109 V 166
Urteilskopf
109 V 166
32. Urteil vom 10. November 1983 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Steinegger und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich
Regeste
Art. 13 IVG, Art. 2 Ziff. 174 und 177 GgV .
- Die in Rz. 235 des Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen (gültig ab 1. Januar 1979) enthaltene Umschreibung der "Apparateversorgung" gemäss Art. 2 Ziff. 174 und 177 GgV ist verordnungswidrig.
- Die Behandlung der bei einem minderjährigen Versicherten seit Geburt bestehenden falschen Zehenstellung mit einer Nachtschiene bzw. einem Innenschuh gilt als "Apparateversorgung" im Sinne von Art. 2 Ziff. 177 GgV.
A.- Der 1979 geborene Samuel Steinegger leidet seit Geburt an einer falschen Zehenstellung am rechten Fuss (superduzierte Zehe II) mit Beschwerden, weshalb sein Vater die Invalidenversicherung um Abgabe einer Nachtschiene ersuchte. Nach Einholen eines Arztberichtes von Dr. M., Spezialarzt für Orthopädie und
BGE 109 V 166 S. 167
orthopädische Chirurgie, und eines auf Fr. 272.-- lautenden Kostenvoranschlages für eine solche Schiene beim Orthopädischen Atelier X lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Zürich das Begehren unter den Titeln "medizinische Massnahmen" und "Hilfsmittel" ab; zur Begründung wurde ausgeführt, beim Geburtsgebrechen Art. 2 Ziff. 177 GgV könnten Leistungen nur erbracht werden, sofern eine Operation, Apparateversorgung oder Gipsbehandlung notwendig sei; als Apparateversorgung im Sinne jener Bestimmung gelte die Abgabe von Stütz- und Führungsapparaten, die dauernd für die Fortbewegung und Schulung erforderlich seien; die in Frage stehende Nachtschiene sei nicht im Zusammenhang mit der Fortbewegung nötig, und im übrigen würden Einlagen nicht als orthopädische Apparate qualifiziert.
B.- Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich hiess die hiegegen eingereichte Beschwerde gut, hob die angefochtene Kassenverfügung auf und verpflichtete die Ausgleichskasse zur Kostenübernahme für die Nachtschiene als einer medizinischen Massnahme.
C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und Wiederherstellung der Kassenverfügung; eventuell sei die Sache an die Invalidenversicherungs-Kommission zurückzuweisen, damit diese bei Prof. Dr. med. B. ein ergänzendes Gutachten einhole.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 13 Abs. 1 IVG haben minderjährige Versicherte Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen. Als Geburtsgebrechen im Sinne dieser Gesetzesbestimmung gelten u.a. "angeborene Defekte und Missbildungen der Extremitäten, sofern Operation, Apparateversorgung oder Gipsbehandlung notwendig ist" (Art. 2 Ziff. 177 GgV).
2. Es ist unbestritten, dass die falsche Zehenstellung am rechten Fuss, an welcher der Beschwerdegegner leidet, eine angeborene Missbildung im Sinne von Art. 2 Ziff. 177 GgV darstellt. Hingegen ist streitig, ob die Nachtschiene als "Apparat" bzw. deren ärztliche Verordnung als "Apparateversorgung" im Sinne der erwähnten Bestimmung bezeichnet werden kann.
a) Während nach Auffassung der Verwaltung als Apparateversorgung
BGE 109 V 166 S. 168
nach Art. 2 Ziff. 177 GgV die "Abgabe von Stütz- und Führungsapparaten" gilt, welche "dauernd für die Fortbewegung und Schulung notwendig sind", geht die Vorinstanz in ihrem Entscheid davon aus, dass "für eine Apparateversorgung im Sinne einer Behandlung" es nicht erforderlich sei, "dass das Hilfsmittel gemäss Art. 21 Abs. 2 IVG dauernd für die Fortbewegung des Versicherten notwendig" sei.b) Das BSV macht geltend, die meisten Spezialärzte für Orthopädie seien der Meinung, dass das Tragen von Nachtschienen als Alleinbehandlung ernsthafterer kongenitaler Gebrechen bzw. Wachstumsstörungen nicht genüge und als Apparateversorgung grundsätzlich zu wenig wirksam sei, weshalb solche Schienen die Qualifikation von "Apparaten" im invalidenversicherungsrechtlichen Sinne nicht zu erfüllen vermöchten; sie dienten eher als Nachbehandlung nach Operationen oder als Fortsetzung einer Gipsbehandlung von mindestens 30 Tagen Dauer.
3. a) Massgebend für die Auslegung des Begriffes "Apparateversorgung" im Sinne von Art. 2 Ziff. 177 GgV ist der Zweck dieser Verordnungsbestimmung, welcher darin besteht, Leistungen der Invalidenversicherung für Gebrechen von geringfügiger Bedeutung (Art. 13 Abs. 2 IVG) auszuschliessen. Die Abgrenzung erfolgt durch einschränkende Anspruchsvoraussetzungen: ein Leistungsanspruch besteht nur, "sofern Operation, Apparateversorgung oder Gipsbehandlung notwendig ist". Damit sind die von der Invalidenversicherung zu erbringenden Leistungen bei angeborenen Defekten und Missbildungen der Extremitäten auf die schwereren Fälle beschränkt; denn die erwähnten ärztlichen Vorkehren als offensichtlich wichtigste medizinisch-therapeutische Massnahmen, die zur Behebung von Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 2 Ziff. 177 GgV in Frage kommen, sind nur in Fällen von einer gewissen Schwere, nicht aber bei Gebrechen von nur untergeordneter Tragweite "notwendig".
b) Rz. 235 des Kreisschreibens des BSV über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen (gültig ab 1. Januar 1979) umschreibt als Apparateversorgung "die Abgabe von Stütz- und Führungsapparaten, die dauernd für die Fortbewegung und Schulung notwendig sind" (wobei diese Randziffer sich zwar auf Art. 2 Ziff. 174 GgV bezieht, jedoch mit Rücksicht auf den gleichen Wortlaut der besonderen Anspruchsvoraussetzungen wie in Ziff. 177 GgV sich auch auf diese erstreckt). Die vom BSV vorgenommene Definition der "Apparateversorgung" erfolgt damit im Sinne eines reinen Art. 2 Ziff. 174 und 177 GgV offensichtlich verfälscht wird, indem jene Definition auf den anders gearteten Gesichtspunkt des Hilfsmittels abstellt. Demzufolge kann an dem in ZAK 1983 S. 247 publizierten Urteil Steinbacher vom 20. Januar 1983, welches implizite von der oben zitierten Umschreibung der "Apparateversorgung" ausgeht, nicht festgehalten werden, wonach ein nicht dauernd getragener Behelf wie z.B. eine nur nachts verwendete Denis-Brown-Schiene keine Apparateversorgung im Sinne der Ziff. 174 und 177 GgV darstelle. Die in der angefochtenen Kassenverfügung enthaltene Begründung für die Verweigerung der Nachtschiene erweist sich somit als nicht stichhaltig.
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Hilfsmittels, ohne Berücksichtigung des therapeutischen Charakters der fraglichen Geräte. Die Nachtschiene erfüllt indessen ausschliesslich einen Behandlungszweck und kann daher auch unter Berücksichtigung der für Minderjährige geltenden Regeln nicht als Hilfsmittel anerkannt werden. Die in Rz. 235 des bundesamtlichen Kreisschreibens gegebene Begriffsbestimmung der Apparateversorgung erweist sich mithin als verordnungswidrig, weil auf dem Weg einer Verwaltungsweisung eine zusätzliche Einschränkung des anspruchsbegründenden Tatbestandes eingeführt und der Sinn von c) ob es sich im übrigen bei der fraglichen Nachtschiene um ein teures oder ein billiges Gerät handelt, ist für die Subsumierung unter den Begriff "Apparateversorgung" im Sinne der erwähnten Verordnungsbestimmungen unerheblich, weil weder Art. 13 IVG noch die Verordnung über Geburtsgebrechen Kostspieligkeit voraussetzen. Auch ein preisgünstiger Behelf kann Behandlungsapparat und eine wenig aufwendige Versorgung als solche folglich "Apparateversorgung" im Sinne des Art. 2 Ziff. 174 und 177 GgV sein.
4. Gemäss Auffassung des BSV ist im weiteren fraglich, ob vorliegend überhaupt von einer "Schiene" gesprochen werden könne, da es laut Kostenvoranschlag der Firma X vom 16. September 1981 (Pos. 515a) und der Zusatzliste zur Preisliste des Schweizerischen Verbandes der Orthopädie-Techniker vom 1. März 1977 um einen "Innenschuh aus gewalktem Leder mit eingearbeiteter Sohle aus thermoplastischem Material" gehe; ein solcher Behelf könne nicht einem "Apparat" im invalidenversicherungsrechtlichen Sinn gleichgesetzt werden. Indessen gilt nach der Rechtsprechung zu Art. 2 Ziff. 174 GgV ein Spezial-Innenschuh als Beinschiene und insofern als orthopädischer Apparat, weshalb es sich rechtfertigt, auch im Rahmen von Art. 2 Ziff. 177
BGE 109 V 166 S. 170
GgV den streitigen Innenschuh einem "Apparat" und dessen Tragen der "Apparateversorgung" im Sinne dieser Verordnungsbestimmung gleichzusetzen. Dr. M. hat demnach im Arztbericht vom 24. August 1981 zu Recht eine "Nachtapparatbehandlung" verordnet.Stellt die Behandlung der falschen Zehenstellung beim Beschwerdegegner mit einer "Nachtschiene" bzw. einem "Innenschuh" eine "Apparateversorgung" dar, sind die Kosten dieses Behandlungsgerätes nach Art. 13 IVG in Verbindung mit Art. 2 Ziff. 177 GgV von der Invalidenversicherung zu übernehmen, weshalb die Verwaltung die Abgabe des beantragten Behelfes unter dem Titel "medizinische Massnahmen" zu Unrecht verweigerte. Da ferner keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die ärztlich verordnete Nachtschiene zur Erreichung des therapeutischen Erfolges nicht zweckmässig wäre, und im übrigen auch keine Zweifel darüber bestehen können, dass der fragliche Behelf zum Preis von Fr. 272.-- als einfache Vorkehr im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GgV zu gelten hat, erübrigt es sich entgegen der Auffassung des BSV, ein ergänzendes Gutachten einzuholen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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