BGE 102 V 108
 
24. Urteil vom 25. Mai 1976 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Wüest und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft
 
Regeste
Schwimmunterricht, den ein Sonderschüler ausserhalb seiner Sonderschulung erhält, fällt nicht unter Art. 19 Abs. 2 lit. c IVG.
 
Sachverhalt


BGE 102 V 108 (108):

A.- Der im Jahre 1966 geborene Andreas Wüest leidet an kongenitaler Oligophrenie (Art. 2 Ziff. 403 GgV). Laut Zeugnis des Kinderpsychiatrischen Dienstes des Kantons Basel-Landschaft in mittlerem Grade schwachsinnig, besucht er seit 1972 die Schule X., die das Bundesamt für Sozialversicherung als Sonderschule anerkannt hat. Auf Grund der Art. 10 und 8 Abs. 1 lit. c IVV gewährt die Invalidenversicherung den Sonderschulbeitrag und übernimmt auch die Kosten der Heileurhythmie, die in der Sonderschule mit dem Knaben betrieben wird.
B.- Im August 1975 schrieb Dr. G. als Arzt dieser Schule der Invalidenversicherungs-Kommission, der körperlich normale Knabe brauche Schwimmunterricht im Lehrschwimmbecken eines Basler Schulhauses, und wandte sich an die hiefür zuständige Sektion des Schweizerischen Roten Kreuzes. Doch entschied die Kommission am 8. September, Schwimmunterricht sei keine medizinische oder pädagogisch-therapeutische Massnahme und gehe daher nicht zu Lasten der Invalidenversicherung. Diesen Beschluss eröffnete die kantonale Ausgleichskasse den Eltern des Knaben mit Verfügung vom 23. September 1975.


BGE 102 V 108 (109):

C.- Die Mutter M. Wüest rekurrierte und berief sich auf Dr. G., der am 4. Oktober 1975 der Invalidenversicherungs-Kommission folgendes geschrieben hatte:
Nach heutiger pädagogischer Anschauung gehöre Schwimmunterricht ins normale Programm einer Sonderschule. Auch im vorliegenden Falle sei dieser Unterricht "keine pädagogische oder medizinische Extraleistung". Nur weil die ... Schule keinen eigenen Schwimmlehrer habe, schicke sie ihre Schüler in den ergotherapeutischen Schwimmkurs des Roten Kreuzes.
Mit Urteil vom 4. Dezember 1975 verhielt das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft die Invalidenversicherung, für den Schwimmunterricht des Knaben und die damit verbundenen Transportkosten aufzukommen. Dieser Unterricht gehe nach Art. 8 Abs. 1 lit. c IVV zu Lasten der Versicherung.
D.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den kantonalen Entscheid aufzuheben. Es bringt hauptsächlich folgendes vor:
"Schwimmen ... ist ein Schulfach, das nach allgemeingültiger Auffassung als integrierender oder unerlässlicher Bestandteil des Sonderschulprogramms zumindest für Behindertenkategorien gilt, denen der minderjährige Andreas Wüest zuzuordnen ist ... Notwendiger Schwimmunterricht für diejenigen Invaliden, welche am gleichen Gebrechen wie der Versicherte leiden, kann als Bestandteil des besonderen Unterrichtsprogramms für Sonderschüler auch dann nicht separat oder zusätzlich oder über den in Art. 10 lit. a IVV fixierten Beitrag hinaus vergütet werden, wenn er aus irgendwelchen ... Gründen (kein geeignetes Schwimmbecken für solche Behinderte; kein Fachpersonal usw.) nicht im Rahmen des Unterrichts in der Sonderschule, sondern nur auswärts ... durchgeführt werden kann ... Diesbezügliche Mängel eines Sonderschulprogramms oder der Schulorganisation rechtfertigen es noch nicht, eine an sich nützliche oder gar ... unerlässliche Förderung restlicher Fähigkeiten, wie sie im Schulfach Schwimmen angestrebt wird, als Massnahme pädagogisch-therapeutischer Art zu qualifizieren.
Von einer Sonderschule, in die ein im Sinne des Gesetzes invalider sonderschulbedürftiger Minderjähriger plaziert wird, muss für die Belange der IV verlangt werden, dass sie tatsächlich das gesamte zur Förderung oder Unterrichtung notwendige Schulprogramm "anbieten" kann, somit auch für bestimmte Behindertenkategorien den Schwimmunterricht ... Andernfalls müsste man die Frage stellen, ob die gewählte Schule hinsichtlich des betreffenden Behinderten die geeignete Schulungsmöglichkeit sei."


BGE 102 V 108 (110):

Die Mutter des Versicherten hat keine Beschwerdeantwort eingereicht.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
Einer Sonderschulung bedürfen unter anderem die in mittlerem Grade schwachsinnigen Kinder. Denn ihnen kann erfahrungsgemäss das Sprechen und bis zu einem gewissen Niveau auch das Lesen und Schreiben beigebracht werden (FANCONI UND WALLGREN, Lehrbuch der Pädiatrie, 9. Aufl., S. 81; LUTZ, Kinderpsychiatrie, 4. Aufl., S. 156).
2. Laut Art. 19 Abs. 2 lit. c IVG in Verbindung mit den Art. 8 Abs. 1 lit. c und 10bis IVV übernimmt die Invalidenversicherung ausserdem die Kosten von pädagogisch-therapeutischen Massnahmen, wenn solche bei einem invaliden Kinde zusätzlich zum Sonderschulunterricht notwendig sind (sont nécessaires en plus de l'enseignement de l'école spéciale; sono necessari in più dell'istruzione speciale) und demnach jenen Unterricht zu ergänzen bestimmt sind. Als derartige zusätzliche Massnahmen gelten hauptsächlich die Sprachheilbehandlung für schwer Sprachgebrechliche, das Hörtraining und der Ableseunterricht für Gehörgeschädigte, die Vorkehren zum Spracherwerb und Sprachaufbau für hochgradig geistig Behinderte sowie die Sondergymnastik zur Förderung gestörter Motorik für Sinnesbehinderte und hochgradig geistig Behinderte, wie die beispielsweise Aufzählung in Art. 8 Abs. 1 lit. c IVV zeigt.
3. Schwimmunterricht ist keine den Sonderschulunterricht ergänzende Massnahme, sondern ein Teil der in Art. 19 Abs. 1 IVG

BGE 102 V 108 (111):

erwähnten eigentlichen Schulausbildung und allfälligen praktischen Förderung. Denn er ist keine pädagogisch-therapeutische "Extraleistung", sondern gehört nach moderner pädagogischer Anschauung zum normalen Programm einer Sonderschule, wie der Arzt der Schule X. am 4. Oktober 1975 zuhanden der Invalidenversicherungs-Kommission bescheinigt hatte und das Bundesamt für Sozialversicherung in der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit einleuchtender Begründung bestätigt.
Aus diesem Grunde kann der einem Sonderschüler ausserhalb der Sonderschulung erteilte Schwimmunterricht nicht unter die Art. 8 Abs. 1 lit. c und 10bis IVV subsumiert werden. Daraus erhellt für den vorliegenden Fall, dass die am 23. September 1975 ergangene Kassenverfügung zu Recht besteht.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und das vorinstanzliche Urteil aufgehoben.