108 V 265
Urteilskopf
108 V 265
58. Auszug aus dem Urteil vom 23. November 1982 i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt gegen Ulrich und Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz
Regeste
Art. 78 Abs. 4 KUVG. Diese Sonderregel ist nicht nur hinsichtlich der Festlegung der Jahreslohnperiode in Verbindung mit Abs. 1 dieser Bestimmung zu interpretieren, sondern auch bezüglich der Frage, welche betrieblichen Verhältnisse für die Berechnung des Jahresverdienstes massgebend sind (Erw. 2).
Art. 152 OG. Die Voraussetzung der Bedürftigkeit muss im Zeitpunkt der Entscheidung über das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege erstellt sein (Erw. 4).
A.- Der 1959 geborene René Ulrich, der seit anfangs Dezember 1975 als Schriftsetzerlehrling in der Firma T. AG, einem der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unterstellten Betrieb, beschäftigt war, verursachte am 20. Juli 1978 mit seinem Kleinmotorrad einen Verkehrsunfall. Dabei zog er sich verschiedene schwere Verletzungen zu, von denen vor allem eine rechtsseitige Armlähmung bestehen blieb. Mit Verfügung vom 29. August 1979 sprach ihm die SUVA eine am 1. August 1979 beginnende Invalidenrente zu, wobei der Rentenberechnung für die Zeit nach dem 1. Dezember 1979 - dem Termin, an welchem der Versicherte ohne Unfall seine vierjährige Lehre beendet hätte - ein Jahresverdienst von Fr. 25'679.-- zugrunde gelegt wurde.
B.- Beschwerdeweise machte René Ulrich u.a. geltend, es sei in Abänderung der angefochtenen Verfügung bei der Rentenfestsetzung ein massgebender Jahresverdienst von Fr. 31'000.-- anzurechnen. Das Versicherungsgericht des Kantons Schwyz hiess die Beschwerde in diesem Punkt teilweise gut, indem die SUVA zum Erlass einer neuen Rentenverfügung auf der Grundlage eines Jahresverdienstes von Fr. 27'740.-- verhalten wurde (Entscheid vom 25. April 1980).
C.- Hiegegen führt die SUVA Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides. René Ulrich lässt sich u.a. mit dem Antrag auf Abweisung der Beschwerde vernehmen; sodann sei die Rentenverfügung vom 29. August 1979 "abzuändern und im Sinne der Ausführungen aufgrund der Einkommensverhältnisse in halbstädtischen und städtischen Verhältnissen zu erhöhen"; im weitern wird um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung ersucht.
Aus den Erwägungen:
2. Strittig an der Rentenzusprechung vom 29. August 1979 ist einzig, wie hoch der Jahresverdienst als Element der Rentenberechnung einzustufen sei.
a) Nach Art. 77 KUVG wird die Invalidenrente rechnerisch in Prozenten des Jahresverdienstes des Versicherten festgesetzt, wobei die Rente bei vollständiger Invalidität 70% des Jahresverdienstes beträgt und bei nur teilweiser Erwerbsunfähigkeit entsprechend gekürzt wird. Als Jahresverdienst gilt der Lohnbetrag, den der Versicherte innerhalb eines Jahres vor dem Unfall in dem die Versicherung bedingenden Betrieb bezogen hat (Art. 78 Abs. 1 KUVG). Demgegenüber bestimmt Art. 78 Abs. 4 KUVG, welcher insbesondere auf den Fall des Lehrlings zur Anwendung gelangt (BGE 102 V 146 Erw. 2): "Bezog der Versicherte am Tag des Unfalles noch nicht den Lohn eines Versicherten mit voller Leistungsfähigkeit derselben Berufsart, so wird sein Jahresverdienst von dem Zeitpunkte an, wo er ohne den Unfall diesen Lohn mutmasslich bezogen hätte, nach diesem berechnet." Nach ständiger
BGE 108 V 265 S. 267
Rechtsprechung gilt als "voll leistungsfähig" im Sinne von Art. 78 Abs. 4 KUVG bereits jener Versicherte, der sein primäres Ausbildungsziel erreicht hat und seinen Beruf normal ausüben kann (BGE 106 V 229 Erw. 2, BGE 102 V 146 Erw. 2 mit Hinweis). Art. 78 Abs. 4 KUVG bezweckt als Ausnahmebestimmung (BGE 96 V 29) einzig, den Versicherten von dem Moment an, da er sein volles Leistungsvermögen erreicht hätte, in gleicher Weise zu behandeln, wie wenn die berufliche Ausbildung im Zeitpunkt des Unfalles beendet gewesen wäre (BGE 102 V 146 Erw. 2 i. f.). Im Lichte dieser engen Zweckbestimmung hat das Eidg. Versicherungsgericht Art. 78 Abs. 4 KUVG dahingehend ausgelegt, dass für die Festsetzung des anrechenbaren Verdienstes in zeitlicher Hinsicht nach der Regel des Abs. 1 zu verfahren, somit auf die innerhalb eines Jahres vor dem Unfall herrschenden Lohnverhältnisse abzustellen ist (BGE 102 V 147 Erw. 3).b) Die Vorinstanz will die von der SUVA nach den erwähnten Grundsätzen vorgenommene Bemessung des Jahresverdienstes über Fr. 25'679.-- insofern korrigieren, als von den "marktüblich bezahlten Löhnen" und nicht von den im Lehrbetrieb des Beschwerdegegners geltenden Verdienstansätzen auszugehen sei, auf welche die Anstalt abstellte. Das kantonale Gericht begründet seine Haltung damit, es handle sich bei dem gemäss Art. 78 Abs. 4 KUVG zu ermittelnden Jahresverdienst um einen "mutmasslichen" Lohn; sodann würden viele junge Berufsleute nach Lehrabschluss ihre Stelle wechseln; im Gegensatz zum gewöhnlichen Arbeitnehmer bilde die Tätigkeit in dem die Versicherung bedingenden Betrieb für den Lehrling keine notwendige Grundlage für die Bestreitung seines Lebensunterhaltes; der Lehrling wähle deshalb, gerade in ländlichen Betrieben, womöglich die nächstgelegene Unternehmung, um Spesen zu sparen; in solchen Verhältnissen sei das Lohnniveau jedoch tiefer, weshalb es als unbillig erscheine, "wenn der zufällige Arbeitsplatz eines Lehrlings schliesslich Auswirkungen auf seine allfällige Rente haben" könne.
Der Beschwerdegegner fügt dem bei, das Wort "mutmasslich" beziehe sich auf den Zeitpunkt und die Höhe des Vergleichsverdienstes; im weitern könnten nur eine "konkrete Berechnungsweise" und eine von den Prinzipien des Art. 78 Abs. 1 KUVG abweichende "Sonderlösung" den seit der Entstehung des Gesetzes vielfältig geänderten wirtschaftlichen Verhältnissen Rechnung tragen und eine ungerechtfertigte Behandlung des Lehrlings verhindern.
Die SUVA ist dagegen der Ansicht, die Regel des Art. 78 Abs. 1 KUVG, wonach für die Bemessung des Jahresverdienstes auf den die Versicherung bedingenden Betrieb abzustellen sei, müsse aus systematischen und teleologischen Überlegungen auch dann Anwendung finden, wenn eine Rentenberechnung gemäss Art. 78 Abs. 4 KUVG erfolge.
c) Zur Frage, ob der massgebliche Jahresverdienst nach Art. 78 Abs. 4 KUVG im Sinne eines Durchschnittslohnes zu ermitteln sei, welchen der Versicherte bei den verschiedenen für ihn in Betracht fallenden Firmen hätte erzielen können, oder aufgrund des im Lehrbetrieb erzielbaren Gehaltes, wo der Unfall passierte, hatte das Eidg. Versicherungsgericht bisher noch nie konkret Stellung zu nehmen. Obwohl beide Lösungen als vertretbar erscheinen, verdient die Auffassung der SUVA doch den Vorzug, wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt.
Art. 78 Abs. 4 KUVG will lediglich der Härte begegnen, dass bei uneingeschränkter Anwendung der in Abs. 1 enthaltenen Grundregel ein noch nicht voll leistungsfähiger und demzufolge minderbezahlter Versicherter, der einen Unfall erleidet, bei der Rentenberechnung auf seiner noch unvollkommenen Lohngrundlage fixiert wird (MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2. Aufl., S. 236), obwohl dies im Hinblick auf die einbezahlten Prämien, rein versicherungstechnisch gesehen, richtig wäre. Art. 78 Abs. 4 KUVG soll aber anderseits auch nicht zu einer Besserstellung der Lehrlinge gegenüber den anderen Versicherten führen, sondern nur eine Gleichbehandlung ermöglichen. Diesem Zweck entsprechend ist im Falle des Lehrlings auf die Lohnverhältnisse in seinem Betrieb abzustellen, unabhängig davon, ob anzunehmen ist, dass nach Lehrabschluss ein Stellenwechsel erfolgt; denn im Normalfall des Art. 78 Abs. 1 KUVG ist der Jahresverdienst "in dem die Versicherung bedingenden Betrieb" massgebend, und zwar auch dann, wenn der betreffende Arbeitnehmer - nicht anders, als dies nach Auffassung der Vorinstanz für einen Lehrling zutreffen mag - aus persönlichen Gründen in einem Betrieb mit unterdurchschnittlichen Löhnen tätig und eventuell bereits im Begriffe war, eine besser bezahlte Stelle anzunehmen. Der Lehrling ist damit, wie jeder andere Versicherte auch, der Zufälligkeit ausgesetzt, aufgrund des Lohnniveaus seines Betriebes je nachdem besser oder schlechter zu fahren, als wenn irgendein Mittelwert beigezogen würde. Aufgrund dieser Überlegungen ist die bisherige Rechtsprechung dahingehend
BGE 108 V 265 S. 269
zu ergänzen, dass die Sonderregel des Art. 78 Abs. 4 KUVG nicht nur hinsichtlich der Festlegung der Jahreslohnperiode in Verbindung mit Abs. 1 dieser Bestimmung zu interpretieren ist (BGE 102 V 146 Erw. 2), sondern auch bezüglich der Frage, welche betrieblichen Verhältnisse für die Berechnung des Jahresverdienstes bestimmend sind.
4. Der Beschwerdegegner ersucht für das vorliegende Verfahren um die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung.
Insoweit damit die Befreiung von den Verfahrenskosten beantragt wird, erweist sich das Begehren im Hinblick auf Art. 134 OG als gegenstandslos.
Was die unentgeltliche Verbeiständung betrifft, ist die in Art. 152 OG (anwendbar vor dem Eidg. Versicherungsgericht über Art. 135 OG) aufgestellte Voraussetzung der "Bedürftigkeit" jedenfalls ab April 1981 nicht erfüllt; denn gemäss einem Brief der Firma Druckerei M. AG vom 4. August 1981 verdient der Beschwerdegegner seither ein Monatseinkommen von etwas über Fr. 1'800.-- (netto), wodurch sich unter Anrechnung der Invalidenrente der SUVA von monatlich gut Fr. 1'000.-- gesamthaft Einkünfte gegen Fr. 2'900.-- ergeben. Aufgrund einer Eingabe vom 2. August 1982 darf sodann angenommen werden, dass diese Situation auch heute noch vorliegt.
Ob der Beschwerdegegner vor April 1981 bedürftig war, ist unerheblich; denn es sind nicht die Verhältnisse bei Einreichung des Gesuches, sondern die Lage im Zeitpunkt der Entscheidung massgeblich. Dies ergibt sich zwangsläufig aus Art. 152 Abs. 3 OG, wonach die Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie "später dazu imstande ist". Würde der Auffassung des Beschwerdegegners gefolgt, müsste - sofern die behauptete Bedürftigkeit vor April 1981 und das Vorliegen der übrigen Voraussetzungen erstellt wären - die unentgeltliche Verbeiständung (ganz oder teilweise) gewährt und gleichzeitig durch Anordnung einer entsprechenden Rückzahlung wieder entzogen werden, was selbstverständlich nicht der Sinn des Art. 152 OG sein kann. Aus BGE 99 Ia 437 ff., auf den der Beschwerdegegner verweist, ergibt sich nichts anderes.