BGE 102 V 18 |
6. Auszug aus dem Urteil vom 19. Januar 1976 i.S. Formicola gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Bern |
Regeste |
Pflicht zur Unfallanzeige: Säumnisfolgen (Art. 69 Abs. 1 und Art. 70 Abs. 2 KUVG). |
Sachverhalt |
A.- Der italienische Staatsangehörige Gaetano Formicola (geboren 1940) arbeitet seit 1962 in der Schweiz. Während der Monate Juli und August 1964 war er in einer Autogarage und später in einer Käsefabrik tätig, wo er am 28. Mai 1971 und 9. Juni 1973 zwei Betriebsunfälle erlitt, welche ordnungsgemäss der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gemeldet wurden. |
Am 12. November 1973 teilte Gaetano Formicola der SUVA mit, er habe schon am 16. Juli 1964 einen Betriebsunfall erlitten, weswegen er in Italien noch im Oktober des gleichen Jahres am linken Auge operiert worden sei. Er führte in der Anmeldung aus, die Augenverletzung rühre von einem Metallsplitter her, der beim Schweissen oder Polieren in sein linkes Auge geraten sei. Die SUVA konnte nicht feststellen, wie und wann sich der gemeldete Unfall ereignet hatte.
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Mit Verfügung vom 5. Juli 1974 teilte die Anstalt Gaetano Formicola mit, die Störungen an seinem linken Auge seien nicht unfallbedingt, weshalb sie die Gewährung von Versicherungsleistungen ablehne.
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B.- Gegen die Verfügung der SUVA beschwerte sich Gaetano Formicola beim Versicherungsgericht des Kantons Bern. Er liess beantragen, die SUVA sei zu verurteilen, ihm die wegen des Unfalls vom 16. Juli 1964 zustehenden gesetzlichen Leistungen zu erbringen.
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Sein Augenarzt teilte dem kantonalen Gericht mit, anlässlich einer Konsultation vom 7. Dezember 1966 habe ihm Gaetano Formicola erklärt, er sei "nach einem Unfall und einer späteren Operation in Italien" erblindet. Gestützt auf diese Angaben und auf die Erklärungen des italienischen Chirurgen, welcher in seinem Bericht vom 28. Dezember 1973 bestätigte, er habe Gaetano Formicola im Oktober 1964 wegen "cataratta traumatica" operiert und damals erfahren, dass der Patient 3 Monate zuvor während des Schweissens eine Verletzung am linken Auge erlitten habe, wies das Versicherungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 27. Juni 1975 die Beschwerde ab. Es führte u.a. aus, der Beschwerdeführer müsse sich bereits im Herbst 1964 darüber bewusst gewesen sein, dass sein Augenleiden mit dem behaupteten Unfallereignis zusammenhänge; daher sei die Anmeldung vom 12. November 1973 bei der SUVA offensichtlich unentschuldbar verspätet.
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C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert Gaetano Formicola das erstinstanzliche Rechtsbegehren. In der Begründung lässt der Beschwerdeführer zur Hauptsache vortragen, es sei ihm im November 1973 erstmals bewusst geworden, dass die Erblindung seines linken Auges vom Unfallereignis aus dem Jahre 1964 herrühre; er habe unverzüglich Unfallanzeige an die SUVA erstattet. Ferner habe die Vorinstanz nicht berücksichtigt, dass anlässlich der ersten Konsultation vom 7. Dezember 1966 bei seinem Augenarzt weder über das Datum des Unfalls noch über dessen Anmeldung bei der SUVA gesprochen worden sei und dass auch in persönlicher Hinsicht bedeutsame Momente die Annahme verböten, dem Beschwerdeführer seien die Unfallfolgen früher als im November 1973 bekannt geworden; demzufolge sei kein unentschuldbares Versäumnis im Sinne vom Art. 70 Abs. 2 KUVG entstanden. |
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: |
1. Gemäss Art. 69 Abs. 1 KUVG hat der Versicherte, der innerhalb oder ausserhalb des Betriebes von einem Unfall betroffen wird, den Betriebsinhaber oder dessen Stellvertreter "ohne Verzug" davon in Kenntnis zu setzen. Um die erheblichen Einzelheiten des Tatbestandes aufnehmen, die Ursache und Schwere des Unfalles abklären und rechtzeitig die geeigneten Behandlungsvorkehren treffen zu können, ist es unerlässlich, dass der Betriebsinhaber und durch ihn die Anstalt so rasch als möglich vom Unfall Mitteilung erhalten. Dass im Zeitpunkt der Anzeige der Anspruch auf Versicherungsleistungen bereits feststehe, ist keineswegs erforderlich. Vielmehr besteht die Pflicht zur Meldung schon dann, wenn der Unfall "mutmasslich" (probablement, presumibilmente) eine Krankheit oder Invalidität zur Folge haben wird, d.h. sobald der Verunfallte, sei es aus eigener Überzeugung, sei es auf Äusserungen seines Arztes hin, das künftige Auftreten von Unfallfolgen als wahrscheinlich erachtet. Ob eine weitere Voraussetzung der Anmeldepflicht darin bestehe, dass dem Verunfallten auch die wahrscheinliche Haftbarkeit der SUVA bewusst sei, ist im Gesetz nicht ausdrücklich statuiert. Indessen muss die Frage aus naheliegenden Gründen bejaht werden. Dagegen ginge es zu weit, von einem Verunfallten unter Androhung von Sanktionen die Meldung eines Schadensereignisses in einem Zeitpunkt zu verlangen, da ihm noch gar nicht bewusst ist, dass sein Leiden mit einem versicherten Unfall wahrscheinlich in Zusammenhang steht. Wegen bloss möglicher Unfallfolgen oder wegen bloss möglicher Ansprüche den Betriebsinhaber und die Anstalt zu behelligen, wird vom Versicherten nirgends verlangt. Das Gegenteil würde zu einer Überlastung der mit der Abklärung solcher Fälle betrauten Organe führen. Erst dann sollen die in Art. 70 KUVG normierten Sanktionen wegen unentschuldbarer Versäumnis eintreten können, wenn der Verunfallte, obschon er damit rechnet oder rechnen muss, dass die SUVA wahrscheinlich für das Unfallereignis grundsätzlich einzustehen und dass der Unfall voraussichtlich eine Krankheit oder eine Invalidität zur Folge haben wird, gleichwohl nicht unverzüglich Anzeige erstattet (vgl. MAURER, Recht und Praxis der Schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2. Auflage 1963, S. 163 ff. und die dort zitierte Rechtsprechung). |
Im vorliegenden Fall steht zwar nicht fest, wo, wie und wann der Beschwerdeführer verunfallt ist. Diese Frage braucht aber im letztinstanzlichen Verfahren nicht geprüft zu werden; denn auch unter der Annahme, der Beschwerdeführer sei bei der SUVA versichert gewesen, als er sich den streitigen Unfall zuzog, muss die Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus den nachfolgenden Gründen abgewiesen werden.
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Nach seinen eigenen Angaben vom 5. Juni 1974 der SUVA gegenüber war er ursprünglich als Automechaniker in Italien tätig und kam im September 1962 zum ersten Mal in die Schweiz. Bis zur Zeit des streitigen Unfalles arbeitete er hier in zwei der SUVA unterstellten Betrieben, in denen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die Bekanntgabe der Zugehörigkeit der Betriebe zur obligatorischen Unfallversicherung gemäss Verfügung vom 19. November 1917 des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements erfolgte, d.h. durch Anschlag an einer vom versicherten Personal begangenen Stelle. Daher ist es unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer zur Zeit des Unfalles - dessen Hergang laut Unfall-Anzeige vom 14. Mai 1974 niemand im Betrieb bemerkte - und noch Jahre später nicht wusste, ob er bei der SUVA versichert gewesen sei. Zwar lässt der Beschwerdeführer vortragen, er sei schwerfällig, unselbständig, Analphabet und der deutschen Sprache nicht mächtig. Diesen Argumenten ist aber entgegenzuhalten, dass Gaetano Formicola seinen Namen schreiben kann und dass aus den Akten nichts zu entnehmen ist, was darauf schliessen liesse, er wäre ausserstande, Gedrucktes zu lesen; er selber hat am 7. Dezember 1966 seinem Augenarzt, wie dieser berichtet, über Beschwerden "beim Lesen" geklagt. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer selber sofort eine neue Beschäftigung bei der Autogarage fand, nachdem er im Jahre 1964 von der Firma X. entlassen worden war. Bereits vom Herbst des nachfolgenden Jahres an arbeitete er wieder in der Schweiz bei einer Käsefabrik. Dort erlitt er am 28. Mai 1971 einen Betriebsunfall, den er durch seinen Arbeitgeber unverzüglich der SUVA anmelden liess. Im Juni 1974 gab Gaetano Formicola der SUVA an, er habe einen neuen Arbeitsvertrag mit der Firma Y. abgeschlossen. Dies alles spricht gegen seine angebliche Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit. |
Nach dem Gesagten ist die angefochtene Verfügung der SUVA vorinstanzlich mit Recht auf Grund von Art. 69 und 70 KUVG geschützt worden. Selbst wenn anzunehmen wäre, dem Beschwerdeführer sei erst im Jahre 1971 bewusst geworden, die Erblindung seines linken Auges stehe in Zusammenhang mit einem früheren versicherten Unfall, erwiese sich die Anmeldung vom 12. November 1973 gleichwohl als offensichtlich und unentschuldbar verspätet. Denn im Jahre 1971, in welchem der Beschwerdeführer einen Betriebsunfall in der Schweiz erlitt, der ordnungsgemäss der SUVA gemeldet wurde, muss Gaetano Formicola von dieser Anstalt und deren Leistungen wenigstens so viel erfahren haben, dass er nicht in guten Treuen mit der Meldung des Augenschadens zwei weitere Jahre zuwarten durfte. |
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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