BGE 104 V 127
 
29. Auszug aus dem Urteil vom 9. November 1978 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Müller und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
 
Regeste
Hilflosenentschädigung.
 


BGE 104 V 127 (128):

Aus den Erwägungen:
Gemäss Art. 42 Abs. 2 IVG gilt als hilflos, wer wegen Invalidität für die alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf. Zu diesen Verrichtungen gehören nach ständiger Rechtsprechung in erster Linie das An- und Auskleiden, die Körperpflege, die Nahrungsaufnahme und das Verrichten der Notdurft sowie das normalmenschliche, der Gemeinschaft angepasste Verhalten, wie es der Alltag mit sich bringt (BGE 98 V 24).
Was die Bemessung der Hilflosigkeit anbelangt, war nach dem bis Ende 1976 geltenden Recht Dauer und Umfang der für die alltäglichen Lebensverrichtungen notwendigen Hilfe oder persönlichen Überwachung massgebend (Art. 39 Abs. 1 IVV in der Fassung vom 15. Januar 1968). Im übrigen beschränkte sich die IVV darauf, drei Grade der Hilflosigkeit festzulegen, ohne sie jedoch begrifflich zu umschreiben (Art. 39 Abs. 2 IVV in der Fassung vom 11. Oktober 1972). Nach der Rechtsprechung galt die Hilflosigkeit dann als schwer, wenn der Versicherte mindestens zu 2/3 hilflos war (BGE 98 V 24).
Nach dem revidierten Art. 66bis Abs. 1 AHVV (in der Fassung vom 29. November 1976) ist nun für die Bemessung der Hilflosigkeit der ebenfalls revidierte Art. 36 IVV (in der Fassung vom 29. November 1976), in Kraft seit 1. Januar 1977, sinngemäss anwendbar. Art. 36 Abs. 1 IVV lautet wie folgt:
"Die Hilflosigkeit gilt als schwer, wenn der Versicherte vollständig hilflos ist. Dies ist der Fall, wenn er in allen alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung

BGE 104 V 127 (129):

bedarf." Der Vergleich des neuen mit dem alten Recht ergibt, dass für die Bemessung der schweren Hilflosigkeit merklich strengere Massstäbe gelten (vgl. ZAK 1977 S. 19).
"... Wir sind daher der Auffassung, dass die Hilflosenentschädigung der AHV lediglich Altersrentnern gewährt werden soll, die wegen eines schweren Leidens seit mindestens einem Jahr für den grössten Teil ihrer Lebensverrichtungen auf fremde Hilfe oder persönliche Überwachung angewiesen, also hochgradig hilflos sind."
Der Gesetzgeber sei diesen Überlegungen gefolgt, was in der Formulierung des Art. 43bis Abs. 1 AHVG zum Ausdruck komme. Im übrigen habe das Eidg. Versicherungsgericht bis zum Inkrafttreten des Art. 36 Abs. 1 IVV (1. Januar 1977) entschieden, dass eine schwere Hilflosigkeit nicht bloss bei völliger Unfähigkeit, die alltäglichen Lebensverrichtungen zu besorgen, gegeben sei, sondern dass es genüge, wenn sie an Dauer und Umfang der täglichen Pflege und Wartung mindestens zwei Drittel dessen erfordere, was eine vollständig hilflose Person in dieser Hinsicht benötige. Eine Verschärfung der Anspruchsvoraussetzung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand sei zwar möglich (z.B. schwere Hilflosigkeit, wenn der Versicherte zu fünf Sechsteln hilflos sei). "Ein noch Höherschrauben der Anforderungen für den Bezug einer Hilflosenentschädigung für AHV-Rentner, wie dies in Art. 36 Abs. 1 IVV geschehen" sei, verletze indessen Art. 43bis Abs. 1 AHVG.
b) Dieser Auffassung der Vorinstanz kann nicht beigepflichtet werden. Auszugehen ist von Art. 43bis Abs. 5 AHVG, der den Begriff und die Bemessung der Hilflosigkeit nicht selbst umschreibt, sondern dafür das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung

BGE 104 V 127 (130):

(und damit auch die IVV) als sinngemäss anwendbar erklärt. In Art. 42 Abs. 2 IVG wird der Begriff der Hilflosigkeit definiert und in Art. 42 Abs. 4 IVG der Bundesrat ermächtigt, ergänzende Vorschriften zu erlassen. Dies hat der Bundesrat in den Art. 35-37 IVV in der Fassung vom 29. November 1976 getan, wobei er im hier umstrittenen Art. 36 IVV die Bemessung der Hilflosigkeit bzw. die Grade der Hilflosigkeit geregelt hat.
Indem nun Art. 43bis Abs. 5 AHVG hinsichtlich Begriff und Bemessung der Hilflosigkeit auf das IVG (und damit auch auf die IVV) verweist, gelten die entsprechenden Vorschriften des IVG auch für die Hilflosenentschädigung nach AHVG. Mit dem Verweis auf das IVG wollte der Gesetzgeber offensichtlich dessen Bestimmungen über Begriff und Bemessung der Hilflosigkeit für die Hilflosenentschädigung nach AHVG übernehmen. Wenn somit Art. 43bis Abs. 1 AHVG schwere Hilflosigkeit für den Anspruch auf Hilflosenentschädigung voraussetzt, so ist darunter schwere Hilflosigkeit, wie sie im IVG bzw. in der IVV umschrieben wird, zu verstehen. Dass die Bestimmungen der IVV über die Bemessung der Hilflosigkeit nachträglich (auf den 1. Januar 1977) modifiziert wurden, ändert nichts an ihrer Geltung für die Hilflosenentschädigung nach AHVG. Die Möglichkeit solcher Modifikationen hat der Gesetzgeber mit seiner Formulierung des Art. 43bis Abs. 5 AHVG in Kauf genommen.
Im übrigen ist der Vorinstanz insofern zuzustimmen, als vollständige Hilflosigkeit rein begrifflich nicht identisch ist mit schwerer Hilflosigkeit. Aber der Begriff "vollständig" ist auch nicht in extremer Weise zu verstehen. "Vollständig" im Sinne von Art. 36 Abs. 1 IVV bezieht sich lediglich auf die verschiedenen relevanten Lebensverrichtungen, d.h. vollständig hilflos bedeutet, dass der Versicherte in allen relevanten Lebensverrichtungen hilfsbedürftig ist. In den einzelnen Lebensverrichtungen braucht dagegen der Versicherte nach Art. 36 Abs. 1 IVV nicht "vollständig" hilfsbedürftig zu sein, sondern bloss "in erheblicher Weise".
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der in Art. 36 Abs. 1 IVV umschriebene Begriff der schweren Hilflosigkeit dem Art. 43bis Abs. 1 AHVG nicht widerspricht und somit für die Hilflosenentschädigung nach AHVG anwendbar ist...