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Urteilskopf

109 V 241


42. Urteil vom 29. November 1983 i.S. Ausgleichskasse "Versicherung" gegen Y. und Obergericht des Kantons Schaffhausen

Regeste

Art. 23 Abs. 2 AHVG.
Unterhaltspflicht bejaht bei einer geschiedenen Frau, die zwar in der gerichtlich genehmigten Scheidungskonvention auf Unterhaltsbeiträge ihres geschiedenen Ehemannes verzichtet hat, der jedoch nachträglich aufgrund eines - nach dem Tode des geschiedenen Ehemannes erwirkten - rechtskräftigen Revisionsurteils ab Scheidungsdatum eine Unterhaltsrente im Sinne von Art. 152 ZGB zugesprochen worden ist.

Sachverhalt ab Seite 241

BGE 109 V 241 S. 241

A.- Die am 9. September 1967 geschlossene Ehe des B.Y. und der A.Y. wurde mit Urteil des Kantonsgerichtes X vom 26. August 1980 geschieden. Das Gericht unterstellte die beiden Kinder der elterlichen Gewalt der Mutter und verpflichtete den Ehemann, für die Kinder monatliche Unterhaltsbeiträge von je Fr. ... zu bezahlen. Im übrigen genehmigte der Richter die am 9. August 1980 abgeschlossene Ehescheidungskonvention und nahm im Urteil u.a. davon Vormerk, dass A.Y. auf die
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Zusprechung einer Rente im Sinne von Art. 151 oder 152 ZGB verzichtete (Dispositiv Ziff. 5).
Am 27. Februar 1981 verstarb B.Y. Die Ausgleichskasse "Versicherung" sprach A.Y. zwei ab 1. März 1981 laufende Waisenrenten für die beiden Kinder zu, lehnte aber die Ausrichtung einer Witwenrente ab, weil die massgebenden Voraussetzungen nicht erfüllt seien (Verfügung vom 11. Mai 1981).
Bereits am 24. März 1981 hatte A.Y. beim Kantonsgericht X um Revision des Scheidungsurteils ersucht und geltend gemacht, beim Abschluss der Scheidungskonvention nicht freiwillig auf die Zusprechung einer Rente verzichtet zu haben, sondern dazu durch ihren früheren Ehemann unter Drohungen im Sinne von Art. 29 und 30 OR gezwungen worden zu sein. Das Kantonsgericht hiess das Revisionsgesuch am 11. Mai 1982 gut, hob Dispositiv Ziff. 5 seines Urteils vom 26. August 1980 auf und sprach der Gesuchstellerin ab Rechtskraft des Scheidungsurteils gemäss Art. 152 ZGB eine Rente von monatlich Fr. 500.- zu. Dieses Revisionsurteil ist unangefochten in Rechtskraft erwachsen.
Am 7. Juni 1982 meldete sich A.Y. unter Beilage des Revisionsurteils erneut zum Bezug einer Witwenrente an. Die Ausgleichskasse wies dieses Begehren mit Verfügung vom 12. Juli 1982 ab, weil der verstorbene Ehemann nicht zu Lebzeiten im Sinne von Art. 23 Abs. 2 AHVG zu Unterhaltsbeiträgen an seine geschiedene Frau verpflichtet gewesen sei.

B.- Das Obergericht des Kantons Schaffhausen (Abteilung für AHV-IV-Sachen) hiess mit Entscheid vom 15. Oktober 1982 die hiegegen eingereichte Beschwerde gut, hob die angefochtene Verfügung vom 12. Juli 1982 auf und wies die Ausgleichskasse an, der Versicherten ab 1. März 1981 eine Witwenrente auszurichten.

C.- Die Ausgleichskasse "Versicherung" führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Kassenverfügung vom 12. Juli 1982 wiederherzustellen. A.Y. schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) deren Gutheissung beantragt.

Erwägungen

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1. Gemäss Art. 23 Abs. 1 lit. a AHVG haben Witwen Anspruch auf eine Witwenrente, wenn sie im Zeitpunkt der Verwitwung eines oder mehrere leibliche oder an Kindes Statt angenommene
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Kinder haben. Die geschiedene Frau ist nach dem Tod ihres geschiedenen Ehemannes der Witwe gleichgestellt, sofern der Mann ihr gegenüber zu Unterhaltsbeiträgen verpflichtet war und die Ehe mindestens 10 Jahre gedauert hatte (Art. 23 Abs. 2 AHVG).
Wie das Eidg. Versicherungsgericht entschieden hat, ist unerheblich für den Anspruch der geschiedenen Frau auf Witwenrente, ob die Pflicht des Ehemannes zur Leistung von Unterhaltsbeiträgen auf einen bestimmten Zeitpunkt (vor oder nach seinem Tod) beschränkt war (BGE 100 V 88). Ob ein Mann seiner geschiedenen Frau Unterhaltsbeiträge zu leisten hat, ist eine Frage des Zivilrechtes. Daher beurteilt sich die Frage, ob ein Anspruch auf solche Unterhaltsbeiträge besteht, in der Regel anhand des Scheidungsurteils bzw. einer richterlich genehmigten Scheidungskonvention (BGE 105 V 49; EVGE 1969 S. 81, 1959 S. 195 mit Hinweisen). Bei Scheidungen, die nach ausländischem Recht ausgesprochen worden sind, genügt es nach der neueren Rechtsprechung, dass die Unterhaltspflicht des geschiedenen Ehegatten auf einem nach dem betreffenden ausländischen Recht gültigen und vollstreckbaren Rechtstitel beruht (BGE 109 V 75).

2. Im vorliegenden Fall ist streitig, ob die in Art. 23 Abs. 2 AHVG als Anspruchsvoraussetzung erwähnte Unterhaltspflicht gegeben ist.
a) Ausgangspunkt für die Beurteilung dieser Frage ist das Revisionsurteil des Kantonsgerichtes X vom 11. Mai 1982, mit welchem Dispositiv Ziff. 5 des Scheidungsurteils vom 26. August 1980 aufgehoben und vom Bestehen eines Rentenanspruches gemäss Art. 152 ZGB Vormerk genommen wurde. Das Gericht gelangte dabei nach Durchführung umfangreicher Beweiserhebungen zum Schluss, dass die Beschwerdegegnerin unter Erregung gegründeter Furcht im Sinne von Art. 29 und 30 OR zum Abschluss der Scheidungskonvention vom 9. August 1980 und zum Verzicht auf Unterhaltsleistungen bewogen worden war. Es sprach ihr daher unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse ab Rechtskraft des Scheidungsurteils eine monatliche Rente von Fr. 500.- zu.
Aufgrund dieses rechtskräftigen Revisionsurteils steht die Unterhaltspflicht des geschiedenen und inzwischen verstorbenen Ehemannes zugunsten der Beschwerdegegnerin seit dem Zeitpunkt des Scheidungsurteils vom 26. August 1980 fest. Entgegen der Auffassung der Ausgleichskasse kann dieses Revisionsurteil nicht in dem
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Sinne ausgelegt werden, dass der Anspruch auf Unterhaltsbeiträge - unter dem Gesichtspunkt von Art. 23 Abs. 2 AHVG - erst nach der Scheidung begründet worden sei. Vielmehr liegt die Bedeutung des Revisionsurteils gerade darin, dass es auf das Datum der Ausfällung des Scheidungsurteils zurückwirkt und dieses in diesem Punkte - mit Wirkung ex tunc - ersetzt, als ob die frühere Entscheidung nie ergangen wäre (KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 3. Aufl., S. 229; BIRCHMEIER, Handbuch des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, N. 1 zu Art. 144 OG, S. 515; STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur Zürcherischen ZPO, 2. Aufl., S. 597 ff., insbesondere N. 3 zu § 298; RUST, Die Revision im Zürcher Zivilprozess, Diss. Zürich 1981, S. 175 f., S. 182). Demnach liegt ein vom Richter anerkannter und vollstreckbarer Anspruch der Beschwerdegegnerin auf Unterhaltsbeiträge gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann seit dem Zeitpunkt der Scheidung am 26. August 1980 vor. Hieran vermögen die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Ausgleichskasse nichts zu ändern.
b) Das BSV macht in der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend, dass vorliegend der geschiedene Mann unüblicherweise "erst nach dessen Tod im Revisionsverfahren zu Unterhaltsbeiträgen verurteilt" worden sei, weshalb infolge der sozialversicherungsrechtlichen Tragweite dieses Zivilurteils in Abweichung der sonst üblichen Praxis "auf das durchgeführte Revisionsverfahren näher einzugehen" sei; "dies um so mehr, als es einzig zum Zwecke durchgeführt wurde, die Anspruchsvoraussetzungen für die Witwenrente zu ermöglichen". Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Denn Voraussetzung für den Rentenanspruch nach Art. 23 Abs. 2 AHVG ist u.a. das Bestehen eines zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs, über den der Zivilrichter und nicht der Sozialversicherungsrichter entscheidet (vgl. Erw. 1 hievor). Hat der Zivilrichter die Unterhaltspflicht rechtskräftig beurteilt, sind die Verwaltungs- und Verwaltungsjustizbehörden an seinen Entscheid gebunden und nicht mehr befugt, über die rechtskräftig entschiedene Frage selbständig zu befinden (IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Bd. II, S. 1056 f. mit Hinweisen). Dabei ist es unerheblich, ob das entsprechende, in Rechtskraft getretene Urteil materiell richtig war und im Falle der Ergreifung eines Rechtsmittels der Überprüfung durch die obere richterliche Instanz standgehalten hätte. Eine Überprüfungsbefugnis des Sozialversicherungsrichters
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besteht nur hinsichtlich der Frage, ob gegebenenfalls ein geltend gemachtes Zivilurteil als nichtig betrachtet werden müsste, was im vorliegenden Fall offensichtlich nicht zutrifft und auch von keiner Seite behauptet wird. Auf die vom BSV in seiner Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebrachten materiellen Einwendungen gegen das Revisionsurteil braucht daher nicht eingegangen zu werden. Demnach muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass die Beschwerdegegnerin aufgrund des Revisionsurteils vom 11. Mai 1982 seit dem Zeitpunkt der Scheidung einen vollstreckbaren Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann hatte, weshalb sie im Hinblick auf die Witwenrente einer verwitweten Ehefrau gleichgestellt ist. Demzufolge steht ihr - da auch die Voraussetzung der 10jährigen Ehedauer erfüllt ist - ab 1. März 1981 eine Witwenrente zu, wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat.

3. (Kostenpunkt.)

Dispositiv

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3

Dispositiv

Referenzen

BGE: 100 V 88, 105 V 49, 109 V 75

Artikel: Art. 23 Abs. 2 AHVG, Art. 152 ZGB, Art. 29 und 30 OR, Art. 23 Abs. 1 lit. a AHVG mehr...