BGE 106 V 204
 
47. Auszug aus dem Urteil vom 15. Dezember 1980 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen 13 Gründerverbände der AHV-Ausgleichskasse VATI
 
Regeste
Art. 70 Abs. 1 lit. b AHVG.
 
Sachverhalt


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A.- Am 17. April 1978 ersuchte das Bundesamt für Sozialversicherung die Ausgleichskasse VATI um Stellungnahme zu einzelnen Feststellungen im Bericht der Schweizerischen Treuhandgesellschaft über die "Hauptrevision 1977" der Ausgleichskasse. Nachdem sich die Kasse am 26. Februar 1979 kurz zu den aufgeworfenen Fragen geäussert hatte, verlangte das Bundesamt am 26. April 1979 die Beitragsakten von 8 der Kasse angeschlossenen Selbständigerwerbenden ein. Aufgrund der ihm am 8. Mai 1979 zugestellten Akten gelangte es zum Schluss, dass in 6 Fällen Beitragsforderungen von insgesamt Fr. 38'347.65 wegen Vollstreckungsverjährung erloschen waren.
B.- Am 28. Mai 1979 setzte das Bundesamt mit Schreiben an den Präsidenten des Kassenvorstandes der Ausgleichskasse VATI die 13 Gründerverbände der Ausgleichskasse vom eingetretenen Schaden in Kenntnis mit der Aufforderung, diesen gemäss Art. 172 Abs. 1 AHVV schriftlich anzuerkennen. In der Folge teilte der Präsident des Kassenvorstandes dem Bundesamt mit, dass die Gründerverbände an einer ausserordentlichen Abgeordnetenversammlung einstimmig beschlossen hätten, die Haftung in sämtlichen beanstandeten Fällen abzulehnen.
C.- Mit Eingabe vom 20. November 1979 an das Eidg. Versicherungsgericht erhebt das Bundesamt gestützt auf Art. 172 Abs. 2 AHVV Schadenersatzklage mit dem Begehren, die Gründerverbände der Ausgleichskasse VATI seien zu verpflichten, "der AHV den Schadensbetrag von Fr. 38'348.-- zurückzuzahlen". Es macht geltend, dass der Schaden grobfahrlässig verursacht worden sei, indem die Ausgleichskasse es unterlassen habe, für ein wirksames Mahnwesen und Beitragsinkasso besorgt zu sein; ferner habe sie bewusst Verwaltungsweisungen ausser acht gelassen.
Die beklagten Gründerverbände lassen durch den früheren Verwalter der Ausgleichskasse VATI sinngemäss die Abweisung der Klage beantragen mit der Feststellung, dass nach den

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gesamten Umständen höchstens eine leichte Fahrlässigkeit angenommen werden könne.
 
Aus den Erwägungen:
b) Die Klage auf Schadenersatz gemäss Art. 70 AHVG ist eine Klage in einer Streitigkeit aus dem Verwaltungsrecht des Bundes, die durch ein Bundesgesetz ausdrücklich vorgesehen wird. Sie stellt eine verwaltungsrechtliche Klage im Sinne von Art. 116 lit. k OG dar. Da sie in den Bereich der Sozialversicherung fällt, ist für ihre Beurteilung das Eidg. Versicherungsgericht zuständig (Art. 130 OG).
c) Nach Art. 133 in Verbindung mit Art. 120 und Art. 105 Abs. 1 OG kann das Eidg. Versicherungsgericht den Sachverhalt von Amtes wegen abklären. Im übrigen finden die Vorschriften über den Bundeszivilprozess sinngemäss Anwendung.
"a. für Schäden aus strafbaren Handlungen, die von ihren
Kassenorganen oder einzelnen Kassenfunktionären bei Ausübung ihrer
Obliegenheiten begangen werden;
b. für Schäden, die infolge absichtlicher oder grobfahrlässiger
Missachtung der Vorschriften durch ihre Kassenorgane
oder einzelne Kassenfunktionäre entstanden sind."
Schäden, für welche die Gründerverbände einer Verbandsausgleichskasse haften, sind aus der gemäss Art. 55 AHVG geleisteten Sicherheit zu decken; soweit der Schaden die geleistete Sicherheit übersteigt, haften die Gründerverbände der Ausgleichskasse solidarisch (Art. 70 Abs. 3 AHVG).
b) Gemäss Art. 173 AHVV verjährt die Schadenersatzforderung, wenn sie nicht innert Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Einreichung der Klage geltend gemacht wird, auf

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jeden Fall aber mit Ablauf von fünf Jahren seit dem Eintritt des Schadens. Vorbehalten bleibt eine längere Verjährungsfrist des Strafrechts, wenn die Forderung aus einer strafbaren Handlung hergeleitet wird.
Das Bundesamt macht geltend, dass es vom Schaden erst Kenntnis erhalten habe, als ihm die Ausgleichskasse am 8. Mai 1979 die Akten der in Frage stehenden sechs Einzelfälle zugestellt habe. Die Beklagten bestreiten diese Feststellung nicht, welche aufgrund der Akten als zutreffend zu erachten ist. Weil der Schaden innert Jahresfrist seit Kenntnis geltend gemacht wurde und die Frist von 5 Jahren seit Eintritt des Schadens nicht abgelaufen ist, hat die Klage als rechtzeitig zu gelten. Sie ist deshalb materiell zu prüfen.
a) Mit dem Begriff der groben Fahrlässigkeit gemäss Art. 70 Abs. 1 lit. b AHVG hat sich das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil vom 20. Juni 1979 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Schweizerische Bankiervereinigung und Verband Schweizerischer Holding- und Finanzgesellschaften (BGE 105 V 119) befasst. Es gelangte dabei zum Schluss, dass es sich im Hinblick auf die weitgehende Parallelität der Rechtsfragen rechtfertige, die Grundsätze, wie sie nach Art. 8 des Verantwortlichkeitsgesetzes vom 14. März 1958 (VG) für die Verantwortlichkeit der Beamten gelten (vgl. hiezu BGE 102 Ib 108), sinngemäss auf Art. 70 Abs. 1 AHVG anzuwenden. Die Haftung für grobfahrlässig herbeigeführte Schäden setzt demzufolge voraus, dass die Organe oder Funktionäre der Ausgleichskasse die gebotene elementare Vorsicht bei der Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben nicht beachtet haben, wobei das Verhalten derart schwer sein muss, dass ein pflichtbewusster Funktionär in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen keinesfalls hätte gleich handeln können. Es muss eine eigentliche Verletzung des entgegengebrachten Vertrauens durch den Funktionär vorliegen, so dass es nicht als unbillig erschiene, wenn er auf dem Wege des Rückgriffs in bestimmtem Umfange für den Schaden persönlich erfasst würde.


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Bei der Beurteilung der groben Fahrlässigkeit sind die gesamten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Dabei ist jedoch von einem objektiven Fahrlässigkeitsbegriff auszugehen, und es ist an die Sorgfaltspflicht ein für sämtliche Bediensteten mit gleichartigen Funktionen geltender durchschnittlicher Massstab anzulegen. Im übrigen gelten als Vorschriften, deren grobfahrlässige Missachtung eine Haftung auslösen kann, nicht nur die Bestimmungen des AHVG und der Vollziehungsverordnung, sondern auch die Weisungen der Aufsichtsbehörde (BGE 105 V 124 mit Hinweisen).
b) Das Bundesamt erblickt ein grobfahrlässiges Verschulden der Ausgleichskasse VATI darin, dass diese es unterlassen habe, für ein wirksames Mahnwesen und Beitragsinkasso besorgt zu sein, und dass sie in den sechs beanstandeten Fällen während Jahren nichts vorgekehrt habe, bis die Vollstreckungsverjährung und damit der Verlust der Beitragsforderungen in der geltend gemachten Höhe von Fr. 38'348.-- eingetreten sei. Hinzu komme der im Revisionsbericht festgehaltene Umstand, dass die Kasse die Weisungen des (ab 1. September 1976) gültigen Nachtrages 5 zur Wegleitung über die Beiträge der Selbständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen ganz allgemein in bewusster Weise nicht beachtet habe. Sodann habe sie - entgegen der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 25 Abs. 1 AHVV - bei der Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit oder Änderung der Einkommensgrundlagen die Beiträge erst nach Vorliegen der Steuermeldung festgesetzt.
Die Beklagten wenden hiegegen ein, dass die Beitragsverluste im Verhältnis zum Umsatz der Ausgleichskasse äusserst gering seien und dass die Kasse mit grossen Schwierigkeiten personeller Art zu kämpfen gehabt habe. Dass sie entgegen den Weisungen des Nachtrages 5 zur genannten Wegleitung von den Selbständigerwerbenden keine provisorischen Beitragsforderungen erhoben habe, sei auf die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse in der schweizerischen Textil- und Bekleidungsindustrie ab dem Jahre 1975 zurückzuführen; immerhin sei dafür gesorgt worden, dass die Beiträge ab 1979 weisungsgemäss bezogen werden könnten. Schliesslich habe die Ausgleichskasse die Beiträge bei Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit oder Änderung der Einkommensgrundlagen nicht vor Erhalt der Steuermeldung festgesetzt, weil dies ständig zu Auseinandersetzungen mit den Beitragspflichtigen geführt habe; das Vorgehen

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der Kasse müsse von der Aufsichtsbehörde geduldet worden sein.
Soweit das Bundesamt die Geschäftsführung der Ausgleichskasse in allgemeiner Form beanstandet, können die erhobenen Rügen nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sein. Zu prüfen ist allein, ob und gegebenenfalls inwieweit ein vorschriftswidriges Verhalten der Kassenorgane oder einzelner Kassenfunktionäre Ursache für den geltend gemachten Schaden war. Dies beurteilt sich nach den konkreten Umständen im Einzelfall.
4. a) Im Fall Adrian Z. hat die Ausgleichskasse VATI mit Verfügungen vom 29. Juli 1971 für die Zeit vom 1. Juni 1967 bis 30. Juni 1970 Beiträge von insgesamt Fr. 4'134.40 erhoben, wovon Fr. 744.-- bereits bezahlt waren, so dass eine Beitragsforderung von Fr. 3'390.40 verblieb. Am 28. August 1971 reichte das Treuhandbüro L. namens des Beitragspflichtigen für die Restforderung ein Erlassgesuch ein, mit welchem geltend gemacht wurde, dass Adrian Z. bei der Liquidation der Firma Z. & Co. Vermögenswerte von über Fr. 320'000.-- verloren habe, dass er für 1971 mit einem Einkommen von Fr. 27'000.-- rechnen könne und dass er erhebliche Steuerschulden aufweise. Die Ausgleichskasse hat in der Folge hinsichtlich der Beitragsforderung nichts mehr unternommen. Sie verweist auf ein gleichzeitig hängig gewesenes Steuererlassgesuch und macht geltend, dass ihr keine Mitteilung von dessen Erledigung zugekommen sei.
b) Dass die Ausgleichskasse das Erlassgesuch nicht behandelt und nichts mehr unternommen hat, bis die nach Art. 16 Abs. 2 AHVG für die Vollstreckungsverjährung geltende Frist abgelaufen war, stellt ohne Zweifel eine grobe Pflichtverletzung dar. Die zuständigen Kassenfunktionäre haben nicht nur gegen ein elementares Vorsichtsgebot jedes Inkassobeauftragten, sondern auch gegen die aus den gesetzlichen Vorschriften und den Weisungen der Aufsichtsbehörde sich ergebenden Pflichten verstossen. Die Unterlassung der erforderlichen Massnahmen lässt sich weder mit Schwierigkeiten personeller Art noch mit dem hängigen Steuererlassverfahren rechtfertigen. Die von der Steuerbehörde zu erwartende Mitteilung hat die Kasse keineswegs davon entbunden, Massnahmen zur Vermeidung der Beitragsverjährung zu treffen. Hieran ändert auch der Einwand der Beklagten nichts, dass der Kasse aufgrund des Steuerentscheides

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vermutlich das Recht zugestanden hätte, das beitragspflichtige Einkommen neu festzusetzen und die Beiträge auf den gesetzlichen Mindestbetrag zu reduzieren.
c) ... (Schadensberechnung)
Die Ausgleichskasse hat nach Erhalt des Erlassgesuches in dieser Beitragssache nichts mehr unternommen. Sie beruft sich wiederum darauf, von der Steuerverwaltung keinen Bericht erhalten zu haben, wie das eingereichte Steuererlassgesuch behandelt worden sei. Die Beklagten legen eine der Kasse angeblich am 15. September 1972 zugekommene Verfügung des Finanzdepartementes des Kantons X vom 1. Juni 1972 ins Recht. Danach ist Frau W. das Steuerbetreffnis 1968 von Fr. 7'182.40 voll erlassen worden mit der Begründung, dass die Ermessenstaxation der Jahre 1967/68 "eindeutig zu hoch ausgefallen" sei, dass bei der Liquidation der Firma Z. & Co. Verluste entstanden seien und dass die Steuern des Jahres 1967 bereits bezahlt worden seien. Die Beklagten schliessen hieraus, dass die Ausgleichskasse von der Steuermeldung hätte abweichen dürfen und dass die Beiträge für die Jahre 1967/68 auf dem gesetzlichen Mindestbetrag hätten festgesetzt werden müssen.
b) Der Umstand, dass die Ausgleichskasse nach Eingang des Erlassgesuches nichts vorgekehrt hat, bis die Vollstreckungsverjährung eingetreten ist, stellt nach dem Gesagten eine grobfahrlässige Missachtung der für die Ausgleichskassen geltenden Vorschriften dar. Die Beklagten haben für die Folgen dieser Pflichtverletzung einzustehen. Unerheblich ist, Ob der Steuerentscheid Anlass zu einer Neufestsetzung der Beiträge gegeben hätte.
c) ... (Schadensberechnung)
6. a) Im Fall Paul M. erhob die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 22. Januar 1969 Beiträge für die Jahre 1966/67

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von je Fr. 3'139.20, insgesamt somit Fr. 6'278.40. Auf eine Mahnung der Ausgleichskasse vom 10. Juni 1971 machte der Beitragspflichtige geltend, er habe am 24. Februar 1969 gegen die Beitragsverfügung Beschwerde eingereicht. Im November 1971 ersuchte die Kasse die Steuerbehörde um zusätzliche Angaben zum Sachverhalt. Erst am 15. Februar 1979 teilte sie dem Beitragspflichtigen mit, dass die Beiträge für 1966/67 immer noch ausstehend seien. Dieser reichte hierauf eine Kopie seiner Beschwerde vom 24. Februar 1969 ein, welche seinen Angaben zufolge unbehandelt geblieben ist. Am 27. Februar 1979 teilte ihm die Kasse mit, dass sie die Beschwerde vom 24. Februar 1969 nicht erhalten habe; im übrigen sei sie verspätet gewesen. Mit Schreiben vom 3. März 1979 machte der Beitragspflichtige die Verjährung der Beitragsforderung für 1966/67 geltend.
b) Der unbestrittene Eintritt der Beitragsverjährung ist auf eine grobfahrlässige Missachtung der Vorschriften durch die Ausgleichskasse zurückzuführen. Dabei kann offenbleiben, wie es sich hinsichtlich der fraglichen Beschwerde und der Umstände, die zu deren Nichtbeurteilung geführt haben, verhält. Da die Beklagten auch gegen den geltend gemachten Schadensbetrag von Fr. 6'278.40 nichts vorbringen, ist ihre Haftung in diesem Umfange zu bejahen.
1972 1973
Bruno R. Fr. 2'356.80 Fr. 3'367.20
Mario R. Fr. 4'384.80 Fr. 6'264.--
Franz R. Fr. 2'356.80 Fr. 3'367.20 Für 1974 erhob die Kasse am 20. September/11. Oktober 1974 von Bruno und Franz R. Beiträge von je Fr. 592.80 und von Mario R. solche von Fr. 3'591.60.
Auf eine von der Ausgleichskasse für die Beiträge der Jahre 1972/73 am 29. Juli 1974 eingeleitete Betreibung erhoben die Beitragspflichtigen Rechtsvorschlag. Am 6. August 1974 reichten sie gleichlautende Gesuche um Herabsetzung der Beiträge

BGE 106 V 204 (212):

der Jahre 1972/73 ein. Auf Anordnung der Ausgleichskasse ergänzten sie die Gesuche am 22. November 1974 durch mehrere Unterlagen, aus denen insbesondere hervorging, dass die Firma in den Jahren 1973/74 bedeutende Verluste erlitten hatte; gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass die Gesellschafter ab 1. August 1974 als Unselbständigerwerbende tätig seien. Die Ausgleichskasse ersuchte hierauf die zuständigen Steuerämter um Auskunft über die Steuertaxation der drei Gesellschafter.
Auf Ende 1974 wurden die Ausgleichskasse der Bekleidungsindustrie aufgelöst und die ihr Angeschlossenen durch die Ausgleichskasse VATI übernommen; diese hat die Beitragsangelegenheit in der Folge nicht weiterbehandelt.
b) Dass die Ausgleichskasse VATI nach Übernahme der Forderungen von der Ausgleichskasse der Bekleidungsindustrie nichts mehr vorgekehrt hat, bis die Forderungen verjährt waren, stellt eine grobfahrlässige Missachtung der Vorschriften dar, für deren Folgen die Beklagten einzustehen haben.
c) ... (Schadensberechnung)
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In teilweiser Gutheissung der verwaltungsrechtlichen Klage werden die Beklagten verpflichtet, der AHV den Betrag von Fr. 32'423.10 gemäss Art. 70 Abs. 3 AHVG zu vergüten.