BGE 99 V 19 |
5. Urteil vom 3. April 1973 i.S. Omlin gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt |
Regeste |
Grenzen der Zuständigkeit des Richters zur Lückenfüllung. |
Sachverhalt |
A.- Der 1962 geborene Michael Omlin ist seit Geburt in Pflege bei seinem Grossonkel und seiner Grosstante väterlicherseits, den Ehegatten Anton Omlin-Ruffiner, welche wegen eigener Kinder Michael nicht adoptieren konnten; dagegen wurde dem Pflegekind vom Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt die Führung des Familiennamens Omlin bewilligt. |
Am 5. September 1971 verunglückte Anton Omlin tödlich. Mit Verfügung vom 21. Oktober 1971 gewährte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) der Witwe und der Mutter des Versicherten eine Hinterlassenenrente, lehnte jedoch die Ausrichtung einer solchen Rente an das Pflegekind ab (Verfügung vom 14. Januar 1972).
|
C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Michael Omlin beantragen, in Aufhebung des kantonalen Urteils sei ihm eine SUVA-Waisenrente zuzuerkennen... Es wird im wesentlichen geltend gemacht, an der bisherigen Rechtsprechung (EVGE 1969 S. 85) könne nicht mehr festgehalten werden. Die Auslegung von Art. 85 KUVG führe zum Ergebnis, dass diese Bestimmung eine echte Lücke aufweise, die vom Eidg. Versicherungsgericht, das dazu kompetent sei, ausgefüllt werden müsse. Die Nichterwähnung der Pflege- und Stiefkinder stelle kein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes dar. Mit den Hinterlassenenrenten werde bezweckt, den Unterhalt derjenigen Familienangehörigen des Getöteten sicherzustellen, für die er bis anhin gesorgt habe; das treffe auch für Pflegekinder zu.
|
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
|
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: |
"1. Ausserdem erhält jedes hinterbliebene oder nachgeborene eheliche Kind eine Rente von fünfzehn Prozent des Jahresverdienstes des Versicherten, und wenn es den andern Elternteil bereits verloren hat oder später verliert, eine solche von fünfundzwanzig Prozent. Die Rente läuft bis zum zurückgelegten achtzehnten Altersjahr des Kindes oder, sofern es beim Erreichen dieses Alters dauernd erwerbsunfähig ist, bis siebzig Jahre nach der Geburt des Versicherten. Für Kinder, die noch in Ausbildung begriffen sind, besteht der Anspruch bis zum Abschluss der Ausbildung, längstens aber bis zum vollendeten 20. Altersjahr.
|
2. Kinder, die bereits zur Zeit des Unfalles in gesetzlicher Weise angenommen oder ehelich erklärt waren, sind den ehelichen gleichzuhalten.
|
3. Dasselbe gilt für aussereheliche Kinder bezüglich der Ansprüche, die aus dem Tode der Mutter hergeleitet werden.
|
Das Eidg. Versicherungsgericht hat in EVGE 1943 S. 70 erkannt, die Pflegekinder seien in Art. 85 KUVG nicht aufgeführt und gehörten deshalb nicht zu den rentenberechtigten Kindern. An dieser Rechtsprechung hat es in EVGE 1969 S. 85 mit folgender Begründung festgehalten: Pflegekinder erhielten in der Unfallversicherung keine Hinterlassenenrente, weil sie nach dem klaren Wortlaut des Art. 85 KUVG nicht zum dort umschriebenen Kreis der rentenberechtigten Kinder zählten. Art. 85 KUVG enthalte keine Lücke. Er bezeichne die Kinder, die beim Tode ihres Versorgers eine Rente erhalten sollen, abschliessend und sei von der Verwaltung und vom Richter so, wie er laute, anzuwenden. Die Tatsache, dass das AHVG, das MVG und das IVG Renten für Pflegekinder vorsehen, berechtige nicht, den Art. 85 KUVG für lückenhaft zu halten. Ob diese Norm eine entsprechende Ergänzung verdiene, habe darum nicht der Richter, sondern der Gesetzgeber zu entscheiden.
|
Namentlich mit Rücksicht auf die in letzter Zeit geäusserten Auffassungen (vgl. z.B. SZS 1972 S. 193 ff.) rechtfertigt es sich, diese Rechtsprechung zu überprüfen.
|
2. Der Umstand, dass Art. 85 KUVG die Pflegekinder nicht erwähnt, bedeutet noch nicht, dass das Gesetz insoweit eine Lücke aufweist, die vom Richter ausgefüllt werden darf. Hat der Gesetzgeber gewollt darauf verzichtet, die Pflegekinder vom Anspruch auf Hinterlassenenrenten auszunehmen, so liegt ein qualifiziertes Schweigen vor. Bieten jedoch das Gesetz und die Materialien keinen Anhaltspunkt dafür, dass eine negative Entscheidung in der betreffenden Frage gewollt war, so ist auch damit noch nicht eine Lücke des Gesetzes dargetan. Denn die Annahme einer Lücke ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn der Richter das Fehlen einer Vorschrift als unbefriedigend empfindet. Eine vom Richter auszufüllende Lücke im Gesetz darf nach dem allgemeinen Grundsatz des Art. 1 Abs. 2 ZGB nur dann angenommen werden, wenn das Gesetz eine sich unvermeidlicherweise stellende Rechtsfrage nicht beantwortet (BGE 97 I 355; EVGE 1969 S. 85, 1968 S. 108; MEIER-HAYOZ, N. 271 zu Art. 1 ZGB; IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 4. Aufl., Nr. 241, S. 122). Ferner ist entgegen der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach die neuere Praxis im allgemeinen dahin tendiere, "die Verwaltungsgesetze in stärkerem Masse als nicht vollständig zu betrachten, d.h. im Rahmen des sachlich Gebotenen wenn möglich das Vorliegen einer echten Lücke zu bejahen" (IMBODEN, a.a.O., Nr. 241, S. 123 f.), in der Sozialversicherung, deren Rechtsgebiete häufig Revisionen unterworfen sind, mit der Annahme echter Lücken Zurückhaltung geboten. |
Ob eine zwingende Notwendigkeit zur Aufnahme einer Bestimmung über die Pflegekinderrente besteht und wie bei Annahme einer echten Lücke diese zu füllen sei, hat der Richter nach anerkannten Auslegungsregeln zu prüfen (MEIER-HAYOZ, N. 255 ff. zu Art. 1 ZGB).
|
b) Im Gegensatz zum KUVG stellen heute die andern Sozialversicherungsgesetze des Bundes die Pflegekinder hinsichtlich des Anspruchs auf Hinterlassenenrenten grundsätzlich den leiblichen gleich (vgl. Art. 28 Abs. 3 AHVG in Verbindung mit Art. 49 AHVV, Art. 35 IVG, Art. 31 MVG. Art. 9 Abs. 1 lit. c FLG, Art. 31 Abs. 2 Al VG und Art. 6 Abs. 2 lit. d EOG).
|
Diese Tatsache lässt indessen nicht auf das Bestehen einer echten Lücke im KUVG schliessen. Vielmehr ist der Umstand, dass im Jahre 1952 Art. 85 KUVG revidiert wurde (BG betreffend Abänderung des KUVG vom 19. September 1952, AS 1952 S. 1019), ohne dass die Pflegekinderrente eingeführt worden wäre, als eine negative Stellungnahme des Gesetzgebers zu werten (vgl. BGE 88 II 483, 76 II 62). Da verhältnismässig kurze Zeit zuvor im MVG die Pflegekinderrente (BG vom 20. September 1949 über die MV, AS 1949 S. 1671) und im AHVG die Ermächtigungsnorm (BG vom 20. Dezember 1946 über die AHV, BS 8 S. 447), von welcher der Bundesrat in Art. 49 AHVV Gebrauch machte (BRB vom 20. April 1951, AS 1951 S. 394), aufgenommen worden waren, hätte nämlich Gelegenheit bestanden, auch im KUVG den Pflegekindern einen Rentenanspruch zuzuerkennen; dies um so eher, als in der bundesrätlichen Botschaft auf die fortschrittlichere Regelung im AHVG und im MVG hingewiesen wurde (BBl 1952 I S. 679). |
Der vorliegende Fall erfüllt indessen auch keine der beiden letzterwähnten Voraussetzungen richterlichen Eingreifens. Denn der Charakter der obligatorischen Unfallversicherung als Sozialinstitut bedeutet nicht, dass die SUVA ihre Leistungen im Widerspruch zu gesetzlichen Bestimmungen auszurichten hätte. Vielmehr wird die Sozialversicherung durch den Grundsatz der Gesetzesmässigkeit beherrscht. Wenn es auch bedauerlich erscheint, dass das KUVG den Pflegekindern keinen Anspruch auf eine Hinterlassenenrente zuerkennt, so handelt es sich hier nicht um eine Lücke im Gesetz, welche der Sozialversicherungsrichter allenfalls auszufüllen hätte, sondern um nachzuholende Koordination der Gesetzgebung über die Hinterlassenenrenten. Der Richter würde die Grenzen zwischen Justiz und Legislative verwischen, wenn er einen Anspruch auf Pflegekinderrente aus Art. 85 KUVG herleiten wollte. Ob diese Norm eine entsprechende Ergänzung verdiene, ist darum - wie bereits in EVGE 1969 S. 85 ausgeführt wurde - nicht durch die richterliche, sondern die gesetzgeberische Gewalt zu entscheiden. Diese hat sich übrigens gestützt auf eine Motion aus dem Jahre 1972 der Sache angenommen (vgl. Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, 1972, NR S. 1693 f., SR S. 901 f.). |
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
|