordnung der Verwahrung zu vereinigen. |
B.d Mit Beschluss vom 4. Juni 2020 vereinigte das Amtsgericht von Olten-Gösgen das Hauptverfahren betreffend die Anklage der Staatsanwaltschaft Solothurn vom 17. Dezember 2019 (Verfahren OGSAG.2019.28) mit dem (sistierten) Nachverfahren auf Anordnung der Verwahrung gemäss Antrag vom 13. Oktober 2016 (Verfahren OGSAG.2016.34). Das Obergericht des Kantons Solothurn wies die Beschwerde von A. gegen die Verfahrensvereinigung am 8. Juli 2020 ab. Das Bundesgericht trat auf die von A. dagegen erhobene Beschwerde in Strafsachen am 2. September 2020 nicht ein (Urteil 1B_436/2020 vom 2. September 2020).
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B.e Das Amtsgericht von Olten-Gösgen sprach A. mit Urteil vom 10. Dezember 2020 der mehrfachen sexuellen Handlung mit Kindern, der mehrfachen Schändung, der mehrfachen Pornografie und der sexuellen Belästigung schuldig (Anklageschrift Ziff. 1.2, 1.3, 4.2, 4.3, 5 und 6.2). Von den Vorwürfen der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, der sexuellen Nötigung, der Schändung und der sexuellen Belästigung gemäss den Anklageziffern 1.1, 2.1, 2.2, 3, 4.1 und 6.1 sprach es ihn frei. Es verurteilte A. zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten, einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu Fr. 10.- und einer Busse von Fr. 200.-. Die mit Entscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 16. September 2016 angeordnete ambulante Massnahme nach Art. 63 StGB hob es auf. Den Antrag auf Verwahrung von A. wies es ab. (...) Weiter stellte es im vom DdI/SO am 13. Oktober 2016 eingeleiteten Nachverfahren betreffend nachträgliche Verwahrung eine Verletzung des Beschleunigungsgebots fest, wofür es A. eine Genugtuung von Fr. 2'000.- zzgl. Zins von 5 % seit dem 31. Oktober 2017 zusprach.
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B.f Gegen das Urteil des Amtsgerichts von Olten-Gösgen vom 10. Dezember 2020 gelangten u.a. die Staatsanwaltschaft und A. mit Berufung an die Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn.
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B.g Die Staatsanwaltschaft erhob am 25. Januar 2021 zudem bei der Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Solothurn Beschwerde mit den Anträgen, Dispositiv-Ziff. 6 (Abweisung der Anträge auf Verwahrung), 17 und 18 (Verletzung des Beschleunigungsgebots und Ausrichtung einer Genugtuung an A.) sowie 22-24 (Kostenfolgen) des Urteils des Amtsgerichts von Olten-Gösgen vom 10. Dezember 2020 seien aufzuheben und gegenüber A. sei gestützt auf die Anträge des DdI/SO vom 13. Oktober 2016 resp. 4. Dezember 2018 die nachträgliche Verwahrung anzuordnen, eventualiter zunächst eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB. Zudem sei festzustellen, dass das Beschleunigungsgebot nicht verletzt wurde, und es sei A. keine Genugtuung auszurichten. |
B.h Die Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn gab den Parteien im hängigen Berufungsverfahren gegen das Urteil des Amtsgerichts von Olten-Gösgen vom 10. Dezember 2020 mit Verfügung vom 3. Februar 2021 Gelegenheit, sich zur sachlichen Zuständigkeit des Berufungsgerichts zur Überprüfung des Urteils vom 10. Dezember 2020 zu äussern. Mit Beschluss vom 18. März 2021 entschied die Strafkammer des Obergerichts, sie sei für eine umfassende Prüfung des erstinstanzlichen Urteils und insbesondere auch der Frage der Verwahrung, zuständig. Die Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Solothurn schrieb daraufhin das bei ihr hängige Beschwerdeverfahren mit Beschluss vom 30. März 2021 als gegenstandslos ab.
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C. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn gelangt gegen den Beschluss der Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 30. März 2021 mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie beantragt, der angefochtene Beschluss sei aufzuheben und die Streitsache sei zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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D. A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Beschluss der Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 18. März 2021 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass die Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn nur für die Überprüfung der Abweisung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf Verwahrung, nicht jedoch für die Überprüfung der Abweisung der Anträge des DdI/SO auf nachträgliche Verwahrung zuständig sei. A. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
3.2 A. (nachfolgend: Beschwerdeführer 2) kritisiert, die Strafprozessordnung biete keine Grundlage für die Vereinigung eines Nachverfahrens betreffend Verwahrung mit einem Verfahren betreffend eine originäre Verwahrung. Eine solche Verfahrensvereinigung sei gesetzlich nicht vorgesehen und daher nicht möglich. Das erstinstanzliche Gericht könne lediglich in beiden Verfahren gemeinsam entscheiden. Die getrennt voneinander in verschiedenen Verfahren zu beurteilenden Fragen hätten daher richtigerweise nicht in einem einzigen Urteil, sondern in einem Urteil und einem Beschluss abgehandelt werden müssen. Gegen das erstinstanzliche Urteil stehe die Berufung zur Verfügung (Art. 398 ff. StPO) und gegen den selbstständigen nachträglichen Entscheid die Beschwerde im Sinne von Art. 393 ff. StPO. Die funktionellen Zuständigkeiten auf Ebene der Rechtsmittelinstanz seien gemäss §§ 31 und 33bis Abs. 1 lit. a des Gesetzes des Kantons Solothurn vom 13. März 1977 über die Gerichtsorganisation (BGS 125.12) klar voneinander abgegrenzt. Die Vorinstanz vermische die unterschiedlichen Aspekte der beiden Verfahren. Im vorliegenden Nachverfahren stelle sich die Frage, ob nach der Aufhebung einer stationären Massnahme und der darauffolgenden Anordnung einer ambulanten Massnahme bei späterer Aufhebung der ambulanten Massnahme eine Verwahrung angeordnet werden könne. Diese Konstellation sei gesetzlich nicht geregelt. Es sei daher zunächst zu prüfen, ob eine Verwahrung nach Aufhebung einer ambulanten Massnahme mangels gesetzlicher Grundlage überhaupt zulässig sei. Als Anlasstat für die originäre Verwahrung kämen die Vorwürfe aus dem Jahr 2018 in Betracht, wobei die frühere Delinquenz allenfalls im Rahmen der Prognose zu berücksichtigen sei. Es bestehe der Verdacht, dass die Vorinstanz mit der unzulässigen Vermischung der beiden unterschiedlichen Verfahren die Möglichkeit schaffen wolle, ihn auch dann zu verwahren, wenn dies aufgrund der Taten aus dem Jahr 2006 nicht möglich sei, weil aktuell keine stationäre Massnahme aufgehoben worden sei, und eine Verwahrung wegen der Vorwürfe aus dem Jahr 2018 ausgeschlossen sei, weil er diesbezüglich freizusprechen oder die Schwelle der Anlasstat im Sinne von Art. 64 Abs. 1 StGB nicht erreicht sei. |
Erwägung 3.3 |
3.3.2 Die stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB wird gemäss Art. 62c Abs. 1 lit. a StGB aufgehoben, wenn deren Durch- oder Fortführung als aussichtslos erscheint. Ist bei Aufhebung einer Massnahme, die aufgrund einer Straftat nach Art. 64 Abs. 1 StGB angeordnet wurde, ernsthaft zu erwarten, dass der Täter weitere Taten dieser Art begeht, so kann das Gericht auf Antrag der Vollzugsbehörde die Verwahrung anordnen (Art. 62c Abs. 4 StGB). Bei Art. 62c Abs. 4 StGB handelt es sich um die Substitution einer stationären therapeutischen Massnahme durch eine Verwahrung, d.h. um eine Anpassung der früheren Massnahme an eine spätere Entwicklung hinsichtlich des Geisteszustands des Täters oder neuer Behandlungserkenntnisse. Die im StGB vorgesehene Möglichkeit, Massnahmen auszutauschen, ist Ausdruck des Bedürfnisses nach Flexibilität und Durchlässigkeit im Massnahmenrecht. Wird die stationäre therapeutische Massnahme aufgrund von festgestellter Aussichtslosigkeit aufgehoben, kann der therapeutische Zweck nicht weiterverfolgt werden. Stattdessen tritt der Sicherungsgedanke stärker in den Vordergrund (BGE 145 IV 167 E. 1.7 f.; Urteile 6B_381/2021 vom 17. Juni 2021 E. 2.3; 6B_82/2021 vom 1. April 2021 E. 3.3, nicht publ. in: BGE 147 IV 218). Bei der nachträglichen Verwahrung gestützt auf Art. 62c Abs. 4 StGB handelt es sich um einen selbstständigen nachträglichen gerichtlichen Entscheid im Sinne von Art. 363 ff. StPO, der in Form eines Beschlusses (vgl. Art. 19 Abs. 2 StPO e contrario i.V.m. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 StPO) zu ergehen hat und mit Beschwerde im Sinne von Art. 393 ff. StPO anzufechten ist (BGE 145 IV 167 E. 2.3; BGE 141 IV 396 E. 3 f.). |
Erwägung 3.4 |
3.4.1 Wird eine ambulante Behandlung wegen Aussichtslosigkeit (Art. 63a Abs. 2 lit. b StGB), Erreichen der gesetzlichen Höchstdauer (Art. 63a Abs. 2 lit. c StGB) oder Erfolglosigkeit (Art. 63a Abs. 3 StGB) aufgehoben, so kann das Gericht an Stelle des in Art. 63b Abs. 2 StGB vorgesehenen Strafvollzugs eine stationäre therapeutische Massnahme nach den Art. 59-61 StGB anordnen, wenn zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer, mit dem Zustand des Täters in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen begegnen (Art. 63b Abs. 5 StGB). Der Beschwerdeführer 2 macht daher zu Recht geltend, eine direkte Umwandlung einer ambulanten Massnahme in eine Verwahrung sei gesetzlich nicht vorgesehen und nach der Rechtsprechung daher nicht möglich (BGE 143 IV 445 E. 2 und 3; Urteil 6B_338/2018 vom 22. Mai 2018 E. 2.2.3). Fraglich ist zudem, ob das DdI/SO für die Aufhebung der ambulanten therapeutischen Massnahme infolge Aussichtslosigkeit nach Bekanntwerden der neuen Vorwürfe gegenüber dem Beschwerdeführer 2 zuständig war (vgl. Art. 63a Abs. 2 lit. b und Abs. 3 StGB). |
3.4.3 Art. 62c Abs. 4 StGB gelangt dennoch auch in der vorliegenden Konstellation zur Anwendung. Das DdI/SO hob die stationäre therapeutische Massnahme am 13. Oktober 2016 auf, weshalb es im Anschluss daran beim Amtsgericht von Olten-Gösgen in Anwendung von Art. 62c Abs. 4 StGB die Verwahrung des Beschwerdeführers 2 beantragen konnte. Dass das Obergericht des Kantons Solothurn im Urteil vom 16. September 2016 als Ersatz für die nicht verlängerte stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB (zu Unrecht) eine ambulante therapeutische Massnahme nach Art. 63 StGB anordnete, war nicht geeignet, einen späteren Entscheid über die nachträgliche Verwahrung des Beschwerdeführers 2 nach Art. 62c Abs. 4 StGB infolge Aussichtslosigkeit der stationären therapeutischen Massnahme zu verunmöglichen bzw. den Entscheid über dessen Nichtverwahrung vorwegzunehmen. |
Entgegen den Ausführungen im Urteil des Amtsgerichts von Olten-Gösgen vom 10. Dezember 2020 erklärt das Bundesgericht im Urteil 6B_1213/2016 vom 8. März 2017 sodann nicht die Aufhebung der stationären Massnahme als solches für nichtig. Das DdI/SO war nach der Nichtverlängerung der stationären therapeutischen Massnahme durch das Obergericht mit Entscheid vom 16. September 2016 vielmehr verpflichtet, diese aufzuheben (vgl. Art. 62c Abs. 1 lit. a StGB; oben E. 3.4.2). Das Bundesgericht beanstandete lediglich den Zeitpunkt der Aufhebung, nämlich dass die stationäre therapeutische Massnahme "rückwirkend per 14. Dezember 2014" aufgehoben wurde (Urteil 6B_1213/2016 vom 8. März 2017 E. 4).
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Erwägung 3.5 |
3.5.1 Der in Art. 1 StGB sowie Art. 7 Ziff. 1 EMRK verankerte Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" ist auf dem Gebiet des (Straf-) Prozessrechts nicht anwendbar (POPP/BERKEMEIER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 20 zu Art. 1 StGB mit Hinweisen). Indes bedürfen auch strafprozessuale Grundrechtseingriffe bzw. Zwangsmassnahmen einer ausdrücklichen Gesetzesgrundlage (vgl. Art. 197 Abs. 1 lit. a StPO; Art. 31 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 BV; WOLFGANG WOHLERS, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, Donatsch und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2020 [nachfolgend: WOHLERS, Kommentar], N. 13 f. zu Art. 2 StPO; STEFAN HEIMGARTNER, Auslegungs- und Rechtsfindungsmethodik im Strafprozessrecht, AJP 2016 S. 3 ff., 7 ff.). Generell gilt im Strafverfahren zudem der Grundsatz der Formstrenge. Danach können Strafverfahren nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden (Art. 2 Abs. 2 StPO; BGE 147 IV 93 E. 1.3.2; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1128 Ziff. 2.1.1 zu Art. 2 E-StPO). Der Grundsatz der Formstrenge ("nullum judicium sine lege"; "principe de la légalité du droit de la procédure pénale") ist auch in der Rechtsprechung des EGMR anerkannt (Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] Coëme und weitere gegen Belgien vom 22. Juni 2000, Nr. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96, Recueil CourEDH 2000-VII S. 46 §§ 98 f. und 102; WOHLERS, Kommentar, a.a.O., N. 8 zu Art. 2 StPO). Nach der Rechtsprechung des EGMR handelt es sich dabei um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz (Urteil des EGMR Coëme, § 102), der sich aus dem in Art. 6 Ziff. 1 EMRK verankerten Anspruch auf Beurteilung durch ein auf Gesetz beruhendes Gericht ("tribunal établi par la loi") ergibt (Urteil des EGMR Coëme, §§ 98 f.). Verlangt wird, dass das Gericht gewisse verfahrensrechtliche Regeln einhalten muss, um ein faires Verfahren zu garantieren (vgl. Urteil des EGMR Coëme, §§ 99 und 102). Die konkrete Umsetzung des Grundsatzes der Formstrenge erfolgt einerseits durch die Verpflichtung, das Strafverfahren nach den in den Art. 3?-11 StPO kodifizierten Grundsätzen und unter Beachtung der Vorgaben der BV sowie der EMRK durchzuführen, und andererseits dadurch, dass die gesetzlich abschliessend normierten Möglichkeiten der Verfahrenserledigung (insb. Nichtanhandnahme gemäss Art. 310 StPO, Einstellung gemäss Art. 319 ff. StPO, Anklageerhebung im ordentlichen oder abgekürzten Verfahren gemäss Art. 324 ff. und 358 ff. StPO, Erlass eines Strafbefehls gemäss Art. 352 ff. StPO) strikte zu beachten sind (BGE 147 IV 93 E. 1.3.2; STRAUB/WELTERT, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 12 zu Art. 2 StPO; WOHLERS, Kommentar, a.a.O., N. 10 ff. und N. 16 ff. zu Art. 2 StPO). Ziel des Grundsatzes der Formstrenge ist es, die Justizförmigkeit des Strafverfahrens zu gewährleisten (BGE 147 IV 93 E. 1.3.2; WOHLERS, Kommentar, a.a.O., N. 7 f. zu Art. 2 StPO). Die schützenden Förmlichkeiten des Strafverfahrens sind kein Selbstzweck, sondern dienen der Gewährleistung der Fairness des Verfahrens, indem sie Machtmissbrauch und willkürlich-rechtsungleiche Behandlung ausschliessen und unangemessene Beeinträchtigungen der Verteidigungsrechte verhindern (WOHLERS, Kommentar, a.a.O., N. 8 zu Art. 2 StPO; vgl. auch Urteil des EGMR Coëme, § 102). Zusätzlich kommt der Förmlichkeit des Verfahrens auch wahrheitsverbürgende Funktion zu (WOHLERS, Kommentar, a.a.O., N. 8 zu Art. 2 StPO; ausführlich dazu sowie zur historischen Entwicklung der Formstrenge im Strafprozess auch: ders., Die schützende Förmlichkeit des Strafprozessrechts: Zur aktuellen Bedeutung(slosigkeit) eines "alteuropäischen" Konzepts, in: Für die Sache - Kriminalwissenschaften aus unabhängiger Perspektive, Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019 [nachfolgend: WOHLERS, Festschrift Eisenberg], S. 593 ff.). |
Strafverfahren dürfen deshalb nicht informell, beispielsweise durch Abschreibung mittels Aktenvermerk, erledigt werden (BBl 2006 1128 Ziff. 2.1.1 zu Art. 2 E-StPO; WOHLERS, Kommentar, a.a.O., N. 16 zu Art. 2 StPO; STRAUB/WELTERT, a.a.O., N. 12 zu Art. 2 StPO). Der Grundsatz der Formstrenge ist zudem verletzt, wenn in einem selbstständigen Massnahmeverfahren gegen eine schuldunfähige beschuldigte Person im Sinne von Art. 374 f. StPO ohne ein vorgängiges ordentliches Untersuchungsverfahren und ohne Anklageerhebung ein Schuldspruch ergeht (BGE 147 IV 93 E. 1.3 f.). Der EGMR bejahte einen Verstoss gegen den Grundsatz der Förmlichkeit des Strafverfahrens ("principe de la légalité du droit de la procédure pénale") mangels Voraussehbarkeit weiter, wo strafprozessuale Regeln gänzlich fehlten bzw. das geltende ordentliche Strafprozessrecht nur soweit für (sinngemäss) anwendbar erklärt wurde, als dies mit den Besonderheiten des konkreten Verfahrens vereinbar war (Urteil des EGMR Coëme, §§ 100 ff.), sowie bei einer gesetzlich nicht vorgesehenen Vereinigung von konnexen Strafverfahren gegen mehrere Beschuldigte (Beteiligte) zwecks Vermeidung widersprüchlicher Urteile sowie aus prozessökonomischen Gründen bei einem bezüglich einzelner Beschuldigter unzuständigen Gericht (Urteil des EGMR Coëme, §§ 105 ff.). Darüber hinaus kommt die schützende Förmlichkeit des Strafprozessrechts insbesondere bei der Beurteilung von Beweisverwertungsverboten bei fehlerhafter Beweisgewinnung und/oder -erhebung zum Tragen (vgl. WOHLERS, Festschrift Eisenberg, a.a.O., S. 593 ff.). |
Erwägung 3.6 |
Da folglich im erstinstanzlichen Strafurteil über die Verwahrung des Beschwerdeführers 2 zu befinden war, ist die Zuständigkeit für die Behandlung dieser Frage im Rechtsmittelverfahren bei der Berufungsinstanz anzusiedeln (Art. 398 Abs. 1 StPO). Dies erscheint auch insofern sachgerecht, als zweitinstanzlich nur die Berufungsinstanz darüber entscheiden kann, ob und inwiefern sich der Beschwerdeführer 2 erneut strafbar gemacht hat. Die Beurteilung durch das Berufungsgericht als Rechtsmittelinstanz ermöglicht eine umfassende Überprüfung des gesamten Strafurteils (vgl. Art. 398 Abs. 2 und 3 StPO). Die vom Beschwerdeführer 2 beantragte Zweiteilung wäre demgegenüber nicht sachgerecht, nachdem nicht zwei Gerichtsinstanzen gleichzeitig rechtsgültig über die gleiche Frage der Verwahrung befinden können. |
3.6.4 Die Beschwerde des Beschwerdeführers 2 ist als unbegründet abzuweisen. Mit dem vorliegenden Entscheid wird rechtskräftig über die Verfahrensvereinigung und die Kognition der Berufungsinstanz zur Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils vom 10. Dezember 2020 entschieden. Der Antrag der Beschwerdeführerin 1 auf Sistierung des bei der Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Solothurn hängigen Beschwerdeverfahrens wird damit gegenstandslos. |