105 V 9
Urteilskopf
105 V 9
3. Urteil vom 9. März 1979 i.S. Ackermann gegen Ausgleichskasse Gewerbe St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
Regeste
Witwenrente (Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG).
- Eine Ehefrau gilt nach dem Tode ihres Mannes so lange als Witwe, als sie nicht wieder heiratet.
- Pflegekinder, die von einer früheren Witwe nach ihrer Wiederverheiratung an Kindes Statt angenommen wurden, gelten nicht als "Kinder der Witwe".
A.- Die 1937 geborene Margrith Ackermann war in erster Ehe mit Arthur Ackermann verheiratet. Das Ehepaar Ackermann hatte während seiner Ehe Jörg K., geb. 22. April 1961, und Ursula I., geb. 16. Februar 1964, als Pflegekinder in den gemeinsamen Haushalt aufgenommen. Arthur Ackermann starb am 21. März 1968. Die Ausgleichskasse Gewerbe St. Gallen sprach den beiden Kindern ab 1. April 1968 je eine einfache Waisenrente und Margrith Ackermann eine einmalige Witwenabfindung zu. Am 5. Juni 1970 heiratete Margrith Ackermann J. S. Gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann adoptierte sie am 5. Juli 1973 die beiden Pflegekinder, womit deren Anspruch auf eine Waisenrente erlosch. Am 27. September 1977 wurde diese Ehe geschieden. Die beiden Adoptivkinder wurden Margrith Ackermann zugesprochen. In der Folge stellte diese ein Gesuch um Ausrichtung einer Witwenrente. Die Ausgleichskasse verneinte mit Verfügung vom 2. März 1978 einen diesbezüglichen Anspruch.
B.- Gegen diese Verfügung beschwerte sich Margrith Ackermann beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, welches die Beschwerde am 20. September 1978 abwies.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert Rechtsanwalt M. für Margrith Ackermann das Begehren, es sei ihr in
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Anwendung von Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG eine Witwenrente auszurichten, eventuell sei gemäss Art. 114 OG die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz oder an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.Sowohl die Ausgleichskasse als auch das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. Anspruch auf eine Witwenrente haben Witwen u.a. laut Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG, sofern im Zeitpunkt der Verwitwung eines oder mehrere Pflegekinder im Sinne von Art. 28 Abs. 3 AHVG im gemeinsamen Haushalt leben, die durch den Tod des Ehemannes Anspruch auf eine Waisenrente erwerben, und sofern der Ehemann unmittelbar vor dem Tode versichert war und zudem das oder die Pflegekinder von der Witwe an Kindes Statt angenommen werden. Der Anspruch erlischt mit der Wiederverheiratung, mit der Entstehung eines Anspruches auf eine einfache Altersrente oder mit dem Tode der Witwe (Art. 23 Abs. 3 AHVG). Nach Art. 46 Abs. 3 AHVV in Verbindung mit Art. 23 Abs. 3 AHVG lebt der Anspruch auf eine Witwenrente, der mit der Wiederverheiratung der Witwe erloschen ist, am 1. Tag des der Auflösung der Ehe folgenden Monats wieder auf, wenn die Ehe nach weniger als 10jähriger Dauer geschieden oder als ungültig erklärt wird.
2. Streitig ist, ob der Anspruch auf eine Witwenrente entstanden ist, obwohl die Beschwerdeführerin die Pflegekinder nicht im Zeitpunkt der Verwitwung, sondern erst nach der Wiederverheiratung zusammen mit ihrem zweiten Ehemann adoptiert hat. Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist, welche Bedeutung dem Begriff der Witwe zukommt.
Die Vorinstanz legt den Begriff der Witwe im Sinne von Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG so aus, dass darunter nur eine Frau zu verstehen ist, die sich nach dem Tode ihres Mannes nicht wieder verheiratet hat. Demgegenüber lässt die Beschwerdeführerin geltend machen, der Begriff der Witwe bezeichne nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht nur eine verwitwete Frau, die nicht erneut geheiratet habe, sondern auch eine solche, die wieder verheiratet sei. Das gehe insbesondere auch aus Art. 23 Abs. 3 AHVG hervor, wo der Gesetzgeber ausführe, dass der
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Anspruch auf eine Witwenrente wieder auflebe, wenn die neue Ehe der Witwe geschieden oder ungültig erklärt werde; hier gehe es offensichtlich ausschliesslich um Frauen, die nach ihrer Verwitwung wieder geheiratet hätten und nach Auffassung der Vorinstanz nicht mehr als Witwen bezeichnet werden könnten. Hätte der Gesetzgeber die Auffassung der Vorinstanz geteilt, hätte er von der neuen Ehe der ehemaligen Witwe sprechen müssen.Entgegen dieser Auffassung versteht man sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch im juristischen Sinne unter einer Witwe eine Ehefrau nach dem Tode ihres Mannes, solange sie nicht wieder geheiratet hat (vgl. u.a. BROCKHAUS, Enzyklopädie, Bd. 20, 1974). Das Familienbüchlein der Beschwerdeführerin enthält denn auch den Eintrag "Zivilstand vor der Trauung: verwitwet". Nach der zweiten Heirat würde er selbstverständlich "verheiratet" und nach der Scheidung "geschieden" lauten. Es trifft zwar zu, dass der Ausdruck "die neue Ehe der Witwe" in Art. 23 Abs. 3 AHVG ungenau ist, doch wollte der Gesetzgeber in diesem Artikel keineswegs eine andere Definition des Begriffes Witwe geben. Er hätte dies sonst auch sprachlich und gesetzestechnisch in einer anderen Weise getan. Dass in Art. 23 Abs. 3 AHVG keine andere Bedeutung der Witwe gemeint ist, wird besonders deutlich, wenn die französischen und italienischen Texte herbeigezogen werden. So lautet der betreffende Passus in der französischen Fassung: "en cas d'annulation ou de dissolution du second mariage..."; in der italienischen: "se le nuove nozze sono dichiarate nulle o vengono disciolte..." Diese Texte enthalten demnach nichts, was die Auslegung, die die Beschwerdeführerin dem deutschen Wortlaut geben möchte, stützen könnte. Unbehelflich ist sodann der Einwand, dass die Vorinstanz in ihrem Entscheid einmal den Ausdruck "wiederverheiratete Witwe" verwendete, da es sich dabei offensichtlich um eine verkürzte Ausdrucksweise zur Bezeichnung eines im Zusammenhang klaren Tatbestandes handelt.
Ist daher unter einer Witwe eine Ehefrau nach dem Tode ihres Mannes, solange sie nicht wieder geheiratet hat, zu verstehen, so gilt auch als erstellt, dass die Beschwerdeführerin die in Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG genannte Voraussetzung der Adoption der Pflegekinder als Witwe nicht erfüllt. Vielmehr hat sie die beiden Kinder erst nach der zweiten Heirat, also als Verheiratete,
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zusammen mit ihrem zweiten Ehemann adoptiert. Wie bereits die Vorinstanz zutreffend erläuterte, erhielten die Kinder damit die Rechtsstellung eigener Kinder der Adoptiveltern, so dass der Ehemann für die Kinder selbst nach einer Scheidung in erster Linie aufzukommen hat. Die in der zweiten Ehe der Beschwerdeführerin mit ihrem damaligen Ehemann adoptierten Kinder sind somit richtigerweise wie Kinder aus dieser geschiedenen Ehe zu behandeln. Anders ist indes die Lage, wenn eine Witwe die Pflegekinder adoptiert. Sie übernimmt in diesem Fall als Alleinstehende die Verpflichtung, für die Kinder aufzukommen. Die Fassung von Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG trägt diesem sachlichen Unterschied Rechnung. Es ist daher auch nicht etwa von einer Gesetzeslücke zu sprechen. Eine solche darf nach dem allgemeinen Grundsatz des Art. 1 Abs. 2 ZGB nur dann angenommen werden, wenn das Gesetz eine sich unvermeidlicherweise stellende Rechtsfrage nicht beantwortet (BGE 99 V 21 mit Hinweisen). Aus dem Umstand, dass in Art. 23 AHVG die Fälle, in denen eine Witwenrente ausgerichtet wird, explizit aufgezählt sind, ist hingegen zu schliessen, dass in allen andern Fällen kein Anspruch besteht. Die unterschiedliche Behandlung einer nach ihrer Verwitwung wieder verheirateten Frau im Scheidungsfalle je nach dem, ob sie die Pflegekinder vor oder nach der abermaligen Eheschliessung adoptiert hat, ist somit als Absicht des Gesetzgebers zu betrachten. Da die Beschwerdeführerin aufgrund von Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG in keinem Zeitpunkt einen Anspruch auf eine Witwenrente erworben hat, stellt sich die Frage des Wiederauflebens eines solchen Anspruches im Sinne von Art. 46 Abs. 3 AHVV nicht.Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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Regeste:
deutsch
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italienisch