BGE 103 V 32
 
8. Urteil vom 10. März 1977 i.S. Eidgenössische Militärversicherung gegen Roedel und Versicherungsgericht des Kantons Zürich
 
Regeste
Art. 7 Abs. 1 MVG.
 
Sachverhalt


BGE 103 V 32 (32):

A.- F. Roedel erhielt als Angehöriger der Pz Stabskp 26 am 28. November 1974 zwischen 05.30 und 06.00 Uhr den Auftrag, den ihm dienstlich anvertrauten leichten Geländelastwagen, der hinter der Stadthalle Bülach parkiert war, vor das Kantonnement zu fahren. Beim Gang zum Parkplatz stolperte er über das 65 cm hohe Betonmäuerchen, welches die in das Kellergeschoss führende Einfahrt zur Stadthalle sichert, und stürzte 2 1/2 m tief in diese Einfahrt hinunter. Dabei zog er sich schwere Schädel- und Gehirnverletzungen zu.


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Die vom militärischen Untersuchungsrichter angeordnete Blutanalyse ergab einen Alkoholgehalt von rund 1,03 Gewichtspromille. In seinem Untersuchungsbefund wies der Gerichtschemiker ausdrücklich auf folgende Umstände hin: "Blutentnahme nach 1 Std. Operation, massive Blutung, 5 Beutel Blut transfundiert + 1000 ml Plasmaersatzmittel." Die Frage nach dem Alkoholgehalt zur rechtlich relevanten Zeit liess er offen mit der Bemerkung, dass zur Interpretation des gefundenen Blutwertes genaue Angaben über Trink- und Zeitverhältnisse kurz vor dem kritischen Ereignis nötig seien. Zusätzliche Fragen der Militärversicherung nach dem Blutalkoholgehalt im Zeitpunkt des Unfalles beantwortete das Gerichtlich-Medizinische Institut am 11. August 1975 unter anderem in dem Sinne: Vor allem angesichts der erwähnten besondern Umstände lasse sich die Blutalkoholkonzentration für den kritischen Augenblick nicht bestimmen. Immerhin dürfe angenommen werden, dass sie nicht unter dem Analysenresultat liege, das unter Berücksichtigung der Fehlergrenzen einen Wert von 0,98 Gewichtspromille ergebe.
Am 5. November 1975 verfügte die Militärversicherung, dass sie die Barleistungen an Roedel gestützt auf Art. 7 Abs. 1 MVG um 15% kürze, weil dieser im Zeitpunkt des Unfalles "noch unter erheblichem Alkoholeinfluss stand" und weil "er diesen Zustand grobfahrlässig herbeigeführt hat". Hingegen würden die Heilungs- und Behandlungskosten im Rahmen der vertraglichen Abmachungen voll zu Lasten der Militärversicherung übernommen.
B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die von Roedel gegen die Kürzungsverfügung erhobene Beschwerde gut (Entscheid vom 2. Juli 1976).
C.- Die Militärversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Wiederherstellung ihrer Verfügung vom 5. November 1975.
Der Versicherte lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 7 Abs. 1 MVG können die Leistungen der Militärversicherung gekürzt und in besonders schweren Fällen ganz verweigert werden, wenn der Versicherte die Gesundheitsschädigung

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vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt hat. Grobfahrlässig handelt nach der Rechtsprechung, wer jene elementarsten Vorsichtsgebote unbeachtet lässt, die jeder vernünftige Mensch in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen befolgen würde, um eine nach dem natürlichen Lauf der Dinge voraussehbare Körperschädigung zu vermeiden (BGE 98 V 228). Im übrigen hat der Entscheid über die Leistungskürzung bzw. Leistungsverweigerung alle Umstände des einzelnen Falles, insbesondere die Grösse des Verschuldens und die wirtschaftliche Lage des Anspruchsberechtigten zu berücksichtigen (Art. 7 Abs. 2 MVG).
Nach den unwidersprochenen Feststellungen des kantonalen Richters herrschten völlige Dunkelheit und ein orkanartiger Wind, der von massiven Regengüssen begleitet war, als der Beschwerdegegner am Morgen des 28. November 1974 sich zum Parkplatz begab. Gegenüber dem militärischen Untersuchungsrichter hatte der Zeuge Wm S. ausgesagt: Die Beleuchtung auf dem Parkplatz habe nicht gebrannt. Es sei dort stockdunkel gewesen. Er selber habe die Mauer, über welche Roedel gestürzt sei, sehr schlecht gesehen: "Das einzige, was man auf diesem Platz sah, waren zwei helle Flecken von den Reflektoren des Pinzgauer." Dabei ist zu beachten, dass es bereits nicht mehr stark regnete, als S. sich etwa eine halbe Stunde nach dem Versicherten auf den Parkplatz begab. Umso schlimmer musste demnach die Sichtbehinderung für den Beschwerdegegner gewesen sein, als dieser unter strömendem Regen den Parkplatz aufsuchen wollte. Der Versicherte trug zudem eine Brille, ein Umstand, der bei massiven Regengüssen eine zusätzliche Behinderung darstellen kann. Bei diesen Sicht- und Witterungsverhältnissen hätte sich durchaus auch ein anderer Wehrmann in der Marschrichtung und in der Distanz täuschen können, so dass er selbst bei vorsichtiger

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Gangart unvermutet rasch auf das nur knapp Kniehöhe erreichende Mäuerchen gestossen wäre, das Gleichgewicht verloren hätte und in die Kellereinfahrt hinuntergestürzt wäre. Die Militärversicherung vermag aus BGE 98 V 227 nichts zu ihren Gunsten abzuleiten. Denn der dort geschilderte, bei völliger Dunkelheit durchgeführte Sprung über eine 1,4 m breite Kellertreppe gegen ein höher gelegenes Schlafzimmerfenster lässt sich in keiner Weise mit dem Gang über den Platz vor einem öffentlichen Gebäude vergleichen. Ebenso wenig stichhaltig ist der Hinweis in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde auf den Fussgänger, der bei stürmischem Regenwetter mit dem Schirm unvorsichtig die Fahrbahn betritt und wegen der Witterung nicht auf den Verkehr achtet. Mit Recht macht der Beschwerdegegner demgegenüber geltend, dass jeder vernünftige Mensch wisse, dass er sich beim Betreten der Fahrbahn in einen Gefahrenbereich begibt, währenddem der Vorplatz vor der Stadthalle an sich noch bei weitem keine Gefahrenquelle darstellt.
Bloss darin, dass der Versicherte bei seinem Gang zum Parkplatz das Mäuerchen nicht beachtete, kann also keine kürzungsbegründende grobe Fahrlässigkeit erblickt werden.
Aus dem gutachtlichen Bericht des Gerichtlich-Medizinischen Institutes ist ersichtlich, dass die Blutentnahme zur Bestimmung des Alkoholwertes nach der einstündigen Operation erfolgt ist. Dazu führt der Gerichtsmediziner aus:
"Da der Blutverlust in unseren Akten quantitativ nicht erfasst ist und verschiedene therapeutische Massnahmen vor der Blutentnahme durchgeführt wurden, insbesondere Bluttransfusionen und Gabe von Plasma-Ersatzmitteln, ist es nicht mehr möglich, die Blutalkoholkonzentration für die Zeit des kritischen Ereignisses zu bestimmen. Immerhin darf angenommen werden, dass die Blutalkoholkonzentration zur rechtlich relevanten Zeit nicht unter dem Analysenresultat liegt, das unter Berücksichtigung der Fehlergrenzen einen Wert von 0,98 Gewichtspromille ergibt. Wir gehen dabei selbstverständlich davon aus, dass die verabreichten Bluttransfusionen frei von Alkohol waren. Wir haben deshalb versucht, auf Grund der angegebenen Zeit- und Trinkverhältnisse die mutmassliche Blutalkoholkonzentration zur rechtlich relevanten Zeit zu ermitteln. Der Angeschuldigte soll jeweilen

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6-7 Flaschen Bier zwischen 19.30 h und 24.00 h getrunken haben. Wegen der starken Schwankung der individuellen Abbauwerte (0,1-0,25 Promille pro Stunde) ergibt aber auch diese Berechnung recht unzuverlässige Werte. Sie liegen bei Annahme des Konsums von 7 Flaschen Lagerbier zwischen 0,45 und 1,95 Gewichtspromille, bei Annahme eines Konsums von 6 Flaschen Lagerbier zwischen 0 und 1,5 Gewichtspromille. Auf eine ausführliche Darstellung dieser Berechnung verzichten wir, da sie ohnehin kaum verwertbare Resultate ergibt."
Daraus muss geschlossen werden, dass der Annahme einer Blutalkoholkonzentration von 0,98 Gewichtspromille lediglich die Bedeutung einer Hypothese zukommt, welcher der im Sozialversicherungsprozess erforderliche Wahrscheinlichkeitswert fehlt.
Völlig unhaltbar ist die Behauptung der Militärversicherung, die Alkoholisierung des Beschwerdegegners ergebe sich auch daraus, dass er unmittelbar nach dem Unfall den Eindruck eines "Stockbesoffenen" gemacht und selber erklärt habe, er habe zu viel getrunken. - Beim Sturz zog sich Roedel ein Schädelhirntrauma mit rechtsseitiger Kalottenfraktur fronto-temporal, ein Epiduralhämatom an derselben Stelle und Stammhirnläsionen zu. Nachdem er kurz nach dem Unfall ins Wachtlokal zurückgekehrt war, verneinte er die Frage von Wm T., ob er angefahren worden oder umgefallen sei. Sowohl diesem Wehrmann gegenüber wie auch dem Gfr G. erklärte er, er sei auf dem Parkplatz gewesen, doch konnte er die Örtlichkeit nicht genauer bezeichnen. Dass er einen schweren Sturz erlitten hatte, wusste er offensichtlich nicht. Er klagte lediglich, er habe "soo einen Grind" und "er hätte zu viel getrunken, es sei nichts". Die gleichen Wehrmänner bestätigten übereinstimmend gegenüber dem Untersuchungsrichter aber auch, er habe sich vor dem Unfall völlig normal verhalten und nicht den Anschein eines Betrunkenen oder Angetrunkenen erweckt; er habe auch nicht nach Alkohol gerochen, während er - so Wm S. - nach dem Unfall "den Eindruck eines Stockbesoffenen" gemacht habe. Der schwer verletzte Versicherte war somit unfallbedingt gar nicht bewusstseinsorientiert, als er von sich selber behauptete, zu viel getrunken zu haben. Bei den geschilderten Gegebenheiten auf diese seine eigene Aussage abzustellen, geht nicht an. Dagegen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sein auffälliges Benehmen, das von den Zeugen als Betrunkenheit

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gedeutet wurde, in Wirklichkeit die Folge der erlittenen Schädelverletzung war.
Im übrigen ist überhaupt nicht erwiesen, dass Roedel am Vorabend des Unfalltages 6-7 Flaschen Bier getrunken hat. Gegenüber der Militärversicherung sagte E. am 5. Juni 1975, also ein halbes Jahr nach dem Ereignis zwar aus: "Ich stellte fest, dass er pro Abend, d.h. von ca. 20 bis 24 Uhr vielleicht seine 6-7 Flaschen Bier konsumiert hat." Dass dies auch am Vorabend der Fall gewesen wäre, vermochte er aber nicht konkret zu bestätigen, bemerkte er doch: "Ich stelle mir vor, dass er dieses Quantum auch am Abend vor seinem Unfall konsumiert haben könnte." Dabei handelt es sich offensichtlich um eine blosse Vermutung, denn E. selber traf den Versicherten an jenem Abend erst "im letzten besuchten Restaurant", konnte also der Militärversicherung keine zuverlässigen Angaben darüber machen, was Roedel während des ganzen Abends getrunken hatte.
Aber selbst wenn als erwiesen gelten könnte, dass der Beschwerdegegner am Vorabend tatsächlich 6-7 Flaschen Bier getrunken hat und die Blutalkoholkonzentration knapp 1%o betrug, so dürfte dieser Alkoholgehalt doch nicht als adäquate Teilursache des Unfalles betrachtet werden. Denn der Versicherte war anerkanntermassen alkoholgewohnt und alkoholtolerant. Somit rechtfertigt sich die Annahme, dass jedenfalls seine Grobreaktionen nicht wesentlich beeinträchtigt waren und dass der Beschwerdegegner, der auch nach den Zeugenaussagen vor dem Unfall einen normalen Eindruck machte, durchaus imstande war, ohne besonderes Unfallrisiko zu gehen. Daran ändert nichts, dass ihm die Fahrtüchtigkeit im viel komplizierteren und verantwortungsvolleren Bereich des Führens von Motorfahrzeugen allenfalls hätte abgesprochen werden müssen. Auch in dieser Sicht erweist sich die Leistungskürzung als unbegründet.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.