BGE 105 V 180
 
42. Urteil vom 11. Juni 1979 i.S. H. gegen Schweizerische Grütli-Krankenkasse und Versicherungsgericht des Kantons Bern
 
Regeste
Art. 12 KUVG, Art. 14 Abs. 1 Vo III. Begriff der Krankheit (Zusammenfassung der Rechtsprechung). Beurteilung des Transsexualismus. (Erw. 1.)
- Zulässigkeit der Subdelegation der bundesrätlichen Befugnis zur Bezeichnung der Pflichtleistungen an das Eidgenössische Departement des Innern, soweit wissenschaftlich umstrittene diagnostische oder therapeutische Massnahmen in Frage stehen (Erw. 2b).
- Überprüfbarkeit der Departementsverfügung durch den Sozialversicherungsrichter (Bestätigung der Rechtsprechung; Erw. 2c).
- Die operative Geschlechtsumwandlung gehört nicht zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen (Erw. 3).
 
Sachverhalt


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A.- Die Versicherte war im Jahre 1941 als Knabe geboren und ins Zivilstandsregister eingetragen worden. Obwohl der Heranwachsende sich in stets zunehmendem Masse als Frau und sexuell zu den Männern hingezogen fühlte, verheiratete er sich. Die Ehe scheiterte und wurde geschieden. Die in den Jahren

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1974/75 in der Psychiatrischen Universitäts-Poliklinik des Kantonsspitals Zürich durchgeführten Untersuchungen bestätigten das Vorliegen von Transsexualismus. In der Folge wurde an der Universitäts-Frauenklinik Zürich eine Hormonbehandlung eingeleitet und am 10. Februar 1976 an der Urologischen Klinik und Poliklinik der Universität Bern die operative Geschlechtsumwandlung durchgeführt. Mit Entscheid vom 29. April 1976 bewilligte das Richteramt O. eine Änderung des Personenstatuts im Zivilstandsregister mit Eintrag des Namens C... Bereits im Oktober 1975 hatte die bei der "Schweizerischen Grütli" Versicherte die Kasse um die Übernahme der Kosten der bevorstehenden Geschlechtsumwandlungsoperation ersucht. Die Kasse unterbreitete die Frage ihrer Leistungspflicht in der Folge dem Bundesamt für Sozialversicherung, welches seinerseits an die Eidgenössische Fachkommission für allgemeine Leistungen der Krankenversicherung gelangte. Diese vertrat an ihrer Sitzung vom 13. Mai 1976 die Auffassung, dass die operative Geschlechtsumwandlung keine Pflichtleistungen der Krankenkassen begründe. Diesem Standpunkt schloss sich das Eidgenössische Departement des Innern mit Verfügung vom 24. November 1976 an. Dagegen liess die Versicherte durch ihren Rechtsvertreter beim Bundesrat Verwaltungsbeschwerde führen, verzichtete aber auf die Fortsetzung des Verfahrens, nachdem sie von der Eidgenössischen Justizabteilung darauf hingewiesen worden war, dass der Entscheid des Eidgenössischen Departements des Innern keine beschwerdefähige Verfügung darstelle und somit auf das Rechtsmittel nicht eingetreten werden könnte.
Mit Verfügung vom 4. Januar 1977 lehnte die "Schweizerische Grütli" die Übernahme der Operationskosten für die Geschlechtsumwandlung unter Hinweis auf die Verfügung des Eidgenössischen Departements des Innern ab.
B.- Beschwerdeweise liess die Versicherte die Aufhebung der Kassenverfügung und die Übernahme der Operationskosten als Pflichtleistung beantragen. Sie machte durch ihren Rechtsvertreter u.a. geltend, ein medizinischer Eingriff müsse als solcher immer und vorbehaltlos als medizinisch anerkannte Heilmassnahme gelten und es bestehe insoweit für den Entscheid der Fachkommission bzw. des Eidgenössischen Departements des Innern kein Raum. Bei der Verfügung des Eidgenössischen Departements des Innern handle es sich lediglich

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um eine Verwaltungsanweisung, welche den Sozialversicherungsrichter nicht zu binden vermöge.
Mit Entscheid vom 19. Januar 1978 wies das Versicherungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde ab. Es ging davon aus, dass die Leistungspflicht der Kasse schon deshalb entfalle, weil die Transsexualität keine Krankheit im Rechtssinne darstelle. Abgesehen davon erscheine die mit der Operation vorgenommene körperliche Veränderung nicht als zweckmässige Behandlung der vorhandenen psychischen Abwegigkeit.
C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die Versicherte C. H. ihr Begehren erneuern. Es wird daran festgehalten, dass der Verfügung des Eidgenössischen Departements des Innern vom 24. November 1976 keine verbindliche Wirkung zukomme, zumal sie auf einer unzulässigen Subdelegation beruhe. Im Hinblick auf die vorangegangene längere psychiatrische Behandlung könne der Krankheitscharakter nicht verneint werden. Über die Zweckmässigkeit habe der Chirurg und nicht der Richter zu entscheiden; es komme auch nicht darauf an, ob der Eingriff zu einem Erfolg führe. Das Bestehen ernsthafter Erfolgschancen genüge.
Die Kasse und das Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Nach Auffassung des Bundesamtes besteht kein Anlass, vom Entscheid des Eidgenössischen Departements des Innern, der sich im gesetzlichen Rahmen halte, abzugehen. In materieller Hinsicht könne nicht in Abrede gestellt werden, dass dem Leiden Krankheitswert zukomme. Die fragliche Operation stelle jedoch einen schwerwiegenden Eingriff in die körperliche Integrität dar, dem ein auf längere Sicht zumindest als problematisch zu bezeichnender therapeutischer Erfolg gegenüberstehe.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
a) Das KUVG setzt den Begriff der Krankheit voraus, ohne ihn zu umschreiben. Auch Art. 14 Abs. 1 Vo III hält lediglich fest, dass die Pflichtleistungen "im Falle der Krankheit" gewährt

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werden müssten. Angesichts der vielfältigen Erscheinungsformen krankhafter Zustände und Prozesse entzieht sich denn auch der Krankheitsbegriff einer strengen juristischen Definition (BGE 101 V 71). Immerhin wird man von Krankheit im Rechtssinne nur sprechen können, wenn Störungen vorliegen, die durch pathologische Vorgänge verursacht worden sind (BGE 101 V 71, EVGE 1968, S. 235). Im Bestreben, einen lückenlosen Versicherungsschutz in der sozialen Unfall- und Krankenversicherung zu gewährleisten, verwendet das Eidg. Versicherungsgericht in seiner neueren Praxis eine vom Unfallbegriff her gewonnene, negative Umschreibung des Krankheitsbegriffs: als Krankheit gilt danach eine Schädigung der physischen oder psychischen Gesundheit, die nicht auf einen Unfall oder dessen direkte Folgen zurückzuführen ist (BGE 102 V 132 f. mit Hinweisen).
b) Transsexualismus wird umschrieben als Drang, durch eine - meist chirurgische - Geschlechtsumwandlung dem anderen Geschlecht angehören zu können (UWE HENRIK PETERS, Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie, 2. Aufl., S. 532). Diese Grundveranlagung kann, wie der im unveröffentlichten Urteil i.S. A. vom 3. September 1976 wiedergegebenen gutachtlichen Stellungnahme des Psychiaters Dr. med. K. zu entnehmen ist, sekundär zu neurotischen Fehlentwicklungen oder schweren, beispielsweise psychopathischen, den gesamten Charakter prägenden Anomalien führen. Dass bei der Beschwerdeführerin eine ernstzunehmende psychische Konfliktsituation bestand, ist nicht von der Hand zu weisen und wird u.a. dadurch bestätigt, dass seit 1974 eine psychiatrische Behandlung notwendig war. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist deshalb im vorliegenden Fall der transsexuellen Veranlagung, welche zum umstrittenen Eingriff geführt hat, Krankheitswert beizumessen. Dementsprechend war die Kasse grundsätzlich verpflichtet, im Rahmen ihrer gesetzlichen und statutarischen Leistungspflicht für die Behandlung des Leidens aufzukommen.
2. a) Gemäss Art. 12 Abs. 2 KUVG haben die Krankenkassen sowohl bei ambulanter Behandlung (Ziff. 1) als auch bei einem Aufenthalt in einer Heilanstalt (Ziff. 2) u.a. für die ärztliche Behandlung und die wissenschaftlich anerkannten Heilanwendungen aufzukommen. Abs. 5 dieses Artikels ermächtigt den Bundesrat, nach Anhören einer von ihm bestellten Fachkommission (Art. 26 Vo III) die gemäss den vorgenannten Bestimmungen

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als ärztliche Behandlung und wissenschaftlich anerkannte Heilanwendungen zu übernehmenden Leistungen zu bezeichnen. Nach Art. 21 Abs. 1 Vo III umfasst die zur gesetzlichen Pflichtleistung gehörende ärztliche Behandlung die vom Arzt vorgenommenen wissenschaftlich anerkannten diagnostischen und therapeutischen Massnahmen. Soweit es sich um wissenschaftlich umstrittene Massnahmen handelt, hat der Bundesrat den Entscheid, ob diese als Pflichtleistungen zu übernehmen sind, an das Eidgenössische Departement des Innern delegiert (2. Satz).
Gestützt darauf und nach Einsichtnahme in den Entscheid der Eidgenössischen Fachkommission für allgemeine Leistungen der Krankenversicherung vom 13. Mai 1976 hat das Eidgenössische Departement des Innern am 24. November 1976 verfügt, dass die operative Geschlechtsumwandlung keine Pflichtleistungen der vom Bunde anerkannten Krankenkassen begründe (vgl. RSKV 1976, S. 217 f.). Es fragt sich, ob und inwieweit diese Verfügung den Sozialversicherungsrichter bei der Beurteilung der vorliegenden Streitfrage bindet.
b) Die Beschwerdeführerin vertritt den Standpunkt, die Verbindlichkeit des Departementsentscheids müsse schon deshalb in Frage gestellt werden, weil er auf einer unzulässigen Subdelegation beruhe. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Wie die Eidgenössische Justizabteilung in ihrem Schreiben vom 18. April 1977 zutreffend festgehalten hat, stellt der fragliche Erlass des Eidgenössischen Departements des Innern, obwohl als "Verfügung" bezeichnet, eine generell-abstrakte Norm, einen Rechtssatz dar. Gemäss Rechtsprechung ist die Subdelegation von Rechtssetzungsbefugnissen an ein Departement zulässig, wenn sie sich auf Vorschriften vorwiegend technischer Natur bezieht und kein Rechtsgrundsatz - namentlich des Verfassungsrechts - in Frage steht (BGE 101 Ib 74 f. mit Hinweisen; 105 V 23). Unter diesem Gesichtswinkel ist es nicht zu beanstanden, wenn der Bundesrat in Art. 21 Abs. 1 Vo III die ihm übertragene Kompetenz zur Bezeichnung der Pflichtleistungen, soweit es sich um wissenschaftlich umstrittene diagnostische und therapeutische Massnahmen handelt, an das Eidgenössische Departement des Innern subdelegiert hat.
c) Bei den auf Grund der erwähnten Subdelegation erlassenen Verfügungen des Eidgenössischen Departements des Innern betreffend Pflichtleistungen nach Art. 12 Abs. 5 KUVG

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handelt es sich demnach um Rechtsverordnungen, die als solche für den Richter verbindlich sind, ausser sie würden sich als nicht gesetzeskonform erweisen. Dabei muss dem Eidgenössischen Departement des Innern, das sich seinerseits durch eine Fachkommission beraten lässt, in der Frage, ob bestimmte ärztliche Behandlungen oder Heilanwendungen als wissenschaftlich anerkannt zu gelten haben, ein gewisser Beurteilungsspielraum zuerkannt werden. Der Sozialversicherungsrichter wird deshalb eine solche Verfügung nur dann als gesetzwidrig bezeichnen und ihr die Anwendung versagen, wenn sie auf einer klaren Fehlbeurteilung beruht, d.h. insbesondere im Falle einer willkürlichen Beurteilung der Frage der wissenschaftlichen Anerkennung einer Massnahme (vgl. das in RSKV 1970 Nr. 59 veröffentlichte Urteil Agnolini vom 29. Dezember 1969).
3. Nach der Rechtsprechung gilt eine Behandlungsart dann als bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft entsprechend, wenn sie von Forschern und Praktikern der medizinischen Wissenschaft auf breiter Basis anerkannt ist. Das Schwergewicht liegt auf der Erfahrung und dem Erfolg im Bereich einer bestimmten Therapie (EVGE 1962, S. 116, unveröffentlichtes Urteil vom 26. April 1974 in Sachen Flückiger, vgl. auch BGE 102 V 76). Obwohl mit einer operativen Geschlechtsumwandlung physische Änderungen vorgenommen werden, zielt dieser Eingriff ausschliesslich auf die Behandlung eines psychischen Leidens. Was die längerfristigen Erfolgsaussichten betrifft, finden sich indes in der einschlägigen Fachliteratur skeptische Stimmen (vgl. z.B. BLEULER, Lehrbuch der Psychiatrie, 12. Aufl., S. 570), weshalb das Eidgenössische Departement des Innern weder den Rahmen der Kompetenzdelegation nach Art. 12 Abs. 5 KUVG gesprengt noch von seiner Kompetenz willkürlichen Gebrauch gemacht hat, wenn es aus den in RSKV 1976, S. 217 f. dargelegten Gründen die operative Geschlechtsumwandlung von den Pflichtleistungen ausgenommen hat. Das Eidg. Versicherungsgericht hat deshalb keinen Anlass, die Verfügung als gesetzwidrig zu erklären und sie deswegen nicht anzuwenden.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.