BGE 107 V 170
 
36. Urteil vom 4. Juni 1981 i.S. Freiwillige Kranken- und Unfallkasse gegen Boppart und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
 
Regeste
Art. 12 Abs. 2 Ziff. 3 KUVG.
Nicht ausserhalb seiner Wohnung bezieht Unterkunft, wer die Bäderbehandlungen und anderweitigen Heilanwendungen vom eigenen oder ganzjährig (allenfalls saisonweise) gemieteten Ferienhaus (bzw. Ferienwohnung) am Badekurort aus absolviert.
 
Sachverhalt


BGE 107 V 170 (171):

A.- Rudolf Boppart und seine Ehefrau, wohnhaft in Goldach, sind Mitglieder der Freiwilligen Kranken- und Unfallkasse (St. Gallen). Am 19. Juni 1979 verschrieb Dr. med. M. Frau Heidi Boppart zehn Moorbäder und Massage im Kurhaus St. Moritz; das Attest verband er mit dem Vermerk "amb. Behandlung". Mit Zeugnis vom 27. Juni 1979 empfahl Chiropraktor Dr. B. Rudolf Boppart ebenfalls zehn Moorbäder; die am 12. Juli 1979 für den Versicherten ausgestellte Therapieverordnung des leitenden Arztes des Heilbades St. Moritz lautete auf zehn Moorbäder mit Kohlensäuremineralbädern und zehn Massagen zu 25 Minuten. Die verordneten Heilanwendungen gelangten in den Monaten Juni/Juli 1979 im Heilbadzentrum St. Moritz zur Durchführung. Rudolf Boppart und seine Ehefrau absolvierten die Therapien von ihrem Ferienhaus in Sils aus.
Die Kasse vergütete die durchgeführten Therapien als ambulante Behandlung nach dem Tarif gemäss Vertrag zwischen dem Schweizerischen Physiotherapeutenverband und dem Konkordat der schweizerischen Krankenkassen. Die Privatpatientenrechnung für die ärztliche Behandlung übernahm sie zur Hälfte. Die Versicherten verlangten in der Folge jedoch die Ausrichtung der reglementarischen Beiträge für Badekuren. Die Kasse beharrte indes auf dem Standpunkt, dass ärztlicherseits nicht eine Badekur, sondern ambulante physiotherapeutische und balneologische Therapien verordnet worden seien.
B.- Gegen den ablehnenden Bescheid der Kasse erhoben die beiden Versicherten Beschwerde mit dem Begehren, es seien ihnen zu Lasten der Kasse Badekurbeiträge zuzusprechen. Am 8. Februar 1980 hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Beschwerde gut.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Kasse, es sei in Aufhebung des kantonalen Entscheides bei beiden Versicherten auf ambulante Behandlung und nicht auf Badekur zu erkennen. Die Abrechnung der Kasse sei somit als richtig zu bestätigen.
Rudolf Boppart und seine Ehefrau schliessen sich sinngemäss dem Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen an. Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
 


BGE 107 V 170 (172):

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
Der Badekurbeitrag dient zur Deckung der mit einer Badekur verbundenen Kosten für ärztliche Behandlung, Arzneimittel und andere Heilanwendungen. Darin enthalten ist auch eine Entschädigung für speziell kurbedingte Auslagen wie Fahrt- und Aufenthaltskosten. Fallen besondere Kurkosten dieser Art nicht an, weil etwa der Versicherte am Badekurort wohnt oder dort ganzjährig oder saisonweise eine Ferienunterkunft hat, so kann nicht von einer Badekur gemäss Art. 12 Abs. 2 Ziff. 3 KUVG gesprochen werden. Diesfalls handelt es sich bei der Durchführung balneologischer oder physiotherapeutischer Therapien in der Badekuranstalt um ambulante Behandlung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 KUVG, so dass kein Anspruch auf einen Badekurbeitrag besteht. Demnach liegt - wie das Gesamtgericht entschieden hat - eine Badekur nach Art. 12 Abs. 2 Ziff. 3 KUVG vor, wenn der Versicherte die ärztlich verordneten Therapien in einer ärztlich geleiteten Badekuranstalt zu absolvieren hat und hiefür ausserhalb seiner Wohnung Unterkunft nehmen muss. Nicht ausserhalb seiner Wohnung bezieht Unterkunft, wer die Heilanwendungen in der Badekuranstalt vom eigenen bzw. (ganzjährig oder saisonweise) gemieteten Ferienhaus (bzw. Ferienwohnung) am Badekurort aus absolviert.
Nach Art. 30 Abs. 1 des Kassenreglements über die Versicherungsleistungen wird der reglementarische oder gesetzliche Kurbeitrag ausgerichtet, wenn sich der Versicherte für die Kurbehandlung ausserhalb seines Wohnsitzes aufhalten muss. Trotz des Wortlautes ist indes anzunehmen, dass damit der Unterkunftsbezug ausserhalb der Wohnung und nicht ausserhalb des Wohnsitzes im Sinne von Art. 23 ff. OR gemeint ist. Das Abstellen auf den Rechtsbegriff des Wohnsitzes müsste in gewissen Fällen zu unhaltbaren Ergebnissen führen. Wohnt beispielsweise eine von ihrem Mann faktisch getrennt lebende Ehefrau oder ein Bevormundeter am Badekurort und fällt der Wohnsitz des Ehemannes oder der Vormundschaftsbehörde nicht mit diesem Ort zusammen, so hätten sie im Falle einer Bäderbehandlung in der dortigen Badekuranstalt Anspruch auf Kurbeiträge, obwohl es sich offensichtlich um eine ambulante Behandlung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 KUVG

BGE 107 V 170 (173):

handeln würde. Anderseits hätte ein Versicherter mit Wohnsitz am Badekurort oder dessen näherer Umgebung keinen Anspruch auf Badekurbeiträge, auch wenn er effektiv ausserhalb dieser Region wohnt. Es ist daher davon auszugehen, dass die Kasse in Art. 30 Abs. 1 des Reglements über Versicherungsleistungen nicht den rechtstechnischen Begriff des Wohnsitzes gewählt hat und die fragliche Wendung vom Versicherten nach Treu und Glauben auch nicht so verstanden werden konnte.
Haben die Beschwerdegegner keine Badekur absolviert, so stehen ihnen auch keine Ansprüche auf die hiefür vorgesehenen Leistungen aus der Spitalzusatzversicherung der Kasse zu (Art. 52 Abs. 1 lit. c des Reglements über die Versicherungsleistungen).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 8. Februar 1980 aufgehoben.