BGE 100 V 171
 
43. Urteil vom 8. November 1974 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Schnidrig und Versicherungsgericht des Kantons Wallis
 
Regeste
Art. 12 Abs. 1 IVG. Über den Anspruch der an idiopathischer Skoliose leidenden Jugendlichen auf medizinische Massnahmen.
 
Sachverhalt


BGE 100 V 171 (171):

A.- Die 1965 geborene Jolanda Schnidrig leidet an idiopathischer rechtskonvexer Skoliose in einem Winkel von etwa 200 (Berichte von Dr. med. I., vom 21. November 1973 und 10. April 1974). Mit Verfügung vom 11. Februar 1974 lehnte die Ausgleichskasse ein Gesuch um medizinische Massnahmen (Physiotherapie) ab.
B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Wallis hob in Gutheissung einer Beschwerde die angefochtene Verfügung auf und verhielt die Invalidenversicherung, die Kosten der Physiotherapie, der orthopädischen Kontrollen usw. zu übernehmen. Das Gericht stützte sich im wesentlichen auf BGE 98 V 214 und auf die Angaben des behandelnden Arztes, wonach ohne Haltungstherapie dauernde Skelettschäden und eine spätere Teilinvalidität nicht zu vermeiden seien (Entscheid vom 27. Mai 1974).
C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt das Bundesamt für Sozialversicherung den Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Kassenverfügung vom 11. Februar 1974 wiederherzustellen. Auf die Begründung wird in den Erwägungen zurückgekommen.
Jolanda Schnidrig lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:


BGE 100 V 171 (172):

2. a) ... (Betreffend Art. 12 Abs. 1 IVG: siehe vorn S. 33 f., Erw. 1a.)
b) Nach der Rechtsprechung haben - generell typisiert - an Kyphose, Skoliose oder Lordose leidende Jugendliche bis zum Abschluss des Wachstumsalters Anspruch auf jene medizinischen Vorkehren, welche notwendig sind, um dauernde Skelettschäden zu verhüten, die ihre Berufsbildung oder ihre spätere Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen würden. Dieser Anspruch besteht im Einzelfall nur dann nicht, wenn und solange kein derart schwerwiegender Defektzustand droht. Da durch frühen Behandlungsbeginn die Entstehung einer schweren Wirbelsäulenverkrümmung und damit allenfalls eine Operation sich vermeiden lassen, sind die indizierten Massnahmen frühzeitig genug zu gewähren (BGE 98 V 216). Dabei genügt es, dass ein schwerer Defektzustand mit Wahrscheinlichkeit droht; ein Sicherheitsbeweis, der kaum zu erbringen wäre, ist nicht notwendig.
c) Das Bundesamt für Sozialversicherung hat in Verbindung mit Vertretern der schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie Abgrenzungskriterien ausgearbeitet, nach denen der drohende schwere Defektzustand umschrieben werden soll. Diese sind in Rz. *72 des Kreisschreibens über medizinische Massnahmen, gültig ab 1. April 1974, wie folgt formuliert:
"Konservative Massnahmen bei idiopathischer (nicht angeborener) Skoliose (Gymnastik, Physiotherapie, redressierende Apparate) stellen eine Behandlung des Leidens an sich dar und werden von der IV bei Erwachsenen nicht übernommen.
Bei schweren Skoliosen von Minderjährigen wird die Behandlung nach Rz. 21 übernommen, sobald und solange ein schwerer Defekt droht. Dies ist von dem Zeitpunkt an anzunehmen, da der Orthopäde das Tragen eines redressierenden Apparates (z.B. Milwaukee-Korsett) während mindestens eines Jahres verordnet. Die Leistungspflicht der IV endigt, sobald der Apparat nicht mehr getragen werden muss, spätestens bei Erreichen des 20. Altersjahres.
Versteifende Operationen, inkl. Harrington-Operation, die die berufliche Ausbildung ermöglichen oder die Erwerbsfähigkeit wesentlich verbessern (Rz. 17 ff.), sind in schwersten Fällen medizinische Eingliederungsmassnahmen der IV.
Zu Lasten der IV geht auch die einer vorgesehenen Versteifungsoperation unmittelbar vorangehende Distraktionsbehandlung."
Diese Verwaltungspraxis trägt den Schwierigkeiten Rechnung, in jedem Fall die erst für die Zukunft drohende vollständige

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oder teilweise Invalidität zuverlässig abzuschätzen. Deshalb rechtfertigt es sich im Interesse der Praktikabilität und der Rechtsgleichheit, generell typisierte Kriterien aufzustellen, nach denen der jeweilige Einzelfall in der Regel zu beurteilen ist. Das heisst allerdings nicht, dass in besonderen Fällen der drohende schwere Defektzustand, welcher die Berufsbildung oder die spätere Erwerbsfähigkeit des Jugendlichen voraussichtlich beeinträchtigen wird, nicht auch auf andere Weise nachgewiesen werden kann. In diesem Sinne ist der vom Bundesamt für Sozialversicherung eingeleiteten Verwaltungspraxis zuzustimmen, die sich im übrigen an die von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Grundsätze hält.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Wallis vom 27. Mai 1974 aufgehoben.