105 V 213
Urteilskopf
105 V 213
48. Urteil vom 16. Oktober 1979 i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt gegen Benninger und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft
Regeste
Art. 98 Abs. 3 KUVG. Kürzung der Versicherungsleistungen.
Art. 121 Abs. 1 KUVG. Beweisregel nach BGE 96 V 96.
A.- Der bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) versicherte Benninger wurde am 28. August 1977 zwischen 3 und 4 Uhr von einem jugoslawischen Gastarbeiter
BGE 105 V 213 S. 214
und Amateurboxer namens D. mit einem Faustschlag zu Boden gestreckt, wo er bewusstlos liegen blieb; im Kantonsspital wurden eine Schädelfraktur, eine Contusio cerebri und ein epidurales Hämatom diagnostiziert. Benninger hatte eine Gruppe von randalierenden Jugoslawen, die an einem Fest Glühbirnen und Weinflaschen zerschlugen, zur Ruhe und Ordnung mahnen wollen.Mit Verfügung vom 31. August 1978 kürzte die SUVA ihre Leistungen gemäss Art. 98 Abs. 3 KUVG um 20%.
B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft hiess mit Entscheid vom 11. April 1979 die dagegen erhobene Beschwerde gut und hob die Kürzungsverfügung auf.
C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Wiederherstellung der angefochtenen Verfügung. Benninger lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Auf die Begründung der verschiedenen Standpunkte wird in den Erwägungen, soweit erforderlich, Bezug genommen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 98 Abs. 3 KUVG werden die von der SUVA zu erbringenden Versicherungsleistungen in einem dem Grade des Verschuldens entsprechenden Verhältnis gekürzt, wenn der Versicherte den Unfall grobfahrlässig herbeigeführt hat. Nach der Rechtsprechung handelt grobfahrlässig, wer elementare Vorsichtsgebote verletzt, die jeder verständige Mensch in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen beachten würde, um schädigende Folgen, die nach dem natürlichen Lauf der Dinge voraussehbar sind, zu verhindern (BGE 102 V 25).
2. Im vorliegenden Falle ist streitig, ob der Beschwerdegegner mit seiner Intervention bei den randalierenden Jugoslawen in grob schuldhafter Weise ein erkennbares Gefahrenrisiko eingegangen sei, ob er also ein elementares Vorsichtsgebot verletzt habe, das in jener Situation jeder verständige Mensch beachtet hätte.
a) Die Frage, ob jemand berechtigt oder gar (zumindest moralisch) verpflichtet ist, zum Schutze eines Rechtsgutes einzugreifen, oder ob er das den Ordnungskräften überlassen soll, lässt sich nicht generell beantworten. Die Beurteilung ist nur im Einzelfall möglich und hängt von den konkreten Umständen ab: vor allem von der äusseren Situation, in welcher eine Intervention
BGE 105 V 213 S. 215
in Erwägung gezogen werden kann, und von der Art der Durchführung der Intervention, wenn man sich dazu entschlossen hat.b) Die äussere Situation, in welcher sich die Frage nach einer Intervention ernsthaft stellen kann, ist immer aussergewöhnlich. Es gibt indes zahlreiche Abstufungen. Der zu beurteilende Unfall spielte sich zwischen 3 und 4 Uhr in der Nacht ab, als alle Beteiligten mehr oder weniger alkoholisiert waren. Das Verhalten der randalierenden Gruppe war offensichtlich in ganz besonderem Masse brutal und sinnlos. Der Beschwerdegegner sagt denn auch selber in der Vernehmlassung, die Jugoslawen seien "von blinder Zerstörungswut erfasst" gewesen und niemand habe gewusst, "wogegen sich ihre Gewalt noch richten werde". Der im Strafverfahren als Zeuge einvernommene B. erkannte, dass "die Gruppe Radaubrüder" nur Krach suchte, und sagte dies auch dem Beschwerdegegner, um ihn von einer Intervention abzuhalten (Einvernahmeprotokoll der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt vom 29. August 1977).
Die äussere Situation war demnach erkennbar schlecht geeignet für eine friedliche Intervention. Wenn sich der Beschwerdegegner trotzdem davon nicht abhalten liess, dann handelte er nicht so, wie es ein verständiger Mensch in dieser Lage getan hätte. Der Vorinstanz kann nicht beigepflichtet werden, wenn sie ausführt, die Intervention in solcher Lage stelle selbst dann keine Missachtung einer allgemeinen, anerkannten Sorgfaltspflicht dar, wenn Benninger "damit rechnen musste, in eine Schlägerei verwickelt zu werden".
Dass der Beschwerdegegner das erkennbare Risiko einging, muss ihm zum Verschulden angerechnet werden. Dieses würde in milderem Lichte erscheinen, wenn er sich eingesetzt hätte, um ein bedeutsames Rechtsgut (wie Leib und Leben oder ein unersetzliches Kulturgut) vor Schaden zu bewahren. Dem war aber nicht so. Abgesehen davon fragt es sich, ob es ihm überhaupt darum ging, fremdes Gut zu schützen, oder ob er sich einfach die Anpöbeleien der randalierenden Gruppe nicht länger gefallen lassen und aus diesem Grunde Remedur schaffen wollte (vgl. die nachstehend zitierte Zeugenaussage).
c) Über die Art, wie sich der Beschwerdegegner verhielt, als er sich zur Intervention entschloss, machte K. als Zeuge im Strafverfahren folgende Aussagen:
BGE 105 V 213 S. 216
"Die Ausländer... pöbelten uns aus einiger Distanz, es dürften ca. 10 m gewesen sein, an. Mein Freund Benninger sagte mir dann, dies könnten wir uns nicht bieten lassen, wir wollen uns zu diesen Ausländern begeben und uns dort in einer drohenden Haltung aufstellen, ohne aber zu schlagen... Benninger stand dann in einer drohenden Haltung mit den Fäusten vor die Ausländer, worauf einer von diesen sagte "Ah, Du willst mich schlagen." Benninger sagte darauf: "Zuerst musst Du mir eine schlagen, dann schlage ich." Kaum hatte er dies gesagt, erhielt er von einem der Ausländer einen Faustschlag ins Gesicht..." (Einvernahme vom 28. August 1977.)
Der Disput über das Schlagen wurde von Benninger selber im Strafverfahren etwas abweichend dargestellt: "Einer hat gesagt, ob ich einen an den Kessel wolle. Daraufhin erwiderte ich ihm: "Du muesch mir zuerst eine hauen! Ich bi da zum Fäschte, nit zum Brätsche!"" (Einvernahme vom 13. September 1977.)
Es besteht kein Grund, auf die Aussagen des Zeugen K., der ein Arbeitskollege Benningers ist und sich selber als dessen Freund bezeichnet, nicht abzustellen. Der Umstand, dass andere im Strafverfahren einvernommene Zeugen nichts von einer drohenden Haltung Benningers erwähnen, macht die Zeugenaussage des K. nicht unglaubwürdig. Des weitern muss als feststehend betrachtet werden, dass der Beschwerdegegner gegenüber dem Jugoslawen Äusserungen machte (sei es nach der eigenen Version oder nach derjenigen des K.), die diesen provozieren mussten.
Zu Unrecht nimmt die Vorinstanz an, der tatsächliche Ablauf lasse sich nicht mehr zuverlässig und eindeutig feststellen, weshalb Beweislosigkeit vorliege, die sich gemäss BGE 96 V 96 zu Ungunsten der SUVA auswirke, welche aus den unbewiesen gebliebenen Vorhalten gegenüber Benninger das Recht der Leistungskürzung habe ableiten wollen. Die Beweisregel nach BGE 96 V 96 greift erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen der Untersuchungsmaxime auf Grund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu eruieren, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 104 V 211). Im vorliegenden Fall besteht diese Möglichkeit durchaus, wie sich aus dem oben Gesagten zeigt.
d) Geht man davon aus, dass der Beschwerdegegner sich in einer riskanten Situation trotz Abmahnung zu einer Intervention entschloss und dabei gegenüber der Jugoslawen-Gruppe eine drohende Haltung einnahm und zumindest den Ausdruck "Schlagen" gebrauchte, dann entsprach dieses Verhalten nicht
BGE 105 V 213 S. 217
demjenigen eines verständigen Menschen in einer solchen Lage.
3. Zusammenfassend ergibt sich aus dem Gesagten, dass der Beschwerdegegner grobfahrlässig im Sinne des Art. 98 Abs. 3 KUVG gehandelt hat.
Daran ändert nichts, dass der Strafrichter den Schläger D. zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt hat, ohne Strafmilderungsgründe gemäss Art. 64 StGB anzunehmen, und dass er die Zivilforderung Benningers ohne Reduktion gemäss Art. 44 Abs. 1 OR zusprach. Im Sozialversicherungsrecht, wo die Risikogemeinschaft der Versicherten ein bedeutsames Beurteilungskriterium darstellt, darf und muss das Verhalten Benningers eine andere Gewichtung erfahren als durch den Strafrichter. An die Beurteilung durch den letzteren ist der Sozialversicherungsrichter denn auch nach konstanter Praxis nicht gebunden.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 11. April 1979 aufgehoben.
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