BGE 101 V 257
 
52. Urteil vom 29. Dezember 1975 i.S. D. gegen Ausgleichskasse Basel-Stadt und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen
 
Regeste
Art. 23 Abs. 1 lit. a und d AHVG.
 
Sachverhalt


BGE 101 V 257 (257):

A.- Am 7. Oktober 1974 sind E. D., Ehegatte der heute am Recht stehenden M. D., und das aus dieser Ehe stammende Kind tot im Auto aufgefunden worden. Der Tod war durch Zuleitung von Abgasen in das Wageninnere eingetreten. Erhebungen zur Bestimmung des genauen Zeitpunktes des Todeseintrittes wurden nicht vorgenommen.
Mit Verfügung vom 27. Januar 1975 sprach die Ausgleichskasse des Kantons Basel-Stadt der M. D. eine einmalige Witwenabfindung zu mit der Begründung, sie sei vor Vollendung des 45. Altersjahres kinderlos verwitwet.


BGE 101 V 257 (258):

B.- Die Versicherte beschwerte sich gegen diese Verfügung bei der Kantonalen Rekurskommission des Kantons Basel-Stadt für die Ausgleichskassen, indem sie die Ausrichtung einer Witwenrente anstelle der Abfindung verlangte, weil zu vermuten sei, dass ihr Sohn noch gelebt habe, als ihr Ehemann starb.
Die Vorinstanz hat die Beschwerde mit Entscheid vom 4. April 1975 abgewiesen, im wesentlichen mit der Begründung, die Kommorientenregel des Art. 32 Abs. 2 ZGB gelte, mangels einer eigenen besondern Bestimmung, auch im Sozialversicherungsrecht. Dem würden spezifisch sozialversicherungsrechtliche Zweckgedanken nicht im Wege stehen.
C.- Mit ihrer gegen diesen Entscheid gerichteten Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert M. D. das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren, das sie wie folgt begründet: Bezüglich der Frage des Vorversterbens ihres Ehemannes befinde sie sich in einem Beweisnotstand, weil die staatlichen Organe die erforderliche Abklärung unterlassen hätten. Die Rekurskommission habe "weitgehend die sozialen Fakten und Erwägungen in einem so heiklen Falle" übergangen. Art. 23 Abs. 1 lit. a AHVG sei wohl "mit Absicht so grosszügig formuliert worden, um, unabhängig von einem effektiven Aufwand für das überlebende Kind, eine Witwenrente zu gewähren". Es sollte deshalb der "Beweisnotstand umgekehrt" werden in dem Sinne, dass die Ausgleichskasse den Beweis des Vorversterbens des Kindes zu erbringen habe ...
Die Ausgleichskasse, die im kantonalen Prozess noch soziale Gründe zu Gunsten der Beschwerdeführerin angebracht hatte, verzichtet auf eine Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde, deren Abweisung vom Bundesamt für Sozialversicherung beantragt wird.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
Die Beschwerdeführerin erachtet die Annahme der Vorinstanz, ihr Ehemann und das Kind seien gleichzeitig verstorben,

BGE 101 V 257 (259):

als unhaltbar. Der kantonale Richter gründet seine Auffassung auf Art. 32 Abs. 2 ZGB, der bestimmt:
"Kann nicht bewiesen werden, dass von mehreren gestorbenen Personen die eine die andere überlebt habe, so gelten sie als gleichzeitig verstorben."
Diese Vorschrift regelt einen Tatbestand, der sich nicht nur im Bereich des Zivilrechts, sondern auch in öffentlich-rechtlichen Bereichen verwirklichen kann. Zwar ist es denkbar, dass die hier gültigen spezifischen Zweckgedanken und die gegenüber zivilrechtlichen Verhältnissen anders geartete Interessenlage eine abweichende positivrechtliche Ordnung erfordern. Solange aber keine spezielle Regelung besteht oder sich für das betreffende Rechtsgebiet der Natur der Sache nach keine andere Regel aufdrängt, ist um der Rechtseinheit und Rechtsgleichheit willen die zivilrechtliche Vorschrift sinngemäss anzuwenden.
Im Bereich der AHV drängt sich keine abweichende Ordnung auf, was zur Folge hat, dass die Vorschrift des Art. 32 Abs. 2 ZGB sinngemäss auf das vorliegende streitige verwaltungsrechtliche Verhältnis anzuwenden ist. Die damit verbundene Unbilligkeit, welche die Beschwerdeführerin beanstandet, liegt im System der Witwenrente nach Art. 23 AHVG begründet, das den Rentenanspruch der noch nicht 45jährigen Witwe davon abhängig macht, dass diese im Zeitpunkt der Verwitwung ein Kind hat, ohne Rücksicht auf den finanziellen Aufwand für dessen Unterhalt. Ebenso schwerwiegende Unbilligkeiten können sich bei Anwendung der Kommorientenregel des Art. 32 Abs. 2 ZGB offensichtlich aber auch im Zivilrecht, insbesondere im Erbrecht ergeben. Die Beweisschwierigkeit bezüglich der Frage des Vorverstorbenseins von Vater oder Kind hat keine spezifisch ahv-rechtliche Bedeutung. Insbesondere ist auch sozialversicherungsrechtlich unerheblich, ob die zuständigen Amtsstellen den Zeitpunkt des Todeseintritts zuwenig genau abgeklärt haben.
2. Das Bundesamt begründet seinen Abweisungsantrag mit den in BGE 100 V 208 entwickelten Grundsätzen. Dort ging es darum, ob eine noch nicht 45jährige Witwe, deren Ehemann im Dezember 1972, also einen Monat vor dem Inkrafttreten (1. Januar 1973) der für kinderlose Witwen gültigen neuen Altersgrenze von 45 Jahren, gestorben war, eine Witwenrente

BGE 101 V 257 (260):

beanspruchen könne. In Anwendung der im erwähnten Urteil angestellten Überlegungen sei, so meint das Bundesamt, einer kinderlosen Frau eine Witwenrente zuzusprechen, wenn die Witwe nach dem Tod ihres Mannes, jedoch vor dem ersten Tag des dem Tode des Ehemannes folgenden Monats ihr 45. Altersjahr zurücklege. Auf den vorliegenden Fall übertragen heisse das, dass der Versicherungsfall hinsichtlich des Rentenanspruchs der Beschwerdeführerin nicht schon mit dem Tod ihres Ehemannes und ihres Kindes am 7. Oktober 1974 eingetreten sei, sondern am 1. November 1974, zu welchem Zeitpunkt die Beschwerdeführerin unbestrittenermassen kinderlos gewesen sei. Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Art. 23 AHVG sagt einerseits, unter welchen Voraussetzungen der Witwenrentenanspruch entsteht (Umschreibung des anspruchsbegründenden Sachverhalts, Abs. 1 und 2), und anderseits, in welchem Zeitpunkt der Anspruch auf die konkrete Leistung entsteht (Versicherungsfall, Abs. 3). Aus den in BGE 100 V 208 erwähnten Gründen ist bei der übergangsrechtlichen Frage, ob altes oder neues Recht anzuwenden sei, auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalles abzustellen. Somit ist dieser dafür massgebend, ob der anspruchsbegründende Sachverhalt und die ihm entsprechende Rechtsfolge nach den Vorschriften des alten oder des neuen Rechtes zu beurteilen sind. Dies hat aber mit der Auslegung der gesetzlich umschriebenen Anspruchsvoraussetzungen, die heute allein zur Diskussion stehen, nichts zu tun.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.