100 V 76
Urteilskopf
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20. Urteil vom 4. Juli 1974 i.S. L. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Aargau
Regeste
- Über die Elemente des Unfallbegriffs, insbesondere die nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung.
- Kriterien zur Qualifizierung der Selbsttötung oder des Selbsttötungsversuchs als Unfall.
- Grundsätzliche Unterschiede in den Kriterien zur Verweigerung oder Kürzung der Leistungen gemäss KUVG und IVG.
A.- Der 1908 geborene, im Baugewerbe tätige L. zog sich vor Jahren einen Fersenbeinbruch zu, der 1966 operativ angegangen wurde. Seither bezieht er eine Invalidenrente der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA). Im November 1968 erlitt er auf der Baustelle einen weiteren Unfall mit Vorderarmbruch, Nierenkontusion und Dickdarmriss. Die Hospitalisierung dauerte rund vier Monate. Dieser zweite Unfall führte anfangs Januar 1970 zu einer Rückfallanzeige, da der Versicherte über heftige Bauchschmerzen klagte. Am 3. März 1970 meldete der behandelnde Arzt der SUVA, die
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Beschwerden seien verschwunden und der Versicherte fühle sich wohl. Aber bereits eine Woche später meldete ihr die Arbeitgeberfirma, L. mache erneut Bauchschmerzen geltend, da angeblich ein Zementrohr gegen seinen Körper gestossen sei. Der Versicherte nahm die Arbeit am 1. April 1970 in vollem Umfang wieder auf. Laut Arztbericht vom Januar 1971 wurden die noch vorhandenen Beschwerden im Oberbauch durch die regelmässige Einnahme von Librax praktisch behoben. Über die Weihnachts- und Neujahrsfeiertage 1971/72 hatte L. Ferien; er hätte die Arbeit am 3. Januar 1972 wieder aufnehmen sollen. Für den 30. Dezember 1971 war ein neuer Arztbesuch vorgesehen; überdies wollten die Eheleute L. Einkäufe tätigen. Am Vorabend tranken sie noch ein Glas Wein und begaben sich dann etwa um 21 Uhr zu Bett. Der Versicherte schlief schlecht und klagte über unerträgliche Kopfschmerzen. Seine Ehefrau verabreichte ihm deshalb zwei Treupel-Tabletten. Nachdem sie am 30. Dezember 1971 bereits um 05.45 Uhr aufgestanden war, um sich in der Küche zu beschäftigen, hörte sie plötzlich einen lauten Knall. Sie fand ihren Mann blutüberströmt auf dem Bett liegend; er hatte sich mit dem Karabiner durch das Kinn geschossen, war aber nicht tot. Hingegen hatte der Schuss schwerste Kinn-, Mund- und Nasenzertrümmerungen sowie den Verlust des linken Auges zur Folge.Gegenüber dem SUVA-Aussendienst erklärte L. am 22. März 1972, er könne sich an Karabiner, Munition und Selbsttötungsversuch nicht erinnern; er habe aber Angst vor einer neuerlichen Hospitalisierung gehabt; er wisse nicht, wie alles passiert sei. Dem Arztbericht der Psychiatrischen Klinik X. vom April 1972 ist zu entnehmen, dass der Versicherte wegen seiner Tat, die er nicht begreifen könne, von schweren Schuldgefühlen verfolgt werde; seine gegenwärtige Situation beurteile er als völlig hoffnungslos; er sei weiterhin als suicidal zu betrachten.
Der ärztliche Dienst der SUVA erachtete es nicht als ausgeschlossen, dass "die Kombination Schlaflosigkeit, Einnahme von Treupel und Einnahme von Librax eine gewisse Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit zur Folge gehabt hat"; von völliger Unzurechnungsfähigkeit könne aber nicht gesprochen werden. Darauf verfügte die SUVA am 20. Juli 1972, sie werde für die Folgen der Kopfverletzung keine Versicherungsleistungen
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erbringen. Ein Unfall im Rechtssinn liege nämlich nicht vor. Ebensowenig handle es sich bei der Verletzung um eine indirekte Folge der früher erlittenen versicherten Unfälle.
B.- Gegen diese Verfügung liess L. beim Obergericht des Kantons Aargau Beschwerde erheben mit dem Antrag, die SUVA sei zu verpflichten, "für das Unfallereignis vom 30.12.1971 die gesetzlichen Versicherungsleistungen auszurichten".
Die Vorinstanz vermochte den Selbsttötungsversuch nicht als Unfallereignis im Sinn des KUVG zu qualifizieren, verneinte daher den Anspruch auf Versicherungsleistungen und wies die Beschwerde mit Entscheid vom 20. August 1973 ab.
C.- Der Rechtsdienst für Behinderte erhebt für L. Verwaltungsgerichtsbeschwerde, indem er das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuert. Zur Begründung wird im wesentlichen vorgebracht: Der Beschwerdeführer sei im Zeitpunkt der Tat vermindert zurechnungsfähig gewesen. Seit dem im Jahre 1968 erlittenen Unfall sei er wegen der schmerzbedingten ständigen Einnahme von Medikamenten ein völlig veränderter Mensch geworden. Die Schmerzen hätten zur depressiven Stimmung und schliesslich zum Suicidversuch geführt. Zwischen diesem und dem Unfall von 1968 bestehe eindeutig ein Kausalzusammenhang. Dieser sei nicht etwa durch Faktoren unterbrochen worden, die in der Persönlichkeit des Versicherten selbst gelegen hätten. Der Rechtsdienst ersucht sodann "um eine generelle Überprüfung der bisherigen Rechtspraxis betreffend Selbstmordversuch". Insbesondere sei die Praxis, wonach Selbsttötung nur dann als Unfall qualifiziert werde, wenn der Versicherte im Zustand völliger Unzurechnungsfähigkeit gehandelt habe, zu überprüfen. Die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts zu Art. 7 IVG, wonach die in Suicidabsicht erlittene Selbstverstümmelung weder als vorsätzlich noch als fahrlässig verursacht zu gelten habe, müsse auch bei der Auslegung des Art. 98 Abs. 1 KUVG angewandt werden.
Die SUVA beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. a) In ständiger, von der Lehre anerkannter Rechtsprechung qualifiziert das Eidg. Versicherungsgericht als Unfall
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die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines mehr oder weniger ungewöhnlichen äussern Faktors auf den menschlichen Körper (BGE 99 V 138, 98 V 166, 97 V 2, EVGE 1966 S. 138 und 1963 S. 18; MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, S. 86). Die Unfreiwilligkeit der schädigenden Einwirkung ist somit ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung, ob ein körperschädigendes Ereignis als Unfall zu gelten hat. Unter schädigender Einwirkung ist das Ereignis zu verstehen, das zur Gesundheitsschädigung führt. Verursacht der Versicherte dieses Ereignis wegen seines schädigenden Charakters absichtlich, so erfüllt der Vorfall den Unfallbegriff nicht.b) Ob Selbsttötung als Unfall im Sinn des Art. 67 Abs. 1 KUVG gelten kann, beurteilt sich somit danach, ob die zum Tode führende Handlung absichtlich, d.h. mit Wissen und Willen der betroffenen Person, ausgeführt wurde. Ist dies der Fall, so ist der Suicid nicht als Unfall zu werten, was zum vornherein die Haftung der SUVA ausschliesst. Fehlt es aber im konkreten Fall an diesem Wissen und Willen, so ist der Suicid als Unfall zu qualifizieren. Dies trifft zu, wenn die zum Tode führende Handlung in einem von der betreffenden Person nicht verschuldeten Zustand völliger Unzurechnungsfähigkeit begangen worden ist. War die Zurechnungsfähigkeit im Zeitpunkt der Tat lediglich mehr oder weniger vermindert, so war die freie Willensentscheidung nicht völlig ausgeschlossen. Eine in diesem Zustand begangene Selbsttötung erfüllt daher die Voraussetzung der Unfreiwilligkeit und damit den Unfallbegriff ebenfalls nicht (EVGE 1963 S. 18; unveröffentlichte Urteile vom 8. Juli 1968 i.S. Volz und vom 29. Dezember 1967 i.S. Santangelo; MAURER S. 122), was zum Ausschluss der SUVA-Haftung führt.
c) Hingegen haftet die SUVA für die Folgen einer in bloss verminderter Zurechnungsfähigkeit begangenen Selbsttötung dann, wenn sie mit einem versicherten Ereignis in adäquatem Kausalzusammenhang steht. Ein solcher ursächlicher Zusammenhang ist gegeben, sofern das vorausgegangene versicherte Ereignis - eine Berufskrankheit oder ein Unfall - seelisch und körperlich auf die Willensbildung und Willensbetätigung der betreffenden Person derart einwirkt, dass sie unter diesem Einfluss dem eigenen Leben ein Ende setzt. Demnach ist die Selbsttötung leistungsbegründend, wenn das versicherte Ereignis
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durch Erschöpfung, psychische Depression oder Nervenzusammenbruch die seelische Widerstandskraft schwächt und dadurch den Betroffenen zwangsläufig einer in ihm aufsteigenden Selbsttötungsidee ausliefert, bzw. wenn es, ohne wesentliche Trübung des Urteilsvermögens, einfach wegen Unerträglichkeit des Zustandes den Entschluss zum Suicid auslöst. Der Zusammenhang kann zwingend genug sein, ohne dass die Zurechnungsfähigkeit gänzlich aufgehoben ist. Je weniger getrübt die Urteilsfähigkeit war, desto zwingender muss sich der adäquate Kausalzusammenhang anderswie ergeben. Bei allzu grobem und aus dem psychischen Zustand nicht erklärlichem Missverhältnis fehlt die rechtliche Relevanz; ebenso wenn vom Unfall unabhängige Faktoren für den Suicid den Ausschlag gegeben haben (EVGE 1960 S. 163 und 1962 S. 93, unveröffentlichtes Urteil vom 2. August 1967 i.S. Cristofani).d) Vollendete Selbsttötung und Selbsttötungsversuch werden nach ständiger Praxis rechtlich gleich behandelt (EVGE 1963 S. 18).
2. Im heutigen Verfahren lässt der Beschwerdeführer mit Recht nicht mehr geltend machen, er habe im Zustand völliger Unzurechnungsfähigkeit versucht, sich das Leben zu nehmen. Hingegen meint er, er sei im Zeitpunkt der Tat vermindert zurechnungsfähig gewesen, was er damit begründet, dass der im Jahre 1968 erlittene Unfall und die dadurch bedingten andauernden Schmerzen zu psychischer Veränderung und so zwangsläufig zum Suicidversuch geführt hätten.
Wie in Erwägung 1 dargelegt, könnte bei verminderter Zurechnungsfähigkeit der Suicidversuch nur dann als Unfall im Sinn des KUVG gewertet werden, wenn er mit dem versicherten Ereignis von 1968 ursächlich in adäquater Weise zusammenhinge. Zwar klagte der Beschwerdeführer vor jenem Versuch öfters über Bauchschmerzen. Diese liessen sich aber offenbar praktisch beheben, wenn er Librax einnahm und keine grossen Speisemengen, vor allem keine blähenden Speisen konsumierte, wie der Arzt der SUVA meldete. Dass die Häufigkeit und Intensität dieser Schmerzen im Lauf des Jahres 1971 wesentlich zugenommen hätten und für den Beschwerdeführer unerträglich geworden wären, ist unwahrscheinlich. Andernfalls hätte er - wie in den vorangegangenen Jahren - wiederholt seinen Hausarzt aufgesucht oder sogar der SUVA eine Rückfallmeldung erstatten lassen. Es ist
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auch nicht dargetan, dass er infolge des Fersenbeinbruches, den er sich 1966 zugezogen hatte, übermässig von Schmerzen geplagt worden wäre. In seinem Bericht vom Juni 1973 schliesst der Arzt lediglich die Möglichkeit nicht aus, dass die Bauch- und Fussbeschwerden unerträglich geworden sein könnten. Sodann lässt sich den Akten entnehmen, dass weder die Bauchschmerzen noch die Fussbeschwerden oder die vom Arzt erwähnten Nebenhernien den Beschwerdeführer daran hinderten, noch im Mai 1971 ein Militärradrennen über 60 km zu bestreiten und sogar den dritten Rang zu belegen. Dass in der letzten Zeit vor dem Selbstmordversuch verschlimmerte Bauchschmerzen oder Fussbeschwerden im Vordergrund gestanden hätten, ist auch aus den Aussagen der Ehefrau des Beschwerdeführers gegenüber dem SUVA-Aussendienst vom Februar/Mai 1972 nicht ersichtlich. Weit grössere Bedeutung kommt den Kopfschmerzen zu, von denen der Beschwerdeführer in der Zeit vor dem Selbstmordversuch ständig gequält worden ist. Sie waren auch die wesentliche Ursache seiner Schlaflosigkeit in der Nacht vom 29./30. Dezember 19.71. Die Genese dieser Kopfschmerzen ist unbekannt; insbesondere ist ein Zusammenhang mit den frühern Unfällen nicht dargetan.Zusammenfassend ergibt sich, dass die 1966 und 1968 erlittenen Unfälle mit ihren Restfolgen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht geeignet waren, zwangsläufig zum Selbstmordversuch zu führen. Fehlt es somit am adäquaten Kausalzusammenhang zwischen einem versicherten Ereignis und dem Versuch, sich das Leben zu nehmen, so haftet die SUVA nach geltender Rechtsprechung nicht für die Folgen des Suicidversuchs.
3. Im Hinblick auf die in allen Gebieten des Sozialversicherungsrechts anzustrebende Harmonisierung und Koordinierung postuliert der Rechtsdienst, dass wie in der Invalidenversicherung (Art. 7) so auch in der obligatorischen Unfallversicherung die Leistungen für die durch einen Selbstmordversuch verursachte Invalidität nicht vollständig verweigert, sondern bloss gekürzt werden sollen.
Nach Art. 7 Abs. 1 IVG können die Geldleistungen der Invalidenversicherung verweigert, gekürzt oder entzogen werden, wenn der Versicherte seine Invalidität vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt oder verschlimmert hat. Diese
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Bestimmung richtet sich unter anderem gegen jenen Versicherten, dessen Absicht darauf gerichtet ist, sich erwerbsunfähig zu machen. Wer einen Selbstmordversuch unternimmt, will aber nicht invalid werden, sondern sterben. Darum ist die auf einen Suicidversuch zurückgehende Invalidität von der Invalidenversicherung nicht ausgeschlossen (unveröffentlichtes Urteil vom 10. Dezember 1969 i.S. Stadler). Hier stellt sich die Frage, ob Suicid und Suicidversuch als Unfall zu werten seien, überhaupt nicht.Anders verhält es sich in der obligatorischen Unfallversicherung. Art. 67 Abs. 1 KUVG sagt ausdrücklich: "Die Anstalt versichert gegen die Betriebsunfälle und Nichtbetriebsunfälle..." (eingeschlossen die Berufskrankheien). Damit die SUVA Leistungen gewähren kann, muss die Gesundheitsschädigung oder der Tod auf einen Unfall, d.h. auf ein unfreiwilliges körperschädigendes Ereignis zurückgehen. Erst wenn der Unfalltatbestand erfüllt ist, kann sich allenfalls die Frage stellen, ob das unfreiwillige schädigende Ereignis grobfahrlässig verursacht wurde und die Leistungen somit dem Verschulden entsprechend zu kürzen sind (vgl. Art. 98 Abs. 3 KUVG). Aus dem KUVG ergibt sich klar, dass in der obligatorischen Unfallversicherung - im Gegensatz zur Invalidenversicherung - im Hinblick auf die Leistungskürzung bzw. -verweigerung nicht danach zu fragen ist, ob der Versicherte die Erwerbsunfähigkeit beabsichtigt oder mindestens grobfahrlässig verursacht hat. Entscheidend ist hier vielmehr, ob er das Ereignis, das die Körperschädigung verursacht, vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt hat. Während die grobe Fahrlässigkeit mit dem Unfallbegriff vereinbar ist, schliesst der Vorsatz, weil an sich dem Unfallbegriff widersprechend, die Annahme eines Unfalles und damit Versicherungsleistungen zum vornherein grundsätzlich aus.
Aus diesen Darlegungen erhellt, dass die vom Rechtsdienst postulierte Angleichung der Kürzungspraxis der obligatorischen Unfallversicherung an die Vorschrift des Art. 7 Abs. 1 IVG im Grunde genommen auf eine Änderung des Unfallbegriffs hinausläuft, indem auch die vorsätzliche Herbeiführung des körperschädigenden Ereignisses den Anspruch auf Versicherungsleistungen, wenn auch nur auf gekürzte, auszulösen vermöchte. Zu einer derart grundlegenden Neuumschreibung des Unfallbegriffs für den alleinigen Zweck, dass auch in der
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obligatorischen Unfallversicherung bei Selbstmord und Selbstmordversuch Leistungen zu erbringen wären, besteht keine Veranlassung.Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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