BGE 99 V 32
 
9. Auszug aus dem Urteil vom 19. Februar 1973 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Gisi und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen Basel-Stadt
 
Regeste
Medizinische Massnahmen gemäss Art. 12 IVG setzen bei Skelettanomalien Defekte im knöchernen Bereich voraus.
 


BGE 99 V 32 (33):

Aus den Erwägungen:
2. b) Als stabile oder mindestens relativ stabilisierte Defektzustände oder Funktionsausfälle bei Gelenkschäden gelten nach ständiger Rechtsprechung nur solche im knöchernen Bereich, also des Skelettes selbst; demzufolge betrachtet die Praxis nur die der Beseitigung oder Korrektur eines stabilen Skelettdefektes und dessen unmittelbaren mechanischen Folgen dienenden Eingriffe als Eingliederungsmassnahmen im Sinne des Gesetzes; insbesondere wurde die Übernahme von Operationen, welche ausschliesslich Knorpelpartien betrafen (wie Gelenkstoiletten und -plastiken), stets ausdrücklich abgelehnt, so namentlich in Fällen von Meniskusläsionen (unveröffentlichte Urteile vom 10. September 1971 i.S. Glanzmann, bei dem überdies eine Gonarthrose bestand, und vom 4. August 1969 i.S. Bianco), Diskushernien (unveröffentlichtes Urteil vom 5. Februar 1968 i.S. Deantoni) und Chondropathien der Kniescheibe (unveröffentlichte Urteile vom 23. September 1972 i.S. Echenard, vom 11. April 1972 i.S. Bussmann, vom 22. Juli 1971 i.S. Bernard, vom 5. Juli 1971 i.S. Kocher = ZAK 1971 S. 596 ff., vom 25. Juni 1971 i.S. Stucky und vom 26. Januar 1971 i.S. Schöni). Das Gesamtgericht hat diese Praxis mit Beschluss vom 3. Mai 1971 (im Hinblick auf die erwähnten Fälle Stucki und Glanzmann) bestätigt und auch im vorliegenden Fall keinen Anlass gefunden, von dieser klaren und einfach zu handhabenden Abgrenzung abzuweichen. Im Beschluss vom 11. Januar 1973 hat es überdies die geltende Rechtsprechung in dem Sinne verdeutlicht, dass als Fehlstellungen im knöchernen Bereich nur solche der Knochen, welche durch Defekte dieser selbst bedingt sind, zu gelten haben, nicht auch solche, die durch Mängel des Stütz-, Band- oder Bewegungsapparates hervorgerufen werden. Das bedeutet im besonderen, dass eine operative Straffung eines pathologisch schlaffen Bandapparates, der als solcher zu habituellen Gelenksluxationen führt, nicht als medizinische Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung laut Art. 12 IVG

BGE 99 V 32 (34):

zu betrachten ist, auch wenn der Eingriff zur Beseitigung der Störung und ihrer mechanischen Folgen sowie zur Verbesserung bzw. Erhaltung der Erwerbsfähigkeit führt. Verliesse die Rechtsprechung das Kriterium des knöchernen Defektes, um die stabilen - oder mindestens relativ stabilisierten -Zustände mit Krankheitswert zu kennzeichnen, und würde sie Defekte des Stütz-, Band- und Bewegungsapparates als stabile, mithin medizinischen Massnahmen der Invalidenversicherung zugängliche Zustände anerkennen, so bestünde nicht mehr jene klare und eindeutige Abgrenzung, welche auch den Erfordernissen der Praktikabilität und der Rechtssicherheit hinreichend Rechnung trägt.
3. Gemäss diesen Grundsätzen können die im vorliegenden Fall durchgeführten Operationen nicht der Invalidenversicherung belastet werden. Denn es waren nicht durch knöcherne Defekte, mithin nicht durch stabile oder mindestens relativ stabilisierte Skelettanomalien im umschriebenen Sinne bedingte Eingriffe. Vielmehr war eine Schwäche der Bänder Ursache des mangelhaften Gelenkschlusses und der damit zusammenhängenden Folgen in gesundheitlicher und erwerblicher Hinsicht. Ob diese Schwäche angeboren oder erworben war, ist im Zusammenhang mit Art. 12 IVG unerheblich. Nach den vollständigen und klaren medizinischen Unterlagen richtete sich denn auch die Therapie nicht gegen den knöchernen Bereich, sondern sie bestand ausschliesslich in der Straffung und Rekonstruktion des schwachen Bandapparates.