107 V 211
Urteilskopf
107 V 211
49. Auszug aus dem Urteil vom 15. Dezember 1981 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Iselor und Obergericht des Kantons Schaffhausen
Regeste
Art. 43 Abs. 3 IVG und Art. 20quater IVV.
Die Regelung des Art. 20quater IVV hält sich im Rahmen der Delegationsnorm und ist weder verfassungs- noch gesetzwidrig.
Aus den Erwägungen:
2. Die Vorinstanz geht davon aus, dass eine Überentschädigung im Sinne von Art. 43 Abs. 3 IVG nur vorliegen könne, wenn der Versicherte durch die Leistungskumulation bessergestellt würde, als wenn kein Schadenereignis eingetreten wäre. Soweit sich aus Art. 20quater IVV etwas anderes ergebe, sei die Bestimmung gesetzwidrig.
a) Mit Art. 43 Abs. 3 IVG hat der Gesetzgeber dem Bundesrat die Befugnis zum Erlass von Bestimmungen "zur Verhinderung von Überentschädigungen beim Zusammenfallen von mehreren Leistungen der Invalidenversicherung und von Leistungen dieser Versicherung mit solchen der AHV" übertragen. Die Delegationsnorm enthält keine besonderen Einschränkungen hinsichtlich der Rechtsetzungsbefugnis, weshalb dem Bundesrat ein weitgehendes gesetzgeberisches Ermessen eingeräumt ist. Der Richter hat sich daher auf die Prüfung zu beschränken, ob die umstrittenen
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Verordnungsvorschriften offensichtlich aus dem Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen herausfallen oder aus andern Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind. Er kann jedoch sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen und hat über die Zweckmässigkeit der bundesrätlichen Verordnung nicht zu befinden. Die Verordnungsregelung verstösst allerdings dann gegen Art. 4 BV, wenn sie sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn sie sinn- oder zwecklos ist oder wenn sie rechtliche Unterscheidungen trifft, für die sich ein vernünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen nicht finden lässt, bzw. wenn sie es unterlässt, Unterscheidungen zu treffen, die richtigerweise hätten berücksichtigt werden sollen (BGE 106 Ib 134, BGE 104 Ib 209, 425).b) Das Sozialversicherungsrecht kennt kein allgemeines Überversicherungsverbot in dem Sinne, dass die Versicherungsleistungen insgesamt den eingetretenen Schaden nicht übersteigen dürfen (vgl. MAURER, Bundessozialversicherungsrecht, Band I, S. 418 ff.). Zudem wird der Begriff der Überversicherung in den Sozialversicherungsgesetzen nicht einheitlich verwendet und auch im IVG nicht näher definiert (MAURER, a.a.O., S. 385/86). Es ist daher für jede Kollisionsnorm gesondert festzustellen, welche Bedeutung dem Kriterium der Überversicherung zukommt.
Mangels eines allgemeingültigen Rechtsbegriffs der Überentschädigung kann allein aus dem Wortlaut des Art. 43 Abs. 3 IVG nicht geschlossen werden, der Bundesrat sei nur insoweit zum Erlass von Verordnungsvorschriften befugt, als sich aus dem Zusammenfallen verschiedener Leistungen der AHV und Invalidenversicherung eine Überversicherung in dem Sinne ergibt, dass dem Versicherten durch den Eintritt des Versicherungsfalles ein Gewinn erwächst. Es spricht entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch nichts dafür, dass der Gesetzgeber den Begriff der Überentschädigung so verstanden haben wollte. Wie in der Botschaft des Bundesrates vom 7. Juli 1976 über die 9. AHV-Revision (BBl 1976 III 1 ff., insbesondere 29 ff.) ausgeführt wird, war es eine der Zielsetzungen dieser Gesetzesänderung, die "stossenden und finanziell nicht zu verantwortenden Überentschädigungen", welche sich aus den "massiven Erhöhungen der Geldleistungen in der AHV/IV" ergaben, zu beseitigen. Dabei wurde entgegen dem Vorschlag einer von der Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungsrecht eingesetzten Arbeitsgruppe (vgl. MAURER, Kumulation und Subrogation in der Sozial- und Privatversicherung, S. 92
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ff.) nicht eine Generalklausel geschaffen, sondern eine Lösung in Form konkreter Vorschriften angestrebt; überdies sollte der Bundesrat "sicherheitshalber" ermächtigt werden, ergänzende Vorschriften zu erlassen. Aus der bundesrätlichen Botschaft geht hervor, dass nicht nur eigentliche Versicherungsgewinne, sondern auch andere, als ungerechtfertigt erachtete Leistungskumulationen beseitigt werden sollten (vgl. auch BBl 1976 III 29 und 72 f.). Eine ungerechtfertigte Leistungskumulation wurde unter anderem darin erblickt, dass nach bisherigem Recht neben der Witwen-, Kinder- oder Waisenrente bei Eingliederung ein Taggeld beansprucht werden konnte. In der Botschaft wird (unter dem Titel "Beseitigung von Leistungskumulationen") ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Bundesrat mit Art. 43 Abs. 3 IVG die Kompetenz erhalten solle, in solchen Fällen den Taggeldanspruch aufzuheben oder das Taggeld zu kürzen (BBl 1976 III 30).In der parlamentarischen Beratung gaben die Delegationsnorm und die entsprechenden bundesrätlichen Ausführungen zu keinen Bemerkungen Anlass. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die dem Bundesrat in Art. 43 Abs. 3 IVG eingeräumte Befugnis zum Erlass ergänzender Vorschriften nicht auf die Verhinderung von Versicherungsgewinnen beschränken wollte.
c) Mit dem Erlass von Art. 20quater IVV hat der Bundesrat die ihm zustehende Rechtsetzungsbefugnis nicht überschritten. Zu diesem Schluss ist das Eidg. Versicherungsgericht schon mit Bezug auf die ebenfalls gestützt auf Art. 43 Abs. 3 IVG erlassene Bestimmung des Art. 20bis IVV gelangt, wonach der Versicherte für Unterkunft und Verpflegung einen Selbstbehalt zu tragen hat, wenn die Invalidenversicherung bei Abklärungs- und Eingliederungsmassnahmen ohne Ausrichtung eines Taggeldes die Kosten für Unterkunft und Verpflegung ganz oder teilweise übernimmt und der Versicherte gleichzeitig eine Rente der Invalidenversicherung oder der AHV bezieht oder für ihn eine Kinderrente ausgerichtet wird. Im nicht veröffentlichten Urteil Schwarz vom 15. Januar 1981 hat das Gericht hiezu festgestellt, dass im Hinblick darauf, dass die Renten der AHV und der Invalidenversicherung die Deckung des Existenzbedarfs der Betagten, Hinterlassenen und Invaliden bezweckten und die von der Invalidenversicherung im Rahmen von Abklärungs- und Eingliederungsmassnahmen erbrachten Leistungen für Unterkunft und Verpflegung ebenfalls der Existenzsicherung dienten, für den gleichen versicherungsmässigen
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Tatbestand eine doppelte Leistung vorliege, welche unter Berücksichtigung dessen, dass die Leistungen unabhängig vom effektiven Bedürfnis und den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen gewährt würden, als ungerechtfertigte Überentschädigung erachtet werden könne. Auch wenn die Hinterlassenenrenten primär den Versorgerschaden und das Taggeld vorab den Erwerbsausfall während der Eingliederung ausgleichen sollen, gelten diese Überlegungen sinngemäss auch mit Bezug auf Art. 20quater IVV. Das Bundesamt für Sozialversicherung weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass nach der gesetzlichen Regelung eine Kumulation von Witwenrenten mit Renten der Invalidenversicherung ausgeschlossen ist (Art. 24bis AHVG und Art. 43 Abs. 1 IVG) und dass Art. 20quater IVV im Ergebnis nichts anderes als eine analoge Regelung bezüglich des Taggeldes darstellt.Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin verstösst die Verordnungsbestimmung auch insoweit nicht gegen das Gesetz und die Verfassung, als sie auf erwerbstätige Witwen Anwendung findet. Es kann hierin namentlich kein Verstoss gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit erblickt werden, zumal der Erwerbstätigkeit bei der Bemessung des Taggeldes Rechnung getragen wird (Art. 24 Abs. 2 IVG). Die Bestimmung des Art. 20quater IVV fällt somit weder aus dem Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Rechtsetzungsbefugnis, noch ist sie aus andern Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig.
Referenzen
BGE: 106 IB 134, 104 IB 209
Artikel: Art. 43 Abs. 3 IVG, Art. 20quater IVV, Art. 4 BV, Art. 20bis IVV mehr...